Der Schriftsteller, Drehbuchautor
und Regisseur Jindřich Mann.
Jindřich Mann, mit freundlicher Genehmigung.
Der 1948 in Prag geborene Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur Jindřich (dt. Heinrich) Mann ist der Sohn von Leonie Mann, dem einzigen Kind des Romanciers Heinrich Mann und der Prager jüdischen Schauspielerin Maria Kahn. Die Familien von Heinrich und Thomas Mann erhielten 1936 auf Betreiben des Kaufmannes Rudolf Fleischmann das Heimatrecht im ostböhmischen Städtchen Proseč und wurden so aus der Staatenlosigkeit gerettet. Jindřich Manns Vater war der aus dem galizischen Stedtl Stanislau stammende populäre tschechische
Schriftsteller Ludvik Aškenazy.
DAVID: Herr Mann, wie kommt es, dass Ihr Vater aus dem galizischen Stanislau zu den populärsten tschechischen Schriftstellern zählt?
Jindřich Mann: Stanislau (heute: Ivano-Frankivsk, Ukraine ) war ein multilingualer Ort. Als mein Vater 1921 geboren wurde, gehörte er gerade nicht mehr zu Donaumonarchie, sondern zu Polen. Heute liegt er in der Ukraine. Polnisch, Deutsch, Jiddisch und Ukrainisch waren die Sprachen dort. Vor den Nazis floh mein Vater 1939 in die Sowjetunion und schloss sich 1941 der Tschechoslowakischen Auslandsarmee an. Warum gerade diesem Armeekorpus, und wieso? Als er in Bozen lebte, und bevor er dort 1986 gestorben ist, sagte er zu mir, er müsste ein Buch schreiben mit dem Titel: „Wie ich zu einem Tschechen wurde“. Das hat er aber nicht mehr geschafft. Und wir, in der Schnelle, schaffen es hier auch nicht. Immerhin war der Anteil der jüdischen Menschen in dieser Armee ziemlich hoch: ausser den ursprünglich tschechoslowakischen Flüchtlingen gab es in ihr auch ruthenische und galizische Juden. Mein Vater hat die Schlachten von Sokolow - nahe der ukrainischen Stadt Charkov - und bei den Kämpfen Ende 1944 in den Ostkarpaten mitgemacht und war bei der Schlacht um den Dukla-Pass, die für die Befreiung Budapests und Wiens wichtig war, dabei. Er kam dann als Sieger bis nach Prag und blieb hier. Er ging sozusagen in den Westen, aber irgendwie nicht weit genug. Zuerst. Nach der Demobilisierung haben sie ihm als einem Offizier sowohl die Leitung einer Mühle angeboten als auch einen Posten im Rundfunk. Er hat das Zweite gewählt. Ich glaube, er wollte immer schon schreiben, und das tat er nun in der neuen Sprache. Zuerst als Journalist: er hat sogar über den israelisch-palästinensischen Konflikt 1948 berichtet. Etwa ab 1953 war er freiberuflicher Schriftsteller.
DAVID: Was waren die Themen, über die Ihr Vater schrieb?
Jindřich Mann: Er hat Prosa, eher kurze Erzählungen, geschrieben, Theaterstücke und Drehbücher, viele Hörspiele. Und Kinderbücher, mit denen eine ganze Generation aufgewachsen ist. Sein erstes Buch hiess Kinderetüden. Und es war sofort ein Bestseller: kleine Erzählungen über einen Vater und den kleinen Jungen, der eine witzige und irgendwie bessere Variante von mir ist, würde ich meinen. Aber doch durch etliche wahre Geschehnisse inspiriert. In der bleiernen Öde der stalinistischen Werke dieser Zeit erschien dieses zärtliche, feine, sanft pointierte Buch und kam sehr gut an. Bis heute übrigens, immer wieder. Dieses Prinzip hat mein Vater mehrfach variiert. Nach einem dieser Bücher läuft hier in Prag bereits seit 20 Jahren ein Theaterstück, und die Vorstellungen sind nach wie vor hoffnungslos ausverkauft. Allerdings wird es nur von November bis März gegeben – ein kleiner Junge geht froh und verspielt am Heiligen Abend in Prag dem Papa verloren... Dann schrieb er richtige Kinderbücher. Und die Erzählungen. Viele über den Holocaust oder über die von den Deutschen besetzte Tschechoslowakei. Die Erzählungen waren kurz, traurig, ja herzergreifend, ironisch, nie pathetisch. Er gilt als Meister der tschechischen Sprache - die gar nicht die seine war, was er aber verheimlichte. Er schrieb über Dinge, die er eigentlich so nicht erlebt hatte. Darüber, was er tatsächlich erlebt hatte, schrieb er nie. Und er erzählte mir auch kaum etwas. Das unterscheidet ihn von seinen anderen beiden bekannten, vielgelesenen Schriftstellerkollegen, Arnošt Lustig und Ota Pavel. Diese schreiben stets über ihr eigenes Überleben in der Shoah.
DAVID: Der Holocaust wurde aber in der Politik der Nachkriegstschechoslowakei nicht thematisiert, sondern als natio- nales Leiden unter den Nazis subsumiert. Der Slánský-Prozess in den frühen 1950er Jahren stellte die Juden als Kollaborateure mit den Deutschen und als Verräter, als CIA-Spione, dar.
Jindřich Mann: Ich war damals noch ein Kind. Später, das heisst, einige Jahre, nachdem Slánský und die anderen hingerichtet worden waren (von den 13 Angeklagten waren elf Juden), fielen mir die Karikaturen in den Propagandakästen auf, welche es überall in den Strassen gab. Es waren Karikaturen, welche die Bösartigkeit der amerikanischen Kapitalisten verkörpern sollten: Mit der linken Hand konnten die dargestellten Figuren fast nicht das überquellende Dollarbündel umfassen, in der rechten Hand umklammerten sie eine Atomwaffe. Als ich dann nach Deutschland emigrierte und die Stürmer-Karikaturen zum ersten Mal sah, fiel mir die Kontinuität auf. Wahrscheinlich waren diese „kommunistischen“ Zeichner schon während der Nazizeit beschäftigt gewesen. Der Slánský-Prozess war in jedem Fall für die jüdischen Kommunisten ein Wendepunkt.
DAVID: Wie war Ihre Beziehung zum Judentum?
Jindřich Mann:Ich wuchs agnostisch auf so wie die meisten Juden im kommunistischen Nachkriegs-Prag. Man fiel nicht weiter auf. Auf die pflichtgemässe Frage des Lehrers, ob ich Verwandtschaft im Ausland hätte, bejahte ich die Frage. Auf weiteres Befragen, wann denn diese Verwandten die Tschechoslowakei verlassen hätten, meinte ich, diese Verwandten hätten nie in der Tschechoslowakei gelebt. Das machte den Lehrer sprachlos. Meine Familiengeschichte war sicher nicht repräsentativ.
Gegen alles Deutsche gab es ein Kollektivurteil. Wenn wir als Kinder Krieg spielten – egal, ob in Prag oder im hintersten Winkel auf dem Lande - ging es immer gegen die bösen Deutschen. Man unterschied Deutschland vom Westen. Falls in meiner Schulzeit, also Ende der 1950er oder Anfang der 1960er Jahre, ein Flugzeug laut über dem Schulgebäude zu hören war, witzelten wir freudig: Die Amerikaner kommen! Im August 1968 kam es dann leider ganz anders: In der Nacht zum 21. August dröhnten die Flugzeuge der Sowjetunion über unserem Hause auf der Prager Kleinseite. Meine Familie packte das Notwendigste zusammen und verliess zehn Tage danach die Tschechoslowakei. Meine Eltern sahen Prag nie wieder, lebten dann einige Jahre in der Geburtsstadt meiner Mutter in München. So, wie mein Vater ganz selbstverständlich seine Bücher auf Tschechisch geschrieben hatte, tat er es nun auf Deutsch und war relativ erfolgreich. Das Emigrantenleben setzten meine Eltern fort: Sie zogen 1977 nach Bozen.
DAVID: Wie ist das mit dem Sprachwechsel? Sie haben Ihr Buch Prag poste restante auf Deutsch geschrieben und erst Jahre danach die tschechische Version verfasst.
Jindřich Mann: Das ist in der Literatur nichts Aussergewöhnliches. Joseph Conrad und Vladimir Nabokov schrieben in zwei Sprachen, Milan Kundera tat es: der erste Staatspräsident der Tschechoslowakei Tomaš Masaryk schrieb einige seiner Bücher auch auf Deutsch… Eigenartig ist manchmal die Rezeption, dass zum Beispiel Jaroslav Rudiš und ich, die wir beide Deutsch und Tschechisch schreiben, als etwas Besonderes betrachtet werden, wiewohl die Zweisprachigkeit in Prag absolut Tradition hat.
DAVID: Wie sehen Sie rückblickend das Jahr 1968?
Jindřich Mann: Die Frage sprengt etwas den Rahmen. Am Ende war es eine fatale, zerstörende Katastrophe. Vielleicht hätten die Reformer damals radikaler sein müssen, oder vielleicht mässiger. Die Kapitulation hätte man in Moskau jedenfalls nicht unterschreiben sollen. 1968 markiert das endgültige Ende der zu jenem Zeitpunkt natürlich gar nicht mehr existenten, aber doch immer noch herbei geträumten, der bis heute etwas glorifizierten, Ersten Tschechoslowakischen Republik. Es folgte die sogenannte Normalisierung, ein bleiernes, apathisches Dasein, ein perspektivloses Sich-Arrangieren mit der sowjetischen Besatzungsmacht. Das Jahr 1989 habe ich, ein Emigrant, als Sieg empfunden - ein Sieg ohne Kampf. In der neugewonnenen Freiheit besann man sich dann wieder auf die Masaryk-Zeit. Aber es war doch eine ganz andere Zeit. Böhmen zählte in den 1930er Jahren zu den reichsten Regionen Europas, die Tschechoslowakei war etwa doppelt so gross wie das heutige Tschechien, sie reichte von Deutschland bis Rumänien und hatte sechs anerkannte Sprachen, sechs anerkannte Nationalitäten. Sie war in mancher Hinsicht jener Nachfolgestaat, welcher der k.u.k. Monarchie kulturell am ähnlich- sten war. In Prag gab es eine tschechische und eine deutschsprachige Universität, eine tschechische und deutschsprachige Technische Hochschule, und so war es bei den Theatern. Zudem gab es viele französische Bildungseinrichtungen. Andererseits war die eigentlich recht erfolgreiche Vorkriegs-Tschechoslowakei ein in der Welt ziemlich unbekanntes Land. Heute treffen Sie in New York kaum jemanden, der noch nicht hier war oder nicht zumindest demnächst unbedingt hierher kommen will. Prag ist heute, trotz seiner fünf Jahrzehnte dauernden autoritären Herrschaft, trotz des Eisernen Vorhangs, wieder mehr als bloss ein Binnenland, es ist heute wieder ein Kreuzungspunkt.
DAVID: Vielen Dank, Herr Mann. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg und Alles Gute!
Nachlese:
Jindřich MANN: Prag poste restante - Eine unbekannte Geschichte der Familie Mann, Rowohlt 2007.
Jindřich MANN: Lední medvěd. (Der Eisbär), Praha, Labyrinth 2017.