Ausgabe

Bilder moderner ­Gesellschaften

Marianne Enigl

Rudolf Klein über jüdische Friedhöfe in europäischen Metropolen

 

Inhalt

Der international geschätzte Architekturhistoriker Rudolf Klein präsentiert einen prächtigen und kenntnisreichen Bildband über jüdische Friedhöfe in zwanzig europäischen Metropolen.

Professor Rudolf Klein ist ein wunderbarer Erzähler. Er liebt das Fach, aus dem er erzählt, die Architekturgeschichte, sein Wissen scheint unendlich. Mit ihm durch seine nunmehrige Wohnstadt Budapest zu gehen – geboren ist er in eine Anwaltsfamilie in Subotica, während des Krieges in Ex-Jugoslawien flüchtete er nach Ungarn – ist ein besonderes Vergnügen und Geschenk. Einmal durfte ich mit ihm das Budapester Bauhaus-Viertel durchwandern – wie Professor Klein die prachtvollen Stiegenhäuser mit seinen Erzählungen über die Bauherren aus dem aufgeschlossenen, modernen jüdischen Bürgertum Ungarns füllte, ist eine eigene Geschichte (profil Nr. 28/2012). 

Der wissenschaftliche Output des grossgewachsenen Herrn mit den lebhaften Augen wiegt schwer. Vor Jahren hat er in einem eindrucksvollen Band Die Synagogen von Ungarn 1782-1918 vorgestellt. Nun legte er sein meisterhaftes neues Buch vor – es umfasst knapp 500 Seiten.*)

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Warschau: Der Ohel von Ber Sonnenberg (1822). 

Foto: R. Klein, mit freundlicher Genehmigung.

Das in englischer Sprache publizierte Werk ist eine reich bebilderte Erkundung jüdischer Friedhöfe des 19. und 20. Jahrhunderts in Ost- und Zentraleuropa sowie auf dem Balkan. Autor Rudolf Klein: „Jüdische Friedhöfe sind wahrscheinlich das facettenreichste Genre der Kunst, verglichen mit Synagogen und ihren Wandmalereien oder den illustrierten Manuskripten und Judaica.“ Eine der Begründungen dafür ist, dass bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Synagogen meist von Nichtjuden entworfen worden sind. Und weiter schreibt der Architekturhistoriker: 

„Irgendwie zeigten Friedhöfe jüdische Einstellungen
und Werte offener als die mitten in der nichtjüdischen ­Umgebung errichteten Synagogen. Jüdische Friedhöfe waren mehr oder weniger eine interne Angelegenheit der jüdischen ­Gemeinden.“

In der Einleitung schreibt Rudolf Klein: 

„Anders als viele Studien, die sich auf Grabsteine konzentrieren, intendiert dieses Buch den Blick auf das Ganze eines Friedhofs: Beginnend mit urban-planerischen und Garten-Aspekten, dem Gesamteindruck als solchem, berührt es auch die soziale Sphäre und diskutiert alle Fragen der Segregation – Geschlecht, religiöse Strömung und Finanzielles – als Spiegel der Struktur und Hierarchie jüdischer Gemeinden in der Diaspora.“

Als in der besten Tradition erzählender Wissenschaftler stellt Klein 21 Friedhöfe vom Baltikum bis zum Balkan in allen ihren Aspekten vor. Seine Ausgangsüberlegung ist überzeugend: 

„Die jüdischen Friedhöfe reichen über die einer Minderheit gegebenen Grenzen hinaus; sie porträtieren ein grösseres Bild moderner Gesellschaften, einschliesslich interreligiöser Beziehungen sowie allgemeiner Kunst- und historischer Bedeutung und zeugen so von einer fruchtbaren Koexistenz und gegenseitiger kultureller Beeinflussung Europäischer Kultur und Jüdischen Erbes von der Gründerzeit bis zum Holocaust.“

Rudolf Klein hat an Universitäten in Jerusalem, Kyoto und Tel Aviv gelehrt und geforscht und ist Professor für moderne Architekturgeschichte an der Szent István Universität in Budapest sowie in Novi Sad. Alle in seinem neuen Werk porträtierten Friedhöfe hat er selbst besucht, Kälte hat ihn nicht abhalten können, manche der Orte haben er oder seine Frau unter einer leichten Schneedecke fotografiert. Die Liste der ausgewählten Anlagen spannt sich über Zeiten und Strömungen auf dem halben Kontinent: Aschkenasischer und sefardischer jüdischer Friedhof in Belgrad; jüdischer Friedhof Berlin-Weissensee; Orthodoxer jüdischer Friedhof Bratislava; aschkenasischer, sefardischer sowie Neuer jüdischer Friedhof Bukarest; jüdischer Friedhof Salgótarjáni Strasse - sowie in der Kozma Strasse Budapest; Neuer jüdischer Friedhof Krakau; Neuer jüdischer Friedhof in Lodz; Neuer jüdischer Friedhof in Prag; jüdischer Friedhof in St. Petersburg; sefardischer jüdischer Friedhof Sarajewo; jüdischer Teil des Zentralfriedhofs Sofia; jüdischer Friedhof Užupis in Vilnius; jüdischer Friedhof Okopawa Strasse Warschau; Alter jüdischer Friedhof Wroclaw/Breslau; jüdischer Teil des Mirogoj Zentralfriedhofs Zagreb. In Wien hat sich Klein dem Alten und Neuen jüdischen Friedhof auf dem Zentralfriedhof gewidmet.

Mit dem Grossen Ganzen nimmt der Architekturhistoriker auch hunderte individueller Grabmäler in den Blick. Sein Interesse folgt seiner immensen Kenntnis und mit dieser verortet er das Einzelne hoch interessant im Kontext der jeweiligen Bestattungsanlage. Da ist etwa das sefardische Grabmal auf dem jüdischen Friedhof Hamburg-Altona: als grün bemooster Zeuge einer jüdisch wie kunsthistorisch herausragenden Epoche erhebt es sich wie ein grosses Geheimnis aus dem schweigenden Feld, das mit den typisch horizontalen sefardischen Grabplatten belegt ist. An einem Ende des dreieckigen erhobenen Stein-Sarkophags zeigt ein Relief Isaks Opferung durch Abraham (im Buch auf Seite 44). 

Auf dem jüdischen Friedhof in der Okopawa Strasse in Warschau findet sich die ausdrucksstarke Bilderzählung am Ohel von Ber Sonnenberg (1822), das wie ein kleines Haus gestaltete Grabmal wurde neu eingedeckt (Seite 452/453). Der wie ein Kristall gestaltete Grabstein Franz Kafkas auf dem Neuen jüdischen Friedhof Žižkov in Prag zeigt den Einfluss von Expressionismus und tschechischem Kubismus (Seite 315). Über den neuen jüdischen Friedhof in Lódz schreibt Rudolf Klein, dass die Eltern des Pianisten Artur Rubinstein, Felicja und Isaac, hier bestattet sind, und er dokumentiert das Mausoleum des Multimillionärs und Philantropen Izrael Kalmanowicz Poznanski – es ist wie eine Kathedrale mit reich verzierter Innenkuppel gebaut, die Kuppel mündet in einen Davidstern (Seite 300/301). Auf dem Budapester jüdischen Friedhof in der Salgótarjáni Strasse beeindruckt der Ehrengräber-Teil mit der spektakulären Architektur von Béla Lajta. Im Buch ist die Entwicklung Latjas von der Verwendung alter mesopotamischer Architektur bis hin zur neuen Matzewah-Tradition eingängig dargestellt (Seiten 264 – 269). 

Für den jüdischen Friedhof Zagreb ist für die Zwischenkriegszeit typisch – und europaweit einmalig –, dass stilistisch Modernismus und Art Decó die Grabmäler bestimmen. Typisch ist ebenso, dass während des Kommunismus das Rabbinat wenig Einfluss hatte und daher auch christliche Familienmitglieder in jüdischen Gräbern bestattet wurden. Das elegante Grabmal der Familie Freund ist für all das Beispiel und es ist zudem Denkmal für die in der Shoah und im Lager der kroatischen Ustascha, in Jasenovac, ermordeten Angehörigen (Seite 159). Vom aschkenasisch-jüdischen Friedhof der rumänischen Hauptstadt zeigt der Wissenschaftler den Grabstein von Adolf Hittler (1832-1892), er war Hutmacher in Bukarest und laut der in hebräisch verfassten Eulogie ein „lieber Mensch“ (Seite 236).

Im Resümee über seine vielen Reisen und seine nun einer internationalen Leserschaft zugänglichen Erkundungen stellt der Architekturhistoriker die zentrale Frage nach der Bedeutung jüdischer Bestattungsorte für die jüdische Geschichte. Seine Antwort ist deutlich: jüdische Friedhöfe sind wie Geschichtsbücher. Allein die Einflüsse der nichtjüdischen Umgebung – ethnisch, religiös, kunsthistorisch, architektonisch, landschaftsgestaltend und urban – würden ein Buch füllen. Seit der Eroberung Jerusalems, als das antike Israel sein Staatswesen verlor, lebte der Grossteil des jüdischen Volkes als Minorität im europäischen Mittelmeerraum. Sein Leben wurde von den Gastimperien, von Rom, Byzanz, Persien, Habsburg, dem Heiligen Römischen Reich, Russland und Ottomanen sowie Habsburg beeinflusst. Da Juden kein eigenes visuelles Vokabular hatten, akzeptierten sie nichtjüdische Kunst und Architektur, so weit sie nicht ihr eigenes Erbe, ihre rigorose Anti-Ikonen-Tradition und ihre Angst vor Götzenverehrung berührten. Diese Angst war laut Autor Rudolf Klein zeitlich und regional unterschiedlich. So akzeptierten etwa in der Römischen Periode jüdische Friedhöfe oft dreidimensionale Darstellungen von Toten, die anderswo und zu anderen Zeiten als reine Götzenverehrung gegolten hätten.

*) Rudolf Klein: Metropolitan Jewish Cemeteries of the
19th and 20th Centuries in Central and Eastern Europe;

ICOMOS. Hefte des deutschen Nationalkomitees LXVI

Teil 2: Der jüdische Friedhof in St. Petersburg,
wird in DAVID Heft 122, Rosch Haschana abgedruckt.

 

Professor Rudolf Klein wird sein Buch am 27. Mai 2019 um 19.00 Uhr im Bookshop Singer Wien 1., Rabensteig 3, präsentieren.