Renaissance und Neuzeit –
Nation oder Kultur
Wir müssen noch einige Schritte weitergehen. Auch diese klassisch gewordene disparate Einheit des heute orthodoxen Judentums blieb nicht unerschüttert. Die empirischen Wissenschaften, voran die Naturwissenschaften, gin-
gen natürlich auch am Judentum nicht spurlos vorüber. So wie es schon im Mittelalter neben philosophischen Texten auch bedeutende medizinische Arbeiten aus jüdischer Hand gegeben hatte, finden wir ab der Renaissance des 16. Jahrhunderts jüdische Schriften über Mathematik, Physik, Geographie und natürlich auch eine moderne Geschichtswissenschaft. Dies hat innerhalb des Judentums zu tiefgreifendem Nachdenken über die Quellen des menschlichen Wissens und zu neuen Auseinandersetzungen geführt – die Spitze dieses Eisbergs ist der ihnen allen wohl bekannte Baruch Spinoza, der seine Auffassungen aus seiner profunden jüdisch-philosophischen Bildung gezogen hatte. Zunächst wurde dieses neue Denken natürlich wieder als Aufruhr gegen den Konsens empfunden, weshalb Spinoza dem Synagogenbann verfiel.
Dennoch war dann der grosse jüdische Aufklärer Moses Mendelssohn nicht unwesentlich von Spinoza beeinflusst und die Hebräische Universität in Jerusalem hat im Jahre 1927 ganz offiziell den Bann gegen Spinoza widerrufen. Alle diese modernen Entwicklungen hatten dazu geführt, dass die Religion für viele Juden aus der Mitte ihres Lebens rückte und darum die Religion ihre bislang zentrale Bindungskraft einbüsste. Ja, auch die Religion selbst war wieder neuen Spaltungen ausgesetzt – im 19. Jahrhundert tat sich die Kluft auf zwischen Reform und Orthodoxie. Und wieder war die Zeit gekommen, über die Einheit des Judentums besorgt zu sein, weil die Vielheit sich in zu extremen Gegensätzen manifestierte. Wieder war die Zeit gekommen, darüber nachzudenken, was ob dieser neuen, unbekannten Vielfalt das einigende Band des Judentums sein konnte. Jetzt, im 19. Jahrhundert, wurden zunächst zwei Optionen als Band der Einheit in den Mittelpunkt gerückt, die nationale und die kulturelle Option.
Die nationale Option
Betrachten wir zunächst die nationale Option. Es war die Zeit, als in Europa die Nationen ihren eigenen Wert erkannten und aus den übernationalen Grossreichen strebten, um eigene Nationalstaaten zu begründen. Den bedeutendsten ersten Versuch, das Judentum im Sinne des modernen Nationalismus zu deuten, unternahm der Vater der deutschen Sozialdemokratie, der oft vergessene Moses Hess (1812 – 1875). Er beruft sich in seinem Büchlein Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage ausdrücklich auf die italienischen Befreiungskriege, auf die nationalen Bestrebungen von Griechen und Polen. Es sind diese totgeglaubten Völker, zu denen Hess nun auch die Juden zählt, deren Wiederauferstehung er nun unmittelbar kommen sah. Darum verkündete Hess in seinem Buch:
„Das Judenthum ist vor allen Dingen eine Nationalität, [...], eine Nation, die schon einmal das geistige Regenerationsorgan der socialen Welt war [...] und [...] heute ihre eigene Auferstehung feiert.“
Dies ist nichts anderes als der Versuch, dem Judentum eine neue Einheit zu verschaffen – eine Einheit trotz aller Differenzen. Zu dieser neuen Einheit gehört natürlich auch die Religion, auch wenn ihr nun ein anderer Platz in der neuen nationalen Einheit zugewiesen wird. Die Religion ist für Hess ein nationaler Geschichtskultus und dient nach seiner Auffassung einzig und alleine der Begründung des jüdischen Patriotismus. Religion ist für Hess nicht, wie man dies bei den jüdischen Reformern des 19. Jahrhunderts hörte, dazu da, die persönliche individuelle Glückseligkeit zu befördern, sondern sie steht ausschliesslich im nationalen Interesse: »die jüdische Religion ist vor allen Dingen jüdischer Patriotismus.« Theodor Herzl, der Begründer des modernen politischen Zionismus, bekannte, dass alles, was er und seine Mitstreiter versuchten, schon bei Moses Hess zu finden war. Und so ist für viele Juden heute die Einheit des Judentums in diesem Nationalgedanken zusammengefasst. Vom Judentum als Nation kann, trotz aller Auseinandersetzungen im heutigen Israel, die gesamte Vielfalt des Judentums umfasst werden.
Die kulturelle Option
Es gab und gibt aber auch noch andere Stimmen, welche die Einheit des Judentums in der Moderne weder im politisch-nationalen noch im religiösen Sinn gewahrt wissen wollten, sondern in der jüdischen Kultur. Der klassische Vertreter dieses Kultur-Judentums ist Achad Ha-Am (Ascher Hirsch Ginsberg, 1856 – 1927). Er bekämpfte den politischen Zionismus von Theodor Herzl, weil er glaubte, dass die Einheit des Judentums nicht im politischen Nationalismus, sondern im Kulturellen zu gewinnen und zu finden ist. Achad Ha-Am sieht die Einheit des Judentums als Volk in der jüdischen Kultur. Jüdische Kultur heisst aber nicht nur Religion. Die Kultur umfasst sehr viel mehr. Zu ihr gehören die Sprache, die Literatur, die Musik, die Malerei, und unter anderem eben auch die Religion, kurz alle kulturellen Äusserungen eines Volkes. Die Religion ist nicht die alles beherrschende Mitte des Kultur-Judentums, sondern eben nur ein Element neben anderen – weshalb für Achad Ha-Am auch Juden akzeptabel sind, die von der Religion nichts wissen wollen. Die Frage nach der Einheit des Judentums war auch mit diesen Vorschlägen nicht erledigt. Immerhin hat der Zionismus eine weltweit grosse Bindekraft entfaltet. Ebenso hat die kulturelle Definition des Judentums eine Kraft offenbart, die jüdischen Peripherien an eine Mitte zu binden – und es ist nicht zufällig, dass die genannten Wochen der öffentlichen Selbstdarstellung des jüdischen Lebens hierzulande nicht jüdische Religions-Wochen sind, sondern eben jüdische Kultur-Wochen. Mit der Kulturdefinition kann man gewiss auch jene Kräfte binden, welche Probleme mit dem Nationalen, mit der Religion, oder gar mit dem Zionismus haben.
Die Shoah als Bindeglied?
Hier muss noch ein anderer Versuch betrachtet werden, die Einheit des Judentums zu bewahren. Nach den schrecklichen Geschehnissen der Shoah sah es einige Zeit so aus, als sollte die Erinnerung – sie ist ja ein zentrales jüdisches Gebot – also die Erinnerung an die Shoah in Ermangelung anderer Bindekräfte diese Rolle einnehmen. So hat zum Beispiel der aus Deutschland vertriebene jüdische Philosoph Emil Fackenheim (1916 - 2003) mit der Ausrufung eines 614-ten Gebotes eine solche Mitte für nötig erachtet. Mit diesem 614-ten Gebot, das die traditionellen 613 Gebote der Tora ergänzen, oder gar über sie hinausführen sollte, wollte Fackenheim die Selbsterhaltung des Judentums, die bare Weiterexistenz des Judentums nach dem Genozid, zur einzigen und zentralen Aufgabe und Bindekraft des Judentums erklären. Mit den Worten Fackenheims:
„Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht. Es ist ihnen geboten, sich an die Opfer von Auschwitz zu erinnern, damit ihr Gedächtnis nicht untergeht.“
Aber bald wurde von vielen Juden beklagt, dass die Erinnerung an die Shoah nicht das zentrale, die-Einheit-schaffende Motiv für das Judentum sein könne. Nicht das Tun der Antisemiten dürfe das Jüdische ausmachen, sondern das selbst Geschaffene, die eigenen kulturellen und religiösen Schätze müssen die Einheit des Judentums verbürgen. Und tatsächlich musste das Gedenken der Shoah als bindende Mitte schneller als man glauben konnte, wieder in das zweite Glied der Bindekraft der jüdischen Einheit zurücktreten.
Vielfalt und Einheit in der modernen jüdischen Philosophie
Die Frage der Einheit in der Vielheit beschäftigt auch heute wieder jüdische Denker in unseren Tagen diesseits und jenseits des Atlantiks. Erst kürzlich erschien ein Sammelband, in dem sich 24 jüdische Philosophen beiderlei Geschlechts die Frage stellen, was denn die wesentlichen Aufgaben einer modernen jüdischen Philosophie für das 21. Jahrhundert seien. Die in diesem Buch zutage tretende Vielfalt ist verblüffend. Neben Themen der klassischen mittelalterlichen jüdischen Philosophie werden Fragen der Wissenschaft und Technologie, der Umwelt und der Ökologie, der Literatur, Soziologie und Politik, der Religion und Geschichte, nicht zu vergessen des Feminismus, zu zentralen Aufgaben des modernen Judentums erklärt. Wir haben hier eine Themenvielfalt, wie sie nicht anders bei deutschen, französischen oder englischen Philosophen zu finden ist. Wohlgemerkt, das alles sollen aber Themen einer jüdischen Philosophie sein. Angesichts dieser schier unübersichtlichen Interessenvielfalt ist es nicht verwunderlich, dass einer der israelischen Philosophen folgendes als die Hauptaufgabe einer jüdischen Philosophie der Gegenwart erkennt: Die jüdische Philosophie der Gegenwart muss den Versuch unternehmen, die vielfältigen individuellen jüdischen Existenzen mit der einen alles umfassenden kollektiven jüdischen Existenz zu verbinden. Es müsse also gefragt werden, wie die zahllosen, sich zum Teil heftig widerstreitenden Judentümer als ein einziges Judentum verstanden werden können. Es soll die Berechtigung dafür gefunden werden, dass alle diese auseinanderstrebenden Judentümer dennoch als ein Judentum betrachtet werden können. Blickt man auf das bisher Vorgetragene zurück, so sieht man: Durch die Jahrtausende hat sich das Bild nicht wirklich verändert. Die auseinanderstrebende Vielfalt ist das Natürliche und die Einheit ist das Wunder, allerdings ein Wunder, das die Menschen selbst schaffen müssen.
Das Judentum als Wille und Vorstellung
Zum Abschluss sei eine Anleihe bei Arthur Schopenhauer gemacht, welche helfen kann, die Situation dieses Judentums zu beschreiben. Das zentrale Werk von Schopenhauer trägt den Titel Die Welt als Wille und Vorstellung. Damit will Schopenhauer sagen, dass wir die Welt von zwei Seiten wahrnehmen können. Das eine ist der sie treibende Wille, der unbeschreibbar ist, dem wir aber mit Hilfe unserer Vorstellungen einen Sinn verleihen. Das Judentum, das ich bis hier gezeichnet habe, kann man entsprechend mit dem Titel Das Judentum als Wille und Vorstellung überschreiben. Der Wille, das Judentum zu erhalten, ist die treibende Kraft, die man nicht eigentlich beschreiben kann. Der ehemalige Hamburger Rabbiner Dr. Caesar Seligmann hat diesen nicht erkennbaren Willen zum Judentum einmal so beschrieben:
»Warum wir Juden sind? Warum wir Juden sein müssen? Warum? Thörichte Frage! Frage das Feuer, warum es brennt! Frage die Sonne, warum sie scheint! Frage den Baum, warum er wächst! Frage den Löwen, warum er brüllt! Frage den Menschen, warum er liebt! So frage den Juden, warum er Jude ist. Wir können nicht anders! Es ist in uns ohne unser Zuthun! Es ist da, urlebendig und G’ttesgewaltig; Es ist das Gesetz unserer Natur! […] Wir können uns nicht […] losreissen von den Wurzeln unseres Seins. […] Dreitausend Jahre Weltgeschichte haben es bewiesen, dass es unmöglich ist, die jüdische Volksseele zu vernichten.« (1898)
Ja, so könnte man den treibenden Willen des Judentums beschreiben. An der Seite dieses Willens steht aber die bildhafte konzeptionelle Vorstellung. Der Wille braucht die Vorstellung, um in der Welt sinnhafte Wirklichkeit zu werden. Das bedeutet für das hier Beschriebene: All die vielen Theorien und Gedanken jüdischer Gelehrter und Denker, Musiker und Künstler, Köchinnen und Köche, alle die auseinanderstrebenden Elemente jüdischer Kultur, sind nichts anderes als die wechselnden Vorstellungen, welche die Menschen brauchen, um die Kraft des treibenden Willens mit geordnetem, anschaulichem und greifbarem Sinn zu erfüllen. Mit anderen Worten: Die ganze jüdische Vielfalt ist nichts anderes als der Versuch, den Willen zu dieser Einheit des Judentums als sinnvolles Dasein sicht- und erlebbar zu machen.
Der erste Teil dieses Beitrags ist in DAVID Heft 119, Chanukka 5779/Dezember 2018,
Seite 64-65 erschienen.
Zum Autor: Karl E. Grözinger ist ein deutscher Judaist und Religionswissenschaftler.
Er ist Professor emeritus (Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft, Universität Potsdam, Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg). Weitere biographische Informationen:
http://www.zentrum-juedische-studien.de/person/groezinger-karl-e/