An der Universität Wien stellten junge Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler im Rahmen einer zweitägigen Veranstaltung ihre Zugänge zu Theodor Herzls literarischen Texten zur Diskussion.
Am 28. und 29. Oktober 2015 wurde an der Universität Wien eine Veranstaltung zu Theodor Herzls literarischem Schaffen ausgerichtet. Insbesondere Herzls utopischer Roman Altneuland von 1902 über eine „Neue Gesellschaft" im Palästina des Jahres 1923 stand im Zentrum der Diskussion. Am Abend des ersten Tages begrüssten die Organisatoren Thomas Assinger und Marianne Windsperger vom Institut für Germanistik als Gastvortragenden den Salzburger Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker Clemens Peck, der als Verfasser der wegweisenden Herzl-Studie Im Labor der Utopie1 hervorgetreten war. Peck unternahm darin eine umfassende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theodor Herzls Roman, den er in Beziehung zu den kulturellen, politischen und literarischen Kontexten seiner Zeit setzte. Vor allem war es Peck in seiner Studie darum zu tun, die Bedeutung der Gattung des utopischen Romans für Herzls sogenanntes Altneuland-Projekt herauszustellen. Peck, Mither-ausgeber der Salzburger Zeitschrift für jüdische Kulturgeschichte Chilufim, präsentierte in seinem Wiener Abendvortrag nun neuere, an sein Buch anschliessende Überlegungen zu Herzls literarischem Schaffen im Kontext der Wiener Jahrhundertwende. Wie mit dem Titel seines Vortrags „Salonutopien um 1900 - Herzl, Suttner, Groller" benannt, war für seine Darstellung und Argumentation der liberale Salon der Jahrhundertwende als sozial und kulturell kodifizierter Raum mit bestimmten Kommunikationsformen des sozialreformerischen Diskurses zentral. Ausgehend vom überlieferten Wort, Altneuland sei ein „Traum von Realitäten", stellte Peck den Roman als genuin moderne Fortschrittsutopie vor. Die liberalen Salons der Jahrhundertwende erscheinen dabei als Orte der Verhandlung einer zionistischen (Herzl) und einer pazifistischen Zukunft (Suttner). Der Blick kann aber auch reflexiv nach innen, ins Innere des Salons gewendet werden, wie etwa in Texten des heute wenig bekannten zeitgenössischen Meisters leichter Feuilletons und beliebter Unterhaltungsliteratur Balduin Groller, der den Suttnerschen Salon regelmässig frequentierte.
Am zweiten Tag der Veranstaltung trafen sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von verschiedenen Universitäten am Wiener Institut für Germanistik, um gemeinsam mit Clemens Peck im Rahmen des Workshops „Altneuland lesen" Herzls Roman als literarischen Text zu diskutieren. Ausgangspunkt für die Gestaltung des Workshops war das vom israelischen Literaturwissenschaftler Dan Miron entwickelte literaturgeschichtliche Konzept der vielfachen Verschränkungen jüdischer Literaturen.2 Dieses Konzept von Literaturgeschichtsschreibung soll jüdische Literaturen im Plural und damit in ihrer konstitutiven Pluralität beschreibbar machen, um sie in ihrer sprachlichen, kulturellen und historischen Vielfalt anerkennen zu können. Damit ist für Miron eine kritische Reflexion „metaliterarischer"3 Dimensionen von Literaturgeschichtsschreibung verbunden. Solche metaliterarischen Dimensionen sind viel eher auf ideologische und politische Kämpfe zurückzuführen, als auf eine Auseinandersetzung mit literarischen Texten und den Kontexten ihrer Entstehung. Sie drängen Literaturgeschichtsschreibung auf diskursive Normierung und Vereinheitlichung. Dagegen stellt Miron sein Konzept und seine Praxis eines literaturhistorischen Studiums, das die Vielfältigkeit seiner Gegenstände anerkennt und dieser gerecht zu werden versucht.
Dementsprechend war es das gemeinsame Vorhaben der WorkshopteilnehmerInnen, einen Text, der oft auf ausserliterarische Gesichtspunkte reduziert wird, als literarischen Text gemeinsam zu lesen und ihm an die Orte seiner Entstehung und Verbreitung zu folgen. Ganz im Sinne Mirons, der festhält, „dass man die Literatur nur wirklich verstehen kann, wenn man den Literaturen auf den gewundenen Pfaden der historischen Landschaft, in der sie entstanden sind, mit ihren Höhen und Tiefen, ihren Engpässen und weiten Tälern, folgt."4 Davon ausgehend war eine der Leitfragen im Workshop die Frage nach dem Ort von Herzls Altneuland in einer Literaturgeschichte jüdischer Literaturen. Die gemeinsame Arbeit war strukturiert durch kurze Referate, in denen unterschiedliche Zugänge zum Roman vorgestellt und ausgewählte Aspekte des literarischen Textes für die Diskussion vorbereitet wurden.
Zunächst präsentierte die Komparatistin Christina Hoffmann motivische Parallelen zwischen der Literatur des frühen politischen Zionismus und den europäischen Dekadenzliteraturen der Jahrhundertwende. Sie arbeitete direkte und indirekte literarische Bezüge, intertextuelle Beziehungen und literarische Verarbeitungen von verbreiteten Dekadenz-Motiven heraus und stellte auf diesem Weg die verwickelten Beziehungen von Altneuland zur Literatur seiner Zeit heraus. Danach griff der Wiener Germanist Christian Huber den Topos des „Walls gegen Asien" auf, um davon ausgehend orientalistische und kolonialistische Bezüge von Altneuland zu analysieren. Dabei spielte die Frage des Territoriums einer utopischen „Neuen Gesellschaft" eine hervorragende Rolle. Im dritten Beitrag stellte der Germanist Thomas Assinger eine rhetorische Lektüre des Romans vor und setzte ihn in Beziehung zu Herzls zionistischem Manifest Der Judenstaat (1896) und zur Erzählung Das lenkbare Luftschiff (1896). Der Fokus lag dabei auf rhetorischen, medialen und gattungsspezifischen Strategien und Techniken der Überzeugung für das zionistische Projekt.
Der Nachmittag war bislang in der Forschung wenig beachteten Fragen der Rezeption des Romans gewidmet. Die Literaturwissenschaftlerin Marianne Windsperger stellte die Frage nach den Bezügen zum Jiddischen in Altneuland und verortete den Roman Theodor Herzls in einem gemeinsamen jiddisch-deutschen Kommunikationsraum. Im Mittelpunkt des Vortrags stand die jiddische Übersetzung des Romans durch Bal-Makshoves sowie die produktive Rezeption Altneulands in dessen Ironischen Erzählungen (1910-1915). Der Hamburger Exilforscher und Germanist Sebastian Schirrmeister untersuchte literarische Rezeptionen von Herzls Roman und Auseinandersetzungen mit seinem utopischen Entwurf in deutschsprachiger Prosa der 1930er und 1940er Jahre aus Palästina. Der Fokus lag auf einem kaum bekannten Text Josef Kasteins, der unter dem Titel Eine palästinensische Novelle 1942 in Haifa erschienen war. Zur produktiven Debatte trugen auch mehrere Gäste des Workshops bei, mit denen unter anderem Fragen der literarischen Wertung von Theodor Herzls Roman, editorische Versäumnisse - es gibt keine Ausgabe mit einem philologisch erarbeiteten Text und umfassendem Kommentar - und blinde Flecken der Literaturgeschichtsschreibung diskutiert werden konnten.
1 Clemens Peck: Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das „Altneuland"-Projekt. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2012.
2 Dan Miron: Verschränkungen. Über jüdische Literaturen. Aus dem Hebräischen von Liliane Granierer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
3 Ebd., S. 11.
4 Ebd., S. 15.