Die Wissenschaftlerin Ruth Wodak, im Vorjahr vom Frauenministerium
mit dem Lebenswerk-Preis ausgezeichnet, im Gespräch.
Ruth Wodak: „Ich mache weiter“.
Foto: Marianne Enigl, mit freundlicher Genehmigung.
„Ich werde sicher weitermachen“, sagt die kritische Sprachwissenschaftlerin und Mahnerin Ruth Wodak. 1950 in London geboren, ist die Soziolinguistin eine der wichtigen Stimmen der Vorurteilsforschung gegen Ausgrenzung, Antisemitismus und Rechtspopulismus.
DAVID: Wir treffen einander in der neuen jüdischen Buchhandlung von Dorly Singer. Welche Bedeutung hat ein solcher Ort für Wien?
Ruth Wodak: Wir brauchen dringend solche Orte. Die Verknüpfung von Buchhandlung und Café ist wunderbar, weil man in Ruhe Bücher anschauen und Freundinnen treffen kann, natürlich sowohl Juden wie Nichtjuden. Heutzutage gibt es viel zu wenige solcher Orte der Besinnung und Reflexion. Ich sage immer, wir brauchen mehr reflektierte Entschleunigung.
DAVID: Du arbeitest mit sehr komplexen Zusammenhängen, wie verschaffst Du Dir Nachdenk-Zeit?
Ruth Wodak: Ich mache das beinahe rituell, ich ziehe mich jeden Tag in der Früh zurück und überlege in Ruhe, was habe ich heute vor mir?
DAVID: Kannst Du Dir als vielfache Autorin ein Leben ohne Bücher vorstellen?
Ruth Wodak: Ohne Bücher zu leben ist mir – unter normalen Umständen - unmöglich. Das hängt auch mit meiner Familiengeschichte zusammen. Ich komme aus einer sehr bibliophilen Familie, und mein Vater hat immer erzählt, dass er auf der Flucht drei Bücher mitgenommen hat. Es war ein Band von Sigmund Freud, einer von Johann Nestroy und ein Band von Friedrich Schiller. Mit diesen drei Büchern im Koffer ist er am 12. März 1938 sofort geflüchtet. Mein Vater war Revolutionärer Sozialist, viele Genossen wie Karl Hans Sailer und Otto Binder haben ihm geholfen, so ist er über Italien und Frankreich nach England gekommen.
DAVID: Besitzt Du die Bücher aus dem Fluchtkoffer Deines Vaters noch?
Ruth Wodak: Ja, die Flucht-Bücher sind immer bei mir.
DAVID: Wie schätzt Du die neuen Medien ein?
Ruth Wodak: Ich glaube, dass wir diese Entwicklung in ihrer ganzen Komplexität noch nicht erkennen und verstehen. Einerseits haben die sozialen Medien viel Positives gebracht, globalisierte Informationsübermittlung besitzt auch emanzipatorische Funktionen.
DAVID: Aber es ist auch totale Beeinflussung möglich.
Ruth Wodak: Diese Funktionen sind gefährlich. Vor allem im Zusammenspiel mit den sogenannten Parallelwelten, in denen man sich nicht mehr um Fakten und andere Meinungen kümmert, sondern alles, was nicht hineinpasst, als fake-news abtut. Lügen in der Politik hat es immer schon gegeben. Das Phänomen ist jetzt aber umfassender, und man kann sich ihm viel schwerer entziehen.
DAVID: Als junge Forscherin, was würde Dich heute interessieren?
Ruth Wodak: Ich weiss nicht, ob ich jetzt noch Wissenschaftlerin werden wollte. Denn die Universitäten, der ganze Wissenschaftsbetrieb haben sich sehr verändert. Wissenschaft ist quasi zu einem Geschäft geworden. Du wirst ständig „gerankt“, musst möglichst schnell möglichst viel publizieren, musst möglichst oft zitiert werden. Es wird gezählt, wie schnell Deine Studierenden ihre Abschlüsse machen. Management ist zum Allzweck geworden. Früher war auch nicht alles wunderbar, die Verhältnisse an den Universitäten waren furchtbar patriarchal, ja feudal. Aber auf reflektiertes Wissen wurde mehr Wert gelegt, man hatte Zeit, nachzudenken und Risiken einzugehen.
DAVID: Du hast über sehr Interessantes dissertiert: das Sprachverhalten von Angeklagten.
Ruth Wodak: In den USA gab es in den 1970er-Jahren schon linguistic anthropology, aber hier habe ich das als Erste gemacht. Die Kriminalsoziologen fanden meinen Ansatz wahnsinnig spannend, und so habe ich im Wiener Straflandesgericht die Erlaubnis bekommen, mit einem riesigen Tonbandgerät Verhandlungen aufzunehmen. Ich habe Prozesse über Autounfälle untersucht, da diese Fälle relativ schichtunabhängig sind. Ich habe damals gesagt, ich möchte die Sprache bei Gericht analysieren, aber tatsächlich war ich als Soziolinguistin interessiert, ob es eine klassen- und geschlechterspezifische Justiz gibt.
DAVID: Und was war das Ergebnis?
Ruth Wodak: Die Unterschiede waren signifikant. Frauen wurden oft heruntergemacht, Akademiker wurden quasi als Kollegen behandelt. Ich habe viele Illusionen verloren. Dabei ist die Unabhängigkeit der Gerichte so unglaublich wichtig. Momentan wird ja das Verhältnis von Politik und Recht vehement diskutiert.
DAVID: Du kommst eben von einer Pressekonferenz, bei der SOS-Mitmensch antiislamische Ausfälle aus dem Jahr 2018 dokumentierte.
Ruth Wodak: Anton Pelinka, Peter Melichar und ich wurden als Experten zugezogen. Es gibt – betrachtet man die rhetorischen Muster und auch die Inhalte – viele Ähnlichkeiten zur Ausgrenzung wie auch Roma und Juden sie erfahren haben. Ich frage mich nun zugespitzt: wann dürfen Muslime nicht mehr auf Parkbänken sitzen? Woran erkennt man überhaupt Muslime, wenn sie nicht gerade eine typische Kleidung tragen, etwa an der Form der Nase?
DAVID: Ein nächster Schritt wäre wieder ein Erkennungszeichen.
Ruth Wodak: Ja, das stimmt. Zynisch könnte man fragen: wird ein gelber Halbmond als Erkennungszeichen überlegt?
DAVID: Du bist vielfach ausgezeichnete und engagierte Wissenschaftlerin, hat Dich je ein Politiker gefragt, was man ändern müsste?
Ruth Wodak: In den 1980er-Jahren hat mich Erhard Busek - er war während der Waldheim-Zeit Vizebürgermeister in Wien - um eine Studie über Antisemitismus im Waldheim-Wahlkampf gebeten. Ich habe auf politischer Nichteinmischung bestanden, die Antisemitismusstudie wurde eine Weiterentwicklung diskursanalytischer Ansätze und ist 1990 von Suhrkamp publiziert worden. Busek sah Antisemitismus wirklich als Problem und wollte wissen, was man dagegen unternehmen kann.
DAVID: War Busek der einzige Politiker, der Deine Expertise wollte?
Ruth Wodak: Josef Ostermayer und Justizsprecher Johannes Jarolim von der SPÖ wollten auch Analysen, etwa über einen berüchtigten Wiener Presserichter, ein Gutachten über ihn wurde unter dem Titel Der ausgebliebene Skandal bei Czernin publiziert. Für das Sozialministerium und für Frauenministerin Barbara Prammer sowie die Gleichbehandlungsstelle habe ich mit einem Team Richtlinien für eine gendergerechte Sprache entwickelt.
DAVID: Dein Buch Politik mit der Angst ist 2016 erschienen. Wie waren die Reaktionen?
Ruth Wodak: Viele NGOs haben sehr positiv reagiert, die Grünen, die Europäische Gewerkschaft in Brüssel; der Guardian, die New York Times und die Huffington Post haben mich interviewt, ebenso Zeitungen in Schweden, Norwegen, Dänemark, Deutschland, Serbien, Tschechien und Israel.
DAVID: Würdest Du eine Einladung der FPÖ zu einer Diskussion annehmen?
Ruth Wodak: Wenn diese in einer Öffentlichkeit stattfände, in der ich als Wissenschaftlerin geladen bin, warum nicht?
DAVID: Wie geht es Dir, wenn Du nach so langer Auseinandersetzung eine Radikalisierung feststellen musst: die „schamlose Normalisierung des ehemals Tabuisierten“, wie Du es nennst?
Ruth Wodak: Es stellt sich mir oft die Sinnfrage. Begonnen haben wir mit solchen Untersuchungen in den 1980ern. Damals kam plötzlich im Zuge expliziter Fremdenfeindlichkeit eine andere Rhetorik auf. Heute muss ich sagen, es ist schwierig, mit der Kontinuität von Ausgrenzung umzugehen. Ich werde wirklich häufig zu Vorträgen eingeladen, auch meine Bücher werden viel gekauft. Das Interesse ist gross, die Wirkung aber gering. Das empfinde ich oft als sehr bedrückend. Es ist auf Dauer auch anstrengend, traurig und ekelerregend, sich mit diesen Themen zu beschäftigen.
DAVID: Politik mit der Angst ist Normalität geworden.
Ruth Wodak: Es gibt nicht nur eine Normalisierung, sondern eine Schamlosigkeit: „Anything goes“. Man kann alles sagen, man muss sich nicht mehr entschuldigen. Tabubrüche werden gezielt gemacht, von Trump bis Orbán. Anderseits, wenn wir es nicht analysieren und aufzeigen, würde vielleicht überhaupt niemand mehr etwas dagegen sagen. Ich bekomme sehr viel Zuspruch von Menschen, die meinen, “Jetzt weiss ich, worum es bei meinem Unbehagen geht, jetzt kann ich das benennen.“
DAVID: Du machst also weiter?
Ruth Wodak: Ich mache sicherlich weiter. Für meine Seelenhygiene werde ich mich aber auch mit anderem beschäftigen. Zum Beispiel fasziniert mich die Beliebtheit von TV-
Soaps über den Alltag der Politik wie The Westwing oder
Borgen. Ich war ja selbst fast süchtig danach, warum – das interessiert mich.
DAVID: Vielen Dank für das Gespräch!