Das jüdische Pessachfest, das wir zwischen dem 15. und 22. Tag des jüdischen Monats Nissan begehen, steht an erster Stelle unserer biblischen Wallfahrtsfeste. Zur Zeit, als das Heiligtum, der Beit Hamikdasch in Jerusalem, der Hauptstadt des jüdischen Staates, noch bestand, pilgerten unsere Vorfahren mit ihren Opferlämmern aus allen Teilen des Heiligen Landes dahin und manche sogar aus der Diaspora, nur um dieses Fest miteinander begehen zu können.
Das Pessachfest setzt der Natur des „gelobten Landes“ ein Denkmal, denn um diese Zeit reift die Gerste im Heiligen Land. Zugleich ist es aber auch das Fest der Befreiung aus der Knechtschaft und die Geburtsstunde des jüdischen Volkes.
Seit der Zerstörung unseres Heiligtums in Jerusalem im Jahre 70 n.d.Z., also vor fast 2.000 Jahren, verlagern sich die Szenen des Pessachfestes in den häuslichen Bereich und in die Synagogen. So erzählen und berichten wir selbst am feierlich gedeckten Tisch aus dem Büchlein Haggada, das eigens für dieses Fest über Jahrhunderte, von vielen namenlosen und einigen namhaften Gelehrten zusammengestellt worden ist, über unsere Vergangenheit. Die Haggada beinhaltet die Erzählung und Handlungsanweisung für den Sederabend am Erew Pessach, dem Vorabend des Festes der Befreiung unserer Ahnen aus der ägyptischen Sklaverei. Sie beinhaltet exegetische Anmerkungen zu der biblischen Geschichte des Auszuges unserer Vorfahren aus Ägypten. Neben der langen und wechselvollen Geschichte der Israeliten werden öfters kurze, charakteristische Episoden erzählt, wie diese:
Es geschah einst, dass Rabbi Elieser und Rabbi Jehoschua, Rabbi Elasar ben Asarja, Rabbi Akiba und Rabbi Tarfon beim Pessachmahl in der Stadt Bnei- Brak beisammen sassen. Sie waren allesamt Rabbiner und Schriftgelehrte.
So mutet es nicht als Wunder an, dass sie während des Festmahls und auch nachher so intensiv, vertieft über den einstigen Auszug aus der Sklaverei der Ahnen diskutierten, dass sie gar nicht merkten, als der Morgen anbrach. Bis ihre Schüler vor ihnen standen und ihnen sagten: Meister, es ist Zeit, das Morgengebet zu sprechen...
Wer könnte uns heute den Grund nennen, warum die Verfasser der Haggada gerade diese Begebenheit verewigt hatten. Vielleicht wegen der Zusammensetzung dieser erlesenen Tischgemeinschaft? Rabbi Elieser war eine anerkannte Autorität – in seiner Zeit gegen Ende des 1. Jahrhunderts nach unserer Zeitrechnung. Rabbi Jehoschua war gemäss der Überlieferung dagegen ein einfacher Handwerker, ein Schmied, aber berühmt durch vielerlei Tora-Kenntnisse, sowohl aus der Heiligen Schrift, wie auch auf dem Gebiet der Astronomie. Rabbi Elasar ben Asarja war „adeliger“ Abstammung. Rabbi Tarfon, der Gelehrte mit dem griechischen Namen, war ein Nachkomme von Priestern des zerstörten Tempels in Jerusalem. Und schliesslich Rabbi Akiba, der in jungen Jahren Schafhirte war und ziemlich spät seinen Bildungsweg fand. Dennoch wurde er ein anerkannter und mutiger Lehrer und Meister. Es könnte unter den Gründen, diese Episode zu bewahren, auch eine Rolle gespielt haben, dass drei der zuvor genannten Lehrmeister keineswegs nur Theoretiker waren, sondern etwas später auch aktive Widerstandskämpfer, und zwar im Bar-Kochba–Aufstand, im 2. Jahrhundert n.d.Z. gegen die römischen Besatzer des Heiligen Landes, gegen Rom.
Nach der Niederlage wurden sie von den Römern grausam hingerichtet. Und weil das so war, konnte es möglich sein, dass sie an diesem Pessach-Abend nicht nur die einstige Erlösung aus Ägypten erörtert haben, sondern auch die zukünftige Erlösung durch den Kampf gegen die fremde Besatzungsmacht im Heiligen Land, gegen die Legionen Roms, in Augenschein genommen hatten und sie selbst ihre Schüler vor dem Haus postiert haben, um Wache zu halten und zu melden, wenn sich ein Legionär näherte…
Und vielleicht war der Satz: „Meister, die Zeit des Morgengebets ist gekommen“ nur ein Losungswort, dass eine Gefahr lauerte? War es vielleicht so, dass der Aufstand gegen Rom in dieser Nacht vorbereitet wurde? Wer könnte das heute noch mit Sicherheit bestätigen? – Die grausame Hinrichtung Rabbi Akibas auf dem Scheiterhaufen durch die Römer scheint diese Vorstellung zu bestärken.
Das Pessachfest lehrt, dass die Freiheit eines jeden Menschen und die Notwendigkeit der Befreiung eines jeden Unterdrückten aus dem Sklavenhaus Ägyptens wie aus einem Musterbeispiel abgeleitet werden sollte. Und daher lesen wir auch das Schriftwort zur Befreiung in der Haggada:
„... Und wenn dich heute dein Kind fragen wird: Was bedeutet dieses Fest der Ungesäuerten Brote? so sollst du ihm sagen: „Der Herr hat uns mit mächtiger Hand aus dem Haus der Knechtschaft geführt und uns befreit.“ (2.B.M. 13:14)
Die Befreiung ist damit als Heilsgeschehen, als Ausgangspunkt zur Offenbarung am Berge Sinai zu verstehen. Und es soll alljährlich im Volksgedächtnis wachgerufen und vergegenwärtigt werden, wenn wir am Sederabend des Pessachfestes beieinander am Festtisch sitzen und über den Auszug unseres Volkes aus Ägypten und über seine Geschichte erzählen, wie es uns die Tora gebietet. (2.B.M. 13:8)
In jüngster Zeit schliessen wir den Sederabend nach der Lesung der Haggada mit dem dreifachen Aufruf:
Leschana haba’a Bi’Jeruschalajim! Möge es uns vergönnt werden, das kommende Jahr in Jerusalem zu verbringen!