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Der Wiener Kongress und die Juden der Stadt

Tina WALZER

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Der Wiener Kongress stellte die Weichen für Entwicklungen, die bis in unsere Gegenwart reichen. Grosse Hoffnungen setzten auch die Wiener Juden in das Projekt der Erneuerung Europas. Sie mussten jedoch erkennen, dass die Interessen der handelnden Personen ausschliesslich in der Konsolidierung der Machtverhältnisse lagen. Die Aussicht auf bürgerliche Rechte auch für Juden verschwand für weitere Jahrzehnte aus den politischen Landschaften Europas.

 

Nationalismus, Kolonialherrschaft, zwei Weltkriege, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus, die Entstehung der Europäischen Union - die Liste der mittelbaren Auswirkungen des Wiener Kongresses, der vor zweihundert Jahren tagte, um Frieden zu schaffen, auf die Entwicklung Europas ist lang. Die politische Landkarte wurde 1815 neu gezeichnet - nicht zum Vorteil der dort lebenden Menschen, wie sich in weiterer Folge herausstellte. Das Gleichgewicht der Kräfte, die territorialen Interessen der vier Verhandlungsmächte England, Frankreich, Russland und Österreich wurden über das Individuum gestellt, kleinere Einheiten überrollt, marginalisiert, der Pragmatik geopfert. Juden stellten in dem zwei Jahre andauernden Flottieren der Gespräche unzähliger Interessensgruppen eine winzige Einheit dar, die im Vergleich zu ihrer Grösse erstaunlich einflussreiche Fürsprecher gefunden hatte.

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Code Napoléon oder Code Civil. Quelle: Wikipedia, abgerufen 22.11.2015

Die Wiener Juden um 1815

Im Zuge der Napoleonischen Kriege hatte sich eine Reihe jüdischer Fabrikanten und Banquiers aus den besetzten deutschen Ländern - dem Elsass, dem Rheinland, aus Württemberg, Bayern, aus Breslau, aber auch aus dem wohlhabenden, selbstbewussten Böhmen entschieden, nach Wien zu emigrieren, um der unübersichtlichen politischen Lage auszuweichen. Jüdische Gemeinden wie Frankfurt entsandten später Delegierte an den Wiener Kongress mit dem Auftrag, einheitliche Rechtsvorschriften zugunsten der jüdischen Bevölkerungsteile in Europa auszuhandeln.

Zuvor waren eben demokratiebewusste Juden in den Einflussbereich des habsburgischen Hofes gekommen. Hier unterstützten sie die Kräfte der Restauration und deren Truppen gegen Napoleon - in der Hoffnung, mit bürgerlichen Rechten belohnt zu werden, wenn man sich solcherart als nützlicher, „treuer" Staatsbürger bewiesen hatte. Also betätigten sich Juden aus Deutschland, Böhmen, Schlesien als Kriegsfinanciers. Ihre Verehrung galt Napoleon - und doch huldigten sie dem österreichischen Kaiserhaus. In einem Zwiespalt zwischen dem Anspruch auf bürgerliche Rechte und der eingeübten Loyalität gegenüber dem Herrscher, rangen die Wiener Juden im Vormärz um die exis-tentielle Absicherung von Aufenthalt und Berufswahl, aber auch um die staatlich garantierte Religionsausübung.

In der  josephinischen Zeit hatte das österreichische Herrschaftssystem die jüdische Zuwanderung noch rein unter dem Gesichtspunkt des Nutzens, den der Einzelne dem Staat bringen mochte, betrachtet. Dreissig Jahre später führte die nächs-te jüdische Generation in Wien den Kampf um ihre rechtliche Gleichstellung aus einem neuen, westeuropäisch geprägten Verständnis, nämlich der Erfahrung des Code Civil. Die Juden aus den deutschen Ländern agierten hier ganz anders als die mährischen, ungarischen und alteingesessenen österreichischen Juden. Sie versuchten, ausgehend von feudal geprägten Handlungsmustern der Hoffaktoren, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Mitverantwortung in einem bürgerlich geprägten Staat zu entwickeln, die dann auch staatlich anerkannt und rechtlich abgesichert werden sollte.

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Acte Final du Congrès de Vienne. Österreichisches Staatsarchiv, mit freundlicher Genehmigung.

Persönlichkeiten wie Nathan Adam Arnstein (1748 Wien - 1838 Wien), Bernhard Eskeles (1753 Wien - 1839 Wien), Simon Lämel (1766 Tuschkau, Böhmen, heute Mesto Touskov - 1845 Wien) oder Leopold Herz (1767 Wien - 1828 Wien) zeigten in der Öffentlichkeit grosses Selbstbewusstsein, das sie aus der alten Hofjudenposition heraus entwickelten, Mut zur Konfrontation und Entschlossenheit. In den Salons der Arnstein, Eskeles oder Herz formierten sie sich zu politischen Allianzen mit allen, die ein offenes Ohr für die Rolle der Juden zeigten. So kamen Kooperationen mit Fürst Klemens Metternich zustande, oder mit Wilhelm von Humboldt, der sich als Fürsprecher der jüdischen Sache in den Sitzungen des Wiener Kongresses einschaltete. Dass Metternich den gefeierten Feldherrn Lord Wellington unmittelbar nach dessen Ankunft in Wien als erster gesellschaftlicher Termin ausgerechnet im Salon des Juden Leopold Herz einführte, zeigt das Gewicht, das den Wiener Juden in den Verhandlungen beigemessen wurde.

Die Frauen standen ihren Ehemännern in der Ausfüllung gesellschaftlicher, immanent politischer Rollen um nichts nach. Die Salons der Berliner Itzig-Schwestern, Fanny Arnstein (1758 Berlin - 1818 Wien) und Cäcilie Eskeles (1760 Berlin - 1826 Wien) - ihr Vater war preussischer Oberhoffaktor gewesen - wurden zum Kulminationspunkt der preussisch-österreichischen Beziehungen. Gerade über die persönlichen Kontakte der Beteiligten suchten Juden wie Nichtjuden Lösungen, wie sie im verhältnismässig liberalen Berlin bereits durchgesetzt waren, für die gesamteuropäischen jüdischen Bevölkerungen zu erreichen.

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Literaturhinweis: Adam Zamoyski, Rites of Peace. The Fall of Napoleon and the Congress of Vienna. Harper Collins 2008.

Verhandlungsziele der jüdischen Vertreter

Im Zuge der Französischen Revolution war es Napoleon gewesen, der Juden erstmals in ganz Europa bürgerliche Rechte zugestanden hatte. Für diese Tat wurde er von Generationen von Juden aller Länder verehrt - wie viele Napoleon-Büsten fanden sich in den Salons der jüdischen Mittelschichten! Das Bürgerliche Gesetzbuch hatte Napoleon konsequenterweise auch in den besetzten Gebieten eingeführt, wiewohl die Erleichterungen für Juden in den meisten Regionen auf Druck der nichtjüdischen Bevölkerungen bald wieder zurückgenommen wurden. Damit entspann sich für die europäischen Juden ein Kampf um die Wiedereinsetzung jener bürgerlichen Rechte, die sie für einmal in Frankreich so berauschend und triumphal verliehen bekommen hatten.

Wie sehr sich auch die Hoffnungen nach dem Ende der Koalitionskriege auf den Wiener Kongress mit seiner politischen und territorialen Neuordnung des europäischen Staatensystems richteten, so scheiterte das ambitiöse Ziel doch am Widerstand der Delegierten. Selbst Preussen schwächte seine judenfreundlichen Rechtsvorschriften wieder ab. Erst 1848 gelang es schliesslich, im Gefolge der bürgerlichen Revolutionen in Europa, die rechtliche Gleichstellung der Juden zumindest als Anspruch zu verankern (wenn auch konkrete Umsetzungsbestimmungen fehlten), und staatsrechtlich gibt es de facto die bürgerlichen Rechte für Juden europaweit erst in den Jahren um 1870.

Erklärtes Ziel der Wiener Juden wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden mit den nichtjüdischen Staatsbürgern des Habsburgerreiches. Ging es in der Zeit der Französischen Revolution um die bürgerlichen Rechte - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, so dauerte es doch bis zum Staatsgrundgesetz 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder, wo dieser grundlegende Rechtsanspruch endlich auch Juden gewährt wurde. Dieses bestimmte: „Vor dem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich".

Die Erfahrung des Scheiterns, gepaart mit den anhaltend ungünstigen Lebensbedingungen, dominierten in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress das Leben der Juden in der Stadt. Gerade jene Familien, die um 1800 einen in den habsburgischen Ländern bisher ungesehenen Höhepunkt an wirtschaftlichem und sozialem Erfolg erreicht hatten, wandten sich nun von Österreich ab, oder verliessen das Judentum. Metternichs Financier Leopold Herz konvertierte ebenso wie die Kinder der Arnstein und Eskeles, die Camondo und Ephrussi hingegen setzten ihren gesellschaftlichen Aufstieg lieber in Istanbul und Paris fort. Der Verlust an Entwicklungspotential, Wirtschaftskraft und Intellektualität durch das Scheitern der Judenfrage auf dem Wiener Kongress war enorm und konnte erst durch massive Neuzuwanderungsbewegungen um 1848 und nach 1867 wieder ausgeglichen werden.Zwei Generationen erfolgreicher Unternehmer waren den Wiener Juden wie auch der Stadt verloren gegangen.Die Verbliebenen blieben kämpferisch. 1829 gründeten sie die Wiener Kultusgemeinde.