Der österreichische Schriftsteller Martin Pollack verfasste im Jahre 1984 einen imaginären Reiseführer durch das österreichische Kronland Galizien und schrieb dazu in seiner Einleitung: Wer kennt heute noch Galizien? Wer weiss noch wo es liegt - oder besser wo es lag? Denn Galizien gibt es nicht mehr. Es ist als Ganzes von der Landkarte verschwunden. Sein westlicher Teil gehört heute zu Polen, sein östlicher zur Ukraine. Und dabei war alles einst österreichisch, von der ersten Teilung Polens an bis „in die letzten Tage der Menschheit" hinein, als die Habsburgermonarchie zerfiel, als ein einmaliges kulturelles Gewebe in einem schmerzlichen Entflechtungsprozess zerfasert wurde. In jenem Grenzgebiet zwischen dem halbasiatischen Russland und dem letzten Ausläufer Europas in der cisleithanischen Reichshälfte, auf der Podolischen Platte und am Dnjestr und Weichsel hatte sich ein einmaliges Völkergemisch zusammengefunden. Ukrainer - damals nannten sie sich Ruthenen, Polen, Juden, Huzulen, schwäbische Kolonisten und als einigendes Band die k.u.k. Armee. Eines dieser Grenzstädte führte den Namen Brody, dorthin zu reisen war das Ziel.
Die Grosse Synagoge einst.
Früher, im Jahre 1913, war das alles noch einfach(er). Der Reisende setzte sich in den Expresszug am Wiener Nordbahnhof und kam 12 Stunden später ohne Umzusteigen in der Hauptstadt Galiziens, in Lemberg, an. Von dort nahm er die Bahn nach Kiew/Odessa und erreichte 2 Stunden später die Grenzstation der österr.ung. Monarchie zu Russland - Brody. Eine Stadt mit damals 18.000 Einwohnern mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung, 2 Kirchen und mehreren Bethäusern sowie einer grossen Synagoge, und das alles eingebettet in ein florierendes kulturelles und wirtschaftliches Leben. Theater und Dichtkunst waren voll ausgeprägt und die Literaten bevölkerten die Kaffeehäuser am Ringplatz und in der Goldenen Strasse. Uniformen der Galizischen Ulanen trugen zum bunten Strassenbild des nie enden wollenden geschäftlichen Treibens und Handels zwischen Russland und der Habsburgermonarchie bei. Dadurch erlebte auch das Schmugglerwesen eine Hochblüte und beschäftigte gleichermassen Exekutive und Gericht. Östlich der Stadt befand sich (und befindet sich noch) der jüdische Friedhof, dessen Grabsteine vom Reichtum der damaligen Kaufleute und Grossbürger zeugen und Dokumente der damaligen Hoch- und Geistesblüte in der Stadt sind. Bekannte Bürger der Stadt waren Amalia Nathansohn Freud, die Mutter von Sigmund Freud, Schalom Rokeach, der Begründer der Belzer Chassidischen Dynastie und der Religionsphilosoph Nachman Krochmal. Auch Generäle, wie der österreichische Feldzeugmeister Johann Hiller (nach ihm ist in Linz die Hiller-Kaserne benannt), und der General der ukrainisch-galizischen Armee Myron Tarnawskyj zählten dazu.
Die Grosse Synagoge heute.
Lassen wir kurz den ebenfalls in Brody aufgewachsenen grossen österreichischen Literaten Josef Roth zu Wort kommen, wie er über seine Heimatstadt berichtet:
In Brody leben 18.000 Einwohner, davon 15.000 Juden und 3.000 Christen. Von den 15.000 Juden leben 8.000 vom Handel, als kleine Krämer, grössere Krämer und grosse Krämer. Die anderen 7.000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter, Wasserträger, Gelehrte, Tallesweber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und verschämte Arme die von der öffentlichen Wohlfarth leben, Totengräber, Beschneider oder Grabsteinhauer. Die kleine Stadt liegt mitten im Flachland, von keinem Berg, von keinem Wald, von keinem Fluss begrenzt.
Die Stadt und ihr Umfeld werden von Roth in mehreren seiner Werke behandelt. Er schildert dabei die Welt der jüdischen Händler, Soldaten, Zöllner und Schmuggler. Insbesondere im Roman „Radetzkymarsch" bildet Brody die trostlose Kulisse für den Dienstort des Carl Joseph Trotta von Sipolje am äussersten Ende der Donaumonarchie. Auch andere Autoren nehmen sich der Grenzstadt an. So der Schriftsteller Isaak Babel, der in seinem Roman „Reiterarmee" die Stadt als Hintergrund für seine Erzählung nimmt. Moritz Friedländer wiederum schildert seine Erlebnisse und Empfindungen in „Fünf Wochen in Brody unter jüdisch-russischen Emigranten". Die harten Kämpfe der polnischen Armee nach dem Ende des 1. Weltkrieges gegen Weissgardisten, ukrainischen Nationalisten und gegen die Rote Armee mit der Zerstörung der Stadt beschreibt der sowjetische General Semjon Budjonny in seinen Memoiren.
Die Grenzstation der Habsburgermonarchie zu Russland einst.
Das Schicksal hat es im vergangenen Jahrhundert nicht immer gut mit dieser ehemaligen Grenzstadt gemeint. Nach der Aufhebung des Freihandelspatents Ende des 19. Jahrhunderts, das der Stadt zur wirtschaftlichen Blüte verholfen hatte, schlitterte Brody in eine Krise, vor allem deshalb, weil sich in der Stadt kaum Industrie entwickelt hatte. Bis dahin war Brody nach Lemberg und Krakau die drittgrösste Stadt Galiziens. 1910 belegte sie nur mehr den zehnten Rang. Die bis dahin jüdische Stadt mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 80% erlebte mit der Wirtschaftskrise auch einen spürbaren Rückgang der jüdischen Bevölkerung. Vor allem die Auswanderung nach Amerika verhiess für viele Einwohner einen vielversprechenden Neuanfang. Nach dem Zerfall des Habsburgerreiches am Ende des 1. Weltkrieges fiel Brody an den polnischen Staat und gehörte zur Woiwodschaft Tarnopol. 1939 besetzte die Rote Armee, gemäss den Vereinbarungen im Geheimen Zusatzprotokoll des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages Ostpolen, worauf die Eingliederung in die Ukrainische SSR erfolgte. Im 2. Weltkrieg eroberte die Deutsche Wehrmacht im Juni 1941 die Stadt. Die dort noch lebenden 9.000 jüdischen Bürger wurden zur Zwangsarbeit eingesetzt, und in ein Ghetto rund um die Synagoge gesperrt. Nur ein kleiner Teil der jüdischen Bevölkerung wurde in die Vernichtungslager deportiert, der weitaus grössere Teil wurde im Bereich des jüdischen Friedhofes erschossen. Im August 1944 wurde Brody im Zuge der Kampfhandlungen beim Rückzug der Deutschen Wehrmacht neuerlich beinahe vollständig zerstört, das Stadtzentrum mit dem Ringplatz dem Erdboden gleich gemacht. 1945 wurde die Ostgrenze Polens neu festgelegt. Das Gebiet um Lemberg - darunter Brody - fiel an die Sowjetunion und gehörte nunmehr zum Oblast (Verwaltungsbezirk) Lwiw. Die zum grössten Teil entvölkerte Stadt wurde mit ukrainischen Bauern wieder besiedelt.
Gut hundert Jahre später ist daher vieles anders. Die Stadt zählt 23.000 Einwohner und befindet sich in einer zaghaften industriellen Entwicklungsphase. Hier befindet sich die Schnittstelle der Öl-Pipelines Druzba und Odessa-Brody. Das landwirtschaftliche Element steht aber nach wie vor im Vordergrund. Den ehemals internationalen Handel mit grenzüberschreitendem Warenaustausch gibt es nicht mehr.
Der Bahnhof befindet sich noch immer ausserhalb der Stadt - nur mit der Zugverbindung von Wien hierher ist das nicht mehr so einfach. Der Reisende braucht mit mehrmaligem Umsteigen gut 23 Stunden bis zur Ankunft in Brody. Und waren es damals Droschken mit jüdischen Fiakern, so muss man heute mit Taxis ehemals sowjetischer Herkunft zur Fahrt in den Stadtkern vorliebnehmen. Die wenigen zur Besichtigung noch lohnenden touristischen Attraktionen sind bald gefunden. Doch es gibt auch Aussergewöhnliches zu entdecken: Die Sowjetunion errichtete in den Wäldern ostwärts der Stadt Bunker mit Abschussrampen für ihre dort stets einsatzbereiten und mit Atomsprengköpfen bestückten Interkontinentalraketen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts und der Ausrufung der Republik Ukraine wurden die Atomwaffen nebst den Soldaten abgezogen und in das Innere Russlands verlegt. Das ehemalige Sperrgebiet bietet nunmehr unberührte Flora und Fauna für an unberührter Natur interessierte Besucher.
Brody blieb jedoch weiterhin Garnisonstadt. Nach k.u.k. Truppen, polnischem Militär, Deutscher Wehrmacht und Roter Armee hat das ukrainische Militär die alten Kasernengebäude am Stadtrand bezogen. Sie strahlen noch immer den Charme einer k.u.k. Garnison aus. Auch die Strassennamen sprechen die Geschichte der jeweiligen Machtverhältnisse. So hiess die ursprünglich nach Franz Josef Hasse benannte Hauptstrasse „Zolota" (die Goldene), wurde in polnischer Zeit in Ulanov Krzechowiecki umbenannt und hiess darauf für vier Jahre Adolf Hitler-Strasse, dann sowjetrussisch Lenina und heute wiederum ukrainisch Zolota! Die systematische Zerstörung des jüdischen Kulturlebens begann in der deutschen Besatzungszeit, in der auch bei den Kampfhandlungen die Grosse Synagoge zum Opfer fiel. Nach 1945 fand sich auch keine jüdische Gemeinde mehr, die die Mittel für den Wiederaufbau in die Hände nehmen konnte.
Die ehemalige Grenze heute.
Im Zentrum angekommen findet man zarte Anzeichen zur Wiederbelebung der Kultur und Besinnung auf Tradition und vergangene Werte. So hat eine Bürgerinitiative begonnen, die Grosse Synagoge als Kulturobjekt wiederzuentdecken. Nach Renovierung soll sie für öffentliche Aufführungen und als Bibliothek zur Verfügung stehen. Am Gymnasium, das Josef Roth besucht hat, weist eine Gedenktafel auf den grossen Literaten Galiziens hin. In der Zolota sowie am Ringplatz flanieren Jugendliche und finden auch dort ein Plätzchen zum Verweilen auf einer Parkbank oder in einer Gaststätte a la Burger-King in der seit einigen Jahren wieder aufkeimenden Gastronomie.
Der jüdische Friedhof.
„Verfallen wie in Brody" - ein Ausdruck, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Synonym für Trostlosigkeit und Einsamkeit gegolten hatte, gilt heute nicht mehr. Das erste Hotel am Platz namens „Bristol" wurde vom „Europa", unweit davon gelegen, abgelöst. Eine Unterkunft, die auch Touristen den gewünschten Komfort und ein hohes Mass an Kulinarik mit einheimischer und internationaler Küche bietet. Der dort servierte Borschtsch mit Speck „сало", Sauerrahm „сметана" u. Knoblauch "чеснок", eine wahre Gaumenfreude! Das Museum der Stadt, das Schloss, Ringplatz und Goldene Strasse mit dem ehemaligen k.u.k. Gerichtsgebäude, die orthodoxe Marienkirche, das Schloss und die Kasematten der alten Festung, sowie ein Abstecher zur ehemaligen Grenzstation der Monarchie gegen Russland lohnen einen Besuch allemal. Auch das ehemalige jüdische Ghetto rund um die Grosse Synagoge, ebenso wie der jüdische Friedhof können auf eigene Faust entdeckt werden. Was danach bleibt ist der tiefe Eindruck, den die Grabsteine auf den Besucher machen. Sie sind letzte Zeugen einer untergegangenen Kultur und zugleich Mahner für eine friedliche Zukunft - auch wenn diese noch in weite Ferne gerückt zu sein scheint.
Der ausgezeichnete Borschtsch im Europa.
Auf deutsche oder jiddische Laute wird man allerdings vergeblich warten. Diese Spezies ist durch 2 Weltkriege und die Pogrome unwiederbringlich vernichtet. Mit ihr hat sich auch diese einzigartige Kultur des Völkergemisches verabschiedet. Das Neue wird sich erst im Laufe der Zeit bewähren müssen. Ein Anfang ist jedenfalls sichtbar. Vieles ist in der Stadt noch touristisch unerschlossen - gerade das macht aber den Reiz einer Entdeckung von Brody heute aus.
Ein Tag mit obligater Nächtigung lässt die Stimmung einst und jetzt in der ehemaligen Grenzstadt einfangen und zum Nachdenken anregen. Eine Aufbruchsstimmung - insbesondere bei der Jugend - ist allerortens spürbar. Und mit dieser positiven Einstellung verlassen wir Brody - ein letztes Lebewohl im Bahnhofsgebäude und mit einem Personenzug geht es wieder zurück nach Lemberg.
Alle Fotos: A. Barthou, mit freundlicher Genehmigung.
Arbeit für den Frieden
Österreichisches Schwarzes Kreuz. Kriegsgräberfürsorge in Zusammenarbeit mit dem BMI.
Generalsekretariat, A-1010 Wien, Wollzeile 9, Telefon
+43(1)5123769, Fax +43(1)5120556, gensekr@osk.at
www.osk.at
Bankverbindung: Raiffeisenbank in Wien, IBAN: AT09
3200 0000 0201 9073 BIC: RLNWATWW