Ausgabe

Zufall – Segen oder Hölle

Monika Kaczek

 

Inhalt

Georg Hauptfeld: 

Der Wert des Zufalls. Ágnes Heller
über ihr Leben und ihre Zeit

 

Wien/Hamburg: Edition Konturen 2018.

240 Seiten, Hardcover, 

Euro 26,80

ISBN: 978-3-902968-34-0

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Dieses Buch ist das Ergebnis von Gesprächen, die Georg Hauptfeld mit der grossen Philosophin Ágnes Heller im August 2018 über ihr Leben und Schaffen führte. Ágnes Heller wurde am 12. Mai 1929 in Budapest als Kind einer jüdischen Familie geboren. Eines ihrer grossen Vorbilder der Kindheit sah das Mädchen in Sophie Meller, ihrer Grossmutter väterlicherseits, die aus Wien stammte. Sie war eine der ersten Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts in  Wien studieren durften; ihre Fächer waren Geschichte und Germanistik. Sophie Meller heiratete David Heller, mit dem sie zwei Mädchen und einen Buben bekam, die nicht jüdisch erzogen wurden. Obwohl die kleine Ágnes sich mit ihrer Mutter Angyalka (geborenen Ligeti) nicht sehr gut verstand, genoss sie eine behütete Kindheit. Die Beziehung zu ihrem Vater Pál war eng, er „(...) liebte die Freiheit und war sehr glücklich, dass ich ein Mädchen war. Er war der Ansicht, dass Mädchen alles können, wozu Burschen fähig sind.“

Alles änderte sich, als Ungarn am 19. März 1944 von deutschen Truppen besetzt wurde. Eines Morgens verschwand Pál Heller. Als er am 14. April 1944 das Haus verliess, wurde er von der Gestapo verhaftet, die ihn den ungarischen Behörden übergab. „Der letzte Brief, der uns erreichte, ist mit dem 20. Juni 1944 datiert. Es war ein kleiner Zettel, den mein Vater aus dem Waggon geworfen hatte. Jemand fand ihn, steckte ihn in einen Umschlag, kaufte eine Briefmarke und schickte ihn ab. Solche Menschen gab es noch!“ Pál Heller wurde in Auschwitz ermordet; sein vermutliches Sterbedatum ist der 16. Jänner 1945. Ágnes Heller und ihre Mutter konnten den Krieg im Budapester Ghetto überleben.

Nach der Matura studierte Ágnes Heller beim marxistischen Philosophen György Lukács und gehörte später zur reformmarxistischen „Budapester Schule“. Schon als junge Studentin bewahrte sie immer ihre Unabhängigkeit, auch vom Lehrmeister György Lukács. Seine Schülerin zu werden, war für sie das grösste Glück in ihrem Leben und ohne ihn wäre sie nie Philosophin geworden.

Ein Kapitel des Buches widmet sich auch dem ereignisreichen Jahr 1968. In Ungarn wurde die so genannte neue Wirtschaftspolitik eingeführt, der Prager Frühling weckte grosse Hoffnungen und im Mai protestierte die neue Linke in Paris. „Manche sagen, 1968 wurde nicht verwirklicht, ich behaupte das Gegenteil. Das Alltagsleben wurde vollkommen transformiert. (...) Die Moral, mit der die denkende Jugend ihre Eltern fragte, was sie während der Nazizeit getan hatten, mit der sie in den USA gegen den Vietnamkrieg protestierte, war ehrlich und auch politisch gerecht.“

Nach langjähriger Unterdrückung konnte Ágnes Heller 1977 von Ungarn nach Australien emigrieren, wo sie von 1978 bis 1983 eine Soziologie-Professur an der La Trobe Universität in Melbourne innehatte. 1986 wurde sie Hanna Arendts Nachfolgerin am Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. 1995, ein Jahr nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes Ferenc Fehér, begann ihre Zeit des Reisens, ihrem Kindheitstraum.

Das 17. und letzte Kapitel des Buches trägt den Titel Der Wert des Zufalls und schildert die vielen Zufälle, die ihr Leben begleiteten. „Während der zehn Monate des ungarischen Holocaust blieb ich zufällig am Leben. Ich sollte getötet werden, wie mein Vater, meine Jugendfreunde, meine Cousins, das war das Schicksal. Ich überlebt nur durch Zufall. Seit meinem 16. Lebensjahr bin ich darum bemüht, diesen Zufall in mein Denken, in meinen Charakter einzubauen. (...) Doch ist Zufall immer – ob Segen oder Hölle – ein Wert, eine Möglichkeit, eine Chance, unseren Charakter besser kennenzulernen und unser Leben zu verändern.“

Am 12. Mai wird Ágnes Heller ihren 90. Geburtstag feiern.

 

Literatur von Ágnes Heller (Auswahl)

>
Alltag und Geschichte –
Zur sozialistischen Gesellschaftslehre
(1970)

> Theorie der Bedürfnisse bei Marx (1976)

> Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács (1977)

>
Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion
(1978)

> Theorie der Gefühle (1980)

>
Philosophie des linken Radikalismus.
Ein Bekenntnis zur Philosophie
. Mit Ferenc Fehér (1984)

>
Die Linke im Osten – die Linke im Westen. Ein Beitrag zur Morphologie einer problematischen Beziehung
(1986)

> Ist die Moderne lebensfähig? (1995)

>
Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen
für Menschliches und Unmenschliches
(2014)

>
Von der Utopie zur Dystopie:
Was können wir uns wünschen?
(2016)

>
Eine kurze Geschichte meiner Philosophie
(2017; siehe: http://davidkultur.at/buchrezensionen/
wir-alle-haben-verschiedene-geschichten)

>
Was ist komisch?
Kunst, Literatur, Leben und die
unsterbliche Komödie
(2018)

 

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