Tirza Lemberger
Guy Miron: To Be a Jew in Nazi Germany, Space and Time. Lihjot Jehudi beGermania hanazit, Merchav uSman.
Jerusalem: Magnes – Yad vaSchem 2021.
Hebräisch, 285 Seiten.
ISBN 978-965-7790-16-8, eBook ISBN 978-965-7790-17-5
Über die Shoah wurde vieles geschrieben. Vieles – ja, erschöpfend – nicht! Das vorliegende Buch erzählt uns weder vom Ghetto noch vom Konzentrationslager. Der Autor erzählt uns von den deutschen Juden und ihrem Leben unter dem Naziregime, vom 31.01.1933 an. Das Leben der Juden in Deutschland hat sich geändert, aus Nachbarn wurden Juden. Wie man sich damit auseinandersetzte, als Individuum, als Familie, als Gemeinde, damit sucht uns Guy Miron, basierend auf Notizen, Tagesbüchern, Zeitungsartikeln und anderem, zu konfrontieren.
Im ersten Teil beschreibt Miron die Entwicklungen im öffentlichen Bereich: Arbeit, Parks, also jenem Bereich, in dem „man“ sich – Juden und Christen – bis dahin viel begegnet war. Weiters beschreibt er die innerjüdischen Bereiche – Bethaus, Schule et cetera und den Einfluss der Entwicklung auf diese. Das Zuhause ist dann der individuelle Bereich, der auch grosse Änderungen erfahren hat.
Im zweiten Teil des Buches geht Miron auf den Jahreszyklus ein. Auch hier kommt zuerst das Gemeinsame wie zum Beispiel Staatsfeiertage, dann das spezifisch Jüdische, darunter natürlich die jüdischen Feiertage, und dann macht Miron uns auf einen interessanten Aspekt aufmerksam: das Sich-Hinwenden zur Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die alternierend alles hatte – gute und schlechte Zeiten, Verfolgung und Aufblühen. Aus dieser muss man lernen und Kraft erlangen, auch das Kommende zu überstehen.
Die Probleme, mit welchen man konfrontiert worden war, waren mannigfaltig. Lösungen, abgesehen von Auswanderung, haben sich ergeben – oder wurden gefunden. Öffentliche Parks wurden einem verboten, und so dienten Wälder und Friedhöfe als Ruhe- und Erholungsraum. Bibliotheken und Archive ermöglichten es Wissenschaftlern (bis es ihnen verboten wurde), weiter zu forschen und zu lernen. Ein Handwerk zu lernen, besonders im Hinblick auf Auswanderung, bedeutete Lebensinhalt und Ziel. Bethäuser, zumindest bis zur Kristallnacht, und Schulen erfüllten eine wichtige Aufgabe im Gemeindeleben. Wesentlich problematischer – und ausführlich durch Zitate dokumentiert – waren die Wohnverhältnisse. Ein Ghetto wie in Polen gab es zwar nicht, aber schon relativ früh musste man seine geräumige Wohnung aufgeben und in Einzimmer-Wohnungen, ein Zimmer in einer Wohnung, oder in sogenannte Judenhäuser umziehen. Was sollte man mitnehmen, wie das „Neue“ gestalten, um so getreu wie möglich bei dem Alten zu bleiben? Heimgefühl erhalten, oder ein neues Blatt aufschlagen? Alle diese Überlegungen und die damit verbundenen Gefühle werden durch Zitate aus Tagebüchern dokumentiert.
Feiertage haben in religiöser, familiärer und gesellschaftlicher Hinsicht grosse Bedeutung. Auch dieser Thematik stellt sich Miron in diesem Buch. Viele Juden waren assimiliert, „aufgeklärt“ oder „liberal“. Den Baum aufzugeben war nicht so leicht. Nicht wenige näherten sich ihren Wurzeln, aber nicht alle. Auch das, mit allen Überlegungen und inneren Kämpfen, wird dokumentiert. Von innerjüdischen Diskussionen über die Lage hört man natürlich auch: den Zionisten, die für Auswanderung plädierten und den Liberalen, die erst einmal abwarten wollten. Je bedrängter die Lage, desto stärker der Wunsch nach Auswanderung. Auswanderung von Familienmitgliedern und Freunden werden wohl erwähnt, stellen aber kein Zentralanliegen dar. Vielleicht deshalb, weil hier das Meistern des Alltags das Hauptthema ist. Der Alltag der in Deutschland Verbliebenen. Zum Teil hören wir, welches Schicksal die Tagebuchschreiber ereilte, bei anderen nicht. Das Ziel des Autors, den Alltag der in Deutschland verbliebenen Juden zu dokumentieren, basierend auf Zeitungsartikeln, solange diese in Deutschland erscheinen konnten, auf Notizen und Tagebüchern, deren Eintragungen weit in die Kriegsjahre reichen, ist bestimmt erreicht worden.