Zum 290. Geburtstag des deutschen Schriftstellers
Heuer jährt sich zum 290. Mal der Geburtstag des deutschen Schriftstellers Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781). Seine - seit Generationen zur Schullektüre zählende - schriftstellerische Parteinahme zugunsten der Juden, deren Existenzbedingungen zum Entstehungszeitpunkt von Lessings Werken denkbar schlecht waren, hat ihm mehr als einmal Hohn und Beschimpfungen eingebracht. Die Attacken hielten ihn nicht davon ab, bis an sein Lebensende für Toleranz im Denken und eine Verbesserung der Bedingungen im Sinne eines gedeihlichen Zusammenlebens der Konfessionen einzutreten.
Gotthold Ephraim Lessing.
Ölgemälde von Anna Rosina de Gasc, 1767/68, Rechte gemeinfrei,
mit freundlicher Genehmigung Gleimhaus Halberstadt.
Quelle: Wikimedia Commons, abgerufen am 02.04.2019.
Lessings Interesse, den problematischen Umgang der christlichen Mehrheitsgesellschaft seiner Zeit mit ihrer jüdischen Minderheit zu ändern, entsprang seiner bereits in frühen Jahren entwickelten Freundschaft mit dem deutsch-jüdischen Mathematiker, Mediziner und Philosophen Aaron Gumpertz (1723 - 1769). Der intellektuelle Diskurs motivierte Lessing dazu, sich leidenschaftlich für jüdische Belange einzusetzen. Einen ersten Versuch wagte er in seinem 1750 erschienenen Schauspiel Die Juden. Als Komödie verkauft, sollte das Stück vordergründig die Erwartungshaltung des Publikums, über Juden zu lachen, bedienen, versuchte dabei aber, das genaue Gegenteil zu bewirken: den Zuschauern sollten ihre eigenen, vorurteilsbehafteten Fehlhaltungen vor Augen geführt werden. Der Autor bedient sich dazu in dem Stück eines folgenreichen Rollentauschs: die Bösen verkleiden sich als Juden, stellen sich aber als Christen heraus, während als Retter ein Jude auftritt. Seine konfessionelle Identität wird erst ganz am Schluss, als an seiner ehrenhaften Haltung nun gar kein Zweifel mehr bestehen kann, enthüllt. Die Tochter des Geretteten liebt den Retter, allerdings wird eine Verbindung ausgeschlossen, und zwar mit dem Hinweis auf dem Umstand, dass er Jude sei. Diese Haltung wird interessanterweise auch vom Stück selbst nicht infrage gestellt und gibt uns damit - hoch symbolisch eingekleidet - Einblicke in die gesellschaftliche Wirklichkeit von Lessings Zeit und den Grenzen, die dem interreligiösen Dialog in der Praxis gesetzt waren.
Kurz nach Erscheinen des Stücks wurden gegen Juden neue diskriminierende Massnahmen ergriffen, ihre Situation in Preussen verschlechterte sich noch weiter. Lessings Plädoyer hatte nicht nur nicht geholfen, es wurde vermutlich von den für die Gesetze Verantwortlichen und politischen Handlungsträgern in seiner Intention nicht einmal wahrgenommen. Die Wirkungsweise von Die Juden scheint auf den ersten Blick auf die Reaktionen von Theaterkritikern beschränkt, die dem Autor eine philosemitische Haltung vorwerfen: ein so guter und moralisch einwandfreier Held sei im Alltag unwahrscheinlich, und zwar schlichtweg deshalb, weil es sich um einen Juden handle. Daher sei das Stück in höchstem Masse unglaubwürdig. Der junge Moses Mendelssohn (1729 - 1786), ein Schüler von Gumpertz, kontert in einer öffentlichen Replik auf die Kritiken, es sei unglaublich, dass den Juden nicht einmal ein einziger moralisch einwandfreier Vertreter zugesprochen werde, beziehungsweise, dass die gesamte Gruppe der Juden pauschal wegen eines imaginierten negativen Charakters verurteilt werde.
Gegen Ende seines Lebens nahm Lessing noch einmal einen Anlauf in der jüdischen Sache, mit seinem heute bekanntesten Theaterstück Nathan der Weise (1779). Die Figuren sind viel genauer ausgearbeitet, auch ist eine Balance zwischen den drei grossen monotheistischen Religionen hergestellt – Christen, Juden und Muslime kommen gleichermassen vor, das Stück ist in Jerusalem angesiedelt zur Zeit der Herrschaft des als weise und tolerant geschilderten Saladin. Das junge Liebespaar stellt sich am Ende diesmal als deutschpersische Bruder und Schwester-Konstellation heraus. Lessing umgeht damit elegant auch diesmal die Frage der interkonfessionellen Eheschliessung. Im Sinne der Ideale der Aufklärung kommt er vielmehr zu dem Schluss, das Ideal der Brüderlichkeit – in diesem Falle der geschlechtsneutralen Geschwisterlichkeit - müsse imstande sein, konfessionelle Grenzen zu überspringen und ad absurdum zu führen.
Interessant ist im Vergleich dazu die Lösung in Jacques Fromental Halévys Oper La Juive (Libretto: Eugène Scribe), wo das Liebespaar sich als rein christlich herausstellt, da die vermeintliche Tochter des Juden als Kind des katholischen Kardinals gerade noch rechtzeitig enthüllt wird, bevor sie am Scheiterhaufen enden soll, und so ihrem Schicksal entrinnt – oder jedenfalls erfährt das Publikum nichts weiter von einem etwaigen negativen Ende. Die Oper erschien allerdings erst drei Generationen nach Lessing, 1835, nachdem der Höhepunkt der jüdischen Aufklärungsbewegung (hebr. Haskala) bereits wieder überschritten war und die Bemühungen um die rechtliche Gleichstellung der Juden in den europäischen Ländern gerade einen neuen Tiefpunkt erreicht hatten.
William Shakespeare (1564 - 1616) andererseits, der die Lebensumstände der aus Spanien und Portugal vertriebenen, zwangsgetauften Juden im neu geschaffenen Ghetto von Venedig thematisierte, setzt seinen Shylock ähnlich um wie Lessing seinen rettenden Juden: die antisemitischen Stereotypen werden dem Publikum deutlich durch Spiegelung vor Augen geführt. In der Gerichtsszene kulminiert die zur Debatte gestellte Frage, ob ein Jude den ihm entgegen gebrachten Vorurteilen entsprechen muss: der Doge fordert vom Juden Milde gegenüber den Christen, Shylock aber besteht auf seinem Recht und wiederholt damit nur die gegenüber Juden unnachgiebige Haltung der christlichen Machtträger. Shakespeares Engagement, die Umgangsweise seiner englischen Zeitgenossen mit Juden kritisch zu hinterfragen, ist vor dem Hintergrund eines dramatischen Ereignisses zu sehen: eben erst war der jüdisch-portugiesische Arzt der Königin Elizabeth I., Rodrigo Lopez, unter einem Vorwand gehängt, und seine Leiche geschändet, ausgeweidet und gevierteilt worden. Bei Shakespeare ist die Liebesbeziehung zwischen dem Christen und Shylocks Tochter Jessica gänzlich unproblematisch dargestellt, da die Eheschliessung die Konversion der Jüdin zum Christentum impliziert. Diese wird nicht weiter hinterfragt. Interessanterweise schöpfen Shakespeare und Lessing aus der gleichen Textquelle: sowohl Nathan der Weise (Ringparabel) als auch der Kaufmann von Venedig stützen sich auf Stoffvorlagen aus der spätmittelalterlichen Textsammlung der Gesta Romanorum und verarbeiten diese zu erstaunlichen Parallelen. Die vertriebenen Zwangsgetauften und späteren Conversos finden sich in ähnlich verwirrend unberechenbaren, ambivalenten Zeitumständen wie ihre Nachfahren angesichts von Säkularisierungstendenzen in Aufklärung und Revolution.
Während es eine der letzten Handlungen des Philosophen und jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn war, sich zum wortgewaltigen Verteidiger Lessings aufzuschwingen - er brachte sein Manuskript An die Freunde Lessings noch am 31. Dezember 1785 zum Verlag, erlebte die Drucklegung selbst aber nicht mehr -, nahm die tatsächliche Emanzipation der Juden nun allmählich Fahrt auf. Die bürgerlichen Rechte für Juden und damit ihre Gleichstellung als Staatsbürger durch Napoleons Code Civil wurden, allerdings erst nach dem Tod Lessings und Mendelssohns und nur in den französisch besetzten Gebieten, zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Umso mehr gebührt ihnen die Rolle als wichtige Vorreiter für tatsächliche soziale Erleichterungen, denn ohne sie wären die Ideen der Aufklärung zumindest in den deutschsprachigen Ländern wohl so nicht in der Praxis umsetzbar gewesen und wirkungslos geblieben. Während Lessing von den Theorien der französischen Aufklärung ausging und seine Überlegungen auf persönlichen Beobachtungen aus seinem Umfeld aufbaute, verarbeitete Mendelssohn zusätzlich, beeinflusst durch die Schriften des Philosophen Baruch Spinoza (1632 - 1677), die Erfahrungen der sefardischen Flüchtlingsgemeinde von Amsterdam. Der biografische Kontext der Conversos und insbesondere deren Erfahrungen mit dem interkonfessionellen Zusammenleben in einem vergleichsweise toleranten Umfeld und damit mögliche Lösungsansätze studierte er, um sie in sein Konzept einer den Idealen der Aufklärung gemässen Adaptierung der Lebensumstände für Juden einzuarbeiten.
Durch seine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Fragen der religiösen Toleranz bietet uns Lessing noch heute Einblicke in Innen- und Aussensichten von jüdischen Existenzen, zumal die Antworten, die er uns vorschlägt, ganz anders ausfallen als die utilitaristisch geprägte Staatsräson beispielsweise Josephs II. mit seinem Konzept religiöser Toleranz, die in sein Toleranzpatent von 1782 eingeflossen ist und das Leben der österreichischen Juden für die kommenden einhundertfünfzig Jahre bestimmen sollte. In Wien beschloss immerhin ein Lessingdenkmal-Komitee 1910, dem deutschen Vorkämpfer der jüdischen Integration ein Denkmal zu setzen, das auch tatsächlich von 1935 an vier Jahre lang bis 1939 auf dem symbolträchtigen Judenplatz im Zentrum der einstigen ersten jüdischen Gemeinde Wiens – und am Schauplatz des mittelalterlichen Pogroms von 1420 – stand. Während der NS-Zeit entfernt und eingeschmolzen, wurde die Statue nach dem Krieg reproduziert und konnte 1981 ihren ursprünglichen Standort wieder einnehmen. Von dort blickt der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing nun hinüber zum Standort der zerstörten mittelalterlichen ersten Synagoge Wiens, deren Überreste heute als Teil des Jüdischen Museums Wien zugänglich sind.
Die Philosophen G.E.Lessing und J.C.Lavater
besuchen Moses Mendelssohn.
Gemälde, 1856. Judah L. Magnes Museum, Rechte gemeinfrei.
Quelle: Wikimediacommons, abgerufen am 17.03.2019.