Ausgabe

Das steinerne Prag

Tina Walzer

Tausend Jahre ist es her, dass sich hier, in der gerade gegründeten Stadt, Juden ansiedelten: zuerst um den heutigen Kleinseitner Malteser-
Platz, dann in der Gegend der nunmehrigen Neustädter Charvatova Gasse, und schliesslich, zu Beginn des zwölften Jahrhunderts, längs des Moldaubogens in der Josefstadt.

 

Inhalt

In der Prager Innenstadt legt die jahrhundertelange jüdische Präsenz mit der gotischen Altneuschul, der Pinkas-Synagoge im Renaissancestil, der barocken Klaus-Synagoge und der historistischen Spanischen Schul im maurischen Stil der synagogalen Baukunst ein weltweit einzigartiges Zeugnis ab. Erhöht wird das ganze Ensemble noch durch den alten jüdischen Friedhof mit seinen 12.000 schräg, einer Keilschrift gleich, aus dem Boden ragenden Grabsteinen. Sie sprechen von den Menschen, die einst hier lebten: Gelehrte und Rabbiner wie der 1439 bestattete Avidgor Kara, oder Jehuda ben Bezalel Löw (gest. 1609), besser bekannt als Rabbi Löw, der Gesprächspartner des Habsburgerkaisers Rudolf II. und angebliche Schöpfer der sagenumwobenen  Golem-Gestalt, oder der berühmte hebräischen Buchdrucker Gerson ben Salomon Cohen Katz (1475–1541?), und viele weitere Gelehrte. 

Bekannt sind die Versuche der Habsburgerherrscherin Maria Theresia, die Juden aus Prag zu vertreiben. Die Toleranz ihres Sohnes Josef II. haben die Ansässigen dann, wie kaum woanders im Habsburgerreich, gewürdigt und gleich das ehemalige Ghetto nach ihm benannt: Josefstadt. Es sollte noch fast ein Jahrhundert dauern, bis die bürgerliche Gleichstellung kam, die Juden die Josefstadt verliessen und die alten, niedrigen, baufälligen Behausungen Patrizierzinshäusern weichen mussten. Diese prägen das Viertel heute noch. Dennoch sind alle öffentlichen Einrichtungen des jüdischen Prag baulich bewahrt: die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatte bereits ein halbes Jahr vor der Besetzung der Tschechoslowakei im März 1939 stattgefunden, und die kommunistische Abrisswut traf vor allem die kleineren Städte am Lande. 

Die jüdische Geschichte Prags ist mit der Wiens kaum vergleichbar. In Prag gab es bis zur Naziherrschaft Familien, die dreihundert Jahre ohne Unterbrechung in der Stadt an der Moldau gelebt hatten. Wir sprechen hier nicht von privilegierten Hoffaktoren, sondern es waren Familien wie die Kisch, Kuh, Werfel und Utitz, deren letzte Generationen alle in die Kulturgeschichte eingegangen sind. Sämtliche dieser Familien sind bis in die Zeit Rabbi Löws zurück nachweisbar. Und anders als in Wien kamen die Neuankömmlinge nicht von weither, sondern aus den zahlreichen böhmischen Landgemeinden. So stammte etwa die Familie des Schriftstellers Leo Perutz (1882 - 1957) aus dem nahen Rakovník (dt. Rakonitz), Kafkas Vater aus dem südböhmischen Osek (dt. Ossek, Kreis Strakonice), die Mutter Julie Löwy aus der Kurstadt Poděbrad.  Anfänglich lebten die Kafkas noch mitten im verwinkelten, baufälligen Ghetto, aber Franz (1883 - 1924) wurde bereits in einem ansehnlichen Haus, das gerade am Übergang von der Christen-  zur Judenstadt steht, geboren. Seine Bar Mizwah erhielt er in der Zigeuner-Synagoge, die bald danach abgebrochen und durch ein Patrizierhaus ersetzt wurde. Dieses gehörte den Kafkas und befindet sich nach zweifacher Enteignung wieder im Familienbesitz. Die tatkräftigen Menschen vom Schlage des Kafka-Vaters haben Franz‘ Kindheitswelt des Ghettos praktisch völlig zum Verschwinden gebracht. 

Erste tschechoslowakische Republik

Gleich nach der Gründung der Tschechoslowakei kam es in der mährischen Stadt Holešov (dt. Holleschau) zu einem Pogrom mit zwei Toten. Auch Prag wurde von judenfeindlichen Ausschreitungen nicht verschont - die heftigste fand im November 1920 statt. Vor allem die Universitäten wurden zu Austragungsorten tschechisch-deutscher, nationaler Kämpfe, in denen meistens Dritte zu Sündenböcken gemacht wurden: die Juden. Tschechische Nationalisten bezichtigen sie, die Sache der Deutschen zu unterstützen, und für die  Deutschen waren sie Opportunisten und Verräter nationaler Symbole. Auf Hermann Kafkas Geschäftspapier hopste bis 1918 die Dohle (tschechisch: Kavka),  das Firmenlogo, noch auf einem deutschen  Eichenzweig herum, danach auf dem Zweig einer Linde - des tschechischen Nationalbaums. Sein Sohn Franz, der fliessend Tschechisch beherrschte und der Geliebte von Milena Jesenská war, notiert dennoch: „Tüchtig, fleissig und gründlich verhasst bei den anderen. Juden und Deutsche sind Ausgestossene.“


Der tschechische Oberbürgermeister des modernen Prag, Karel Baxa (1863 - 1938), liess die Ausschreitungen mit einem gewissen Wohlgefallen geschehen, hatte er sich doch schon früh bei seiner anwaltlichen Tätigkeit gegen Leopold Hilsner (1876 - 1928) als radikaler Antisemit ausgewiesen. Sein Gegenpol war damals der erste Präsident der Tschecho- slowakei, Tomáš Garrigue Masaryk (1850 - 1937), der, wo er konnte, gegen antisemitische Tendenzen auftrat. Prag wurde zur Zufluchtsstätte Verfolgter aus NS-Deutschland. John    Heartfield kam genauso hierher wie sein Bruder, der Verleger Wieland Herzfelde, wie Oskar Kokoschka, Ernst Bloch oder Stefan Heym. Die ausgebürgerten Brüder Heinrich und Thomas Mann erhielten die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. 

 

Genau ein Jahr nachdem die Nationalsozialisten in Österreich an die Macht gekommen waren, wurde Prag von den Wehrmachts-Truppen des NS-Staats besetzt, und die Szenen wiederholten sich. Vor der Deportation wurden die Prager Juden in Sammelwohnungen gepfercht - groteskerweise im Gebiet der ehemaligen Prager Judenstadt, die seit der Assanierung um die Jahrhundertwende zu einer der teuersten Wohngegenden der Stadt avanciert war (und es heute noch ist). Die Synagogen wurden bewahrt, denn sie sollten nach dem Endsieg und der Ausrottung der Juden als Erinnerung von dieser „verrückten“ Rasse Zeugnis geben. 


Überleben im Kommunismus

Einige tausend Juden, die meist in Mischehen lebten, überstanden den Holocaust in Prag. Nur wenige Flüchtlinge kehrten zurück: Pogrome wie jenes im slowakischen Topoľčany vom September 1945 sowie der drei Jahre später stattgefundene Putsch der Kommunisten gaben keinen Anlass. Zwar unterstützte die Tschechoslowakei kurzfristig den gerade gegründeten Staat Israel mit Waffen, doch spätestens seit der ersten Wahl in Israel, bei der die kommunistische Partei eine herbe Niederlage erleben musste, wandte sich das Blatt. Nun wurden Persönlichkeiten jüdischer Herkunft als Staatsfeinde gebrandmarkt und in Schauprozessen hingerichtet, wie Rudolf Slánský 1952. Die Leichenasche wurde dann zur Streuung eisglatter Landstrassen benutzt. Das kommunistische Regime sollte in der Zeit seines 40-jährigen Bestehens mehr Synagogen in Böhmen und Mähren dem Erdboden gleichmachen, als es die Nazis getan hatten. Grabsteine - die oft einzigen Zeugen jüdischen Lebens - wurden skartiert, zu Pflastersteinen zertrümmert. Mit ihnen wurde dann die Prager Flaniermeile Graben gepflastert. Das geschah nur wenige Jahre vor dem Ende des Arbeiter- und Bauernstaates, der noch, in seinen letzten Zuckungen liegend, im Rahmen der „Ak­tion Spinne“ begann, eine Judenkartei anzulegen, die den Nürnberger Rassegesetzen folgte. Angeblich wurde diese Aktion nach der Samtenen Revolution 1989 beendet. 

Seit dem Präsidenten Václav Havel (1936 - 2011) sind diese Diskriminierungen vorbei. Die winzige jüdische Gemeinde, deren Mitglieder vor allem aus der ehemaligen Karpato- Ukraine stammen, kann wieder an die Öffentlichkeit treten. Die einstige Judenstadt und ihr einzigartiges Museum sind zu Touristenmagneten geworden, Bücher wie Angelo Ripellinos weitverbreitetes  Buch „Das Magische Prag“ bestimmen mit ihren Golem-Mythen und Verklärungen das Tourismuskonzept zum Jüdischen Prag. Bemerkenswert sind die Bemühungen, die jüdischen Friedhöfe und die Synagogen der ehemals böhmischen und mährischen Landgemeinden zu restaurieren.