Ausgabe

Eine heile Welt: Was aus ‚Nesthäkchen’ wurde

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Marianne Brentzel: „Mir kann doch nichts geschehen ... Das Leben der Nesthäkchen-Autorin Else Ury"

Berlin:  ebersbach & simon 2015

160 Seiten, gebunden, 4 S/W-Abbildungen

Euro 15,30 [A] | 16,80 Euro [D]

ISBN 978-3-86915-102-1

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Sie wird in eine gutbürgerliche jüdische Berliner Familie hineingeboren: Else Ury. Der Vater, Emil Ury, ist Tabakfabrikant, noch orthodox geprägt und bemüht, seiner Familie eine heile Welt zu bieten. Seine Frau Franziska, auch sie aus einer alten jüdischen Familie, besucht die höhere Mädchenschule und wird Kennerin der deutschen Literatur. Bildung und Religion, so werden die Kinder im Haus von Emil und Franziska Ury gross, ist eigentlich etwas ganz Normales für eine jede Familie. Else wächst mit ihren zwei Brüdern, der ältere, Ludwig, wird später Rechtsanwalt, und Hans, später Facharzt für Magen- und Darmkrankheiten, und einer Schwester, der vier Jahre jüngeren Käthe, in der Nähe der damaligen Synagoge in der Heidereutergasse auf. Else besucht bis zur 10. Klasse das Lyzeum, danach gibt es für Frauen keine weiteren Bildungsmöglichkeiten. Eine Frau heiratet, hat Kinder und kümmert sich um ihre Familie. Else macht diese Frauen damals vorgeschriebene Laufbahn nicht mit. Sie hat nie geheiratet, man weiss nicht, warum. Um 1900, also im Alter von 23 oder 24 Jahren beginnt sie mit dem Schreiben. Fünf Jahre später bringt der Globus Verlag Elses erstes aber keineswegs letztes Buch heraus: eine besondere Stellung kommt Nesthäkchen zu, dessen Leben Else Ury bis 1925 in insgesamt zehn Bänden schildert, in denen aus dem kleinen Wildfang allmählich eine alte Frau mit grauem Haar wird. Blonde Zöpfe mit hellblauen Schleifen und mit einer Stupsnase, so sieht Else Urys Nesthäkchen aus, ein durch und durch norddeutsches Mädchen. Es feiert Weihnachten und andere christliche Feiertage. Jüdisches? Das gibt es nicht in Else Urys heiler Welt. Wohl aber Bedienstete, auch „Neger", politisch nicht ganz korrekt, aber damals und lange danach durchaus üblich. Ihre Bücher erreichen Auflagen von bis zu sieben Millionen Exemplaren. Sie verdient ausgezeichnet, ungefähr 80.000 Reichsmark im Jahr. Davon kann Else für sich und die Familie im Riesengebirge, Rübenzahls Heimat, ein hübsches Haus kaufen. Ihr letztes Buch schreibt Else Ury als eine Erzählung für Knaben und Mädchen: Jugend voraus, ganz im Geist der neuen Zeit: Sie wiederholt 1933 NS-Parolen, beschreibt die Arbeitslosigkeit und ihre Folgen. Nach dem Krieg steht es dafür übrigens von 1945 bis 2014 auf dem Index der Alliierten. Es hilft ihr nicht: Am 6. März 1935 erfolgt ihr Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer. Gefördert wird eine andere Jugendbuchautorin, Magda Trott mit Försters Pucki, ein Mädel so ganz im Geist der neuen Zeit, nicht mehr widerspenstig, sondern, auch dank Vaters Rute, hübsch gefügig, wie es sich fortan für ein deutsches Mädchen gehört. Man freut sich zu lesen, dass Else im April 1938 nach London reist, um ihre Neffen Klaus Heymann und Fritz Ury zu besuchen. Ach, wäre sie doch nur dort geblieben, wünscht man sich für sie - und für all die vielen anderen Juden in Deutschland, die sich nicht aufraffen können, die ihnen vertraute Heimat zu verlassen. In sieben Stationen, so beschreibt die Autorin Marianne Brentzel knapp und zügig, wie um nicht die Contenance zu verlieren, Ausgrenzung, Beraubung und Ermordung dieser deutschen Bestsellerautorin: Am 6. Januar 1943 wird sie in die Sammelstelle im Altenheim der jüdischen Gemeinde in der Grossen Hamburger Strasse 26 gebracht. Sechs Tage lang wartet sie dort. Vom Bahnhof Putlitzstrasse in Moabit geht es mit dem Transport RSHA Nr. 23 nach Auschwitz. Nach 20-stündiger Fahrt trifft der Zug ein. Am 13. Januar 1943 wird Else Ury zusammen mit den anderen in die Gaskammer getrieben und ermordet. Am 22. März 1943 wird Else Urys Wohnung in der Solinger Str. 10 geräumt. Ihr Inhalt dürfte mit vielen anderen Gegenständen aus den Wohnungen anderer deportierter Berliner Wohnungen öffentlich versteigert worden sein. Erst in den 1990er Jahren findet man unter den Koffern der Deportierten in einem Raum in Auschwitz einen Koffer mit der Aufschrift: „Else Sara Ury. Berlin, Solinger Str. 10." Ein erschütternder Bericht vom Schicksal einer Jüdin, die sich als gute Deutsche verstand, viele kleine und grosse deutsche Mädchen mit ihren Geschichten begeistert hat, aber als Jüdin ermordet wurde. Erst spät erfährt die Nachwelt von ihrem Schicksal. 1992 schreibt die Autorin, Marianne Brentzel, eine erste Biografie über Else Ury. Sie ist, wie vermutlich viele ihrer LeserInnen überrascht, erstaunt, dass die Verfasserin von Nesthäkchen eine Jüdin ist, die jüdisches Schicksal ereilt. Mit dieser zweiten Biografie erreicht sie hoffentlich noch ein paar Leserinnen und Leser mehr und öffnet ihnen die Augen: Niemand konnte ihnen entkommen, den Nazi-Schergen, den Mördern.