Ausgabe

Jaffa-Orangen am Paradeplatz

Fabian BRÄNDLE

Content

Roger Reiss wurde im Jahre 1944 in Zürich geboren. Er lebt seit 1972 in Genf in der Romandie. Nach seinem Torastudium in Bex-les-Bains und Montreux studierte er Betriebs- und Volkswirtschaft an der Universität Zürich. Er ist als Kaufmann tätig, publiziert aber auch Erinnerungstexte über Zürich und Genf. Sein Erstlingswerk „Fischel und Chaye - Szenen aus dem Zürcher Schtetl" erschien im Jahre 2003. Fünf Jahre später legte Reiss einen weiteren Erinnerungsband vor, „Leon und Lucie", im Andenken an seine lieben Eltern.

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Roger Reiss, mit freundlicher Genehmigung.

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Buchcover, mit freundlicher Genehmigung R. Reiss.

Reiss´ sprachlich hochstehende, mit jiddischen Wörtern durchsetzte Schilderung der jüdischen Welt von gestern sind bisweilen humorvoll gehalten, bisweilen sarkastisch, manchmal aber auch ernst. Der Autor spricht von seiner Jugendzeit, den fünfziger und sechziger Jahren, als einer „goldenen Zeit": „Wir lebten in einer Epoche der Sicherheit und fühlten uns vor allem eins: geborgen." In der Schweiz respektierte man damals die Juden, und das Gemeindeleben war frei von inneren Zerwürfnissen. „Das Zusammengehörigkeitsgefühl war beneidenswert, ja beispielhaft." Diese Idylle, so Roger Reiss im Vorwort weiter, bestehe heute nicht mehr. Die Sympathien vieler Schweizer lägen seit dem Ausbruch der ersten Intifada bei den Palästinensern, und die Gemeinde sei sehr zersplittert. Die neo-orthodoxe Bewegung Chabad Lubawitsch gewinne einerseits an Einfluss, während sich andererseits viele Schweizer Juden gänzlich säkularisiert hätten.

Alltag im Zürcher Schtetl

Grossvater Fischel Reiss, der Patriarch der Familie, stammte aus Galizien. Er konnte sich mit manchen Gebräuchen der „Jeckes" nicht so recht anfreunden und war beispielsweise sehr skeptisch gegenüber dem Gesang in der Synagoge. Für ihn waren sämtliche Traditionen, die nicht mindestens bis zu seinen eigenen Urgrosseltern zurückreichten, neumodischer „Tinef". Grossmutter Chaye Spiegelglass, die mit ihrem Mann in die Schweiz immigriert war,  war moderneren Gebräuchen gegenüber eher aufgeschlossen. Vater Leon Reiss war wie so viele Juden im Zürcher Schtetl im Textilhandel tätig und führte sein eigenes kleines Geschäft. Er las sehr viel und interessierte sich für die kabbalistische Mystik und den Talmud. Seine Bücher kaufte er beim lokalen Buchhändler Aba Wolff ein. Nachdem sein geliebter Vater Fischel gestorben war, sonderte sich Leon Reiss eine Weile lang von der Familie ab, so sehr bedrückte ihn der Verlust des eigensinnigen, ein wenig kauzigen Patriarchen. Mutter Lucie, ebenfalls eine Reiss, aber nicht verwandt mit Fischel, tat, was sie immer tat, wenn sie es in Zürich nicht mehr aushielt: Sie flog nach Amerika, um gemeinsam mit ihrer Schwester in New York zu shoppen. Sie erwarb Berge von Taftkleidern, Petticoats, Nerzstolas, Schuhen und Mänteln. Damals gingen die Geschäfte gut, so dass sich die Familie das kostspielige Hobby der Mutter leisten konnte. Dennoch schob Leon Reiss dem Kaufrausch seiner Frau schliesslich einen Riegel vor.

Roger Reiss erinnert sich, wie zentral das Essen für die jüdische Identität der Grossfamilie war: „Speis und Trank bilden so etwas wie der rote Faden innerhalb unserer Jüdischkeit, den wir durch alle Veränderungen des Alltags buchstäblich mit den Zähnen verteidigen. (...) Selbst unsere Beziehung zu Israel geht durch den Magen."  Der Vater beispielsweise liebte gehackte Hühnerleber, abwechselnd mit Zwiebeln und stark angereichertem Knoblauch serviert. Die wichtigsten Koscherlieferanten in Zürich-Aussersihl waren die Fleischerei Adass, der Bäcker Alex Izbicki und der Fischhändler Spatz sowie der im ganzen Schtetl bekannte Itzig Reich, der genau wusste, welche Familie in den ärmeren Stadtvierteln nicht genügend Geld hatten, um sich die tägliche Milchration bei ihm zu kaufen. Aus Mitleid füllte Reich den bettelnden, blassen, oft zerlumpten Kinderscharen die Milchflaschen, wenn sie ihn anbettelten. Dies verweist auf die Armut vieler Gemeindemitglieder, aber auch auf die Grosszügigkeit des Lebensmittelhändlers.

Wie oben skizziert, war damals die Stimmung gegenüber den Juden günstig. Zwar gab es immer noch notorische Antisemiten, doch waren die meisten Schweizerinnen und Schweizer geschockt, nachdem sie das volle Ausmass der Shoah registriert hatten. Auch Scham gegenüber der eigenen restriktiven und oftmals unbarmherzigen Flüchtlingspolitik mag zu einer respektvollen Haltung beigetragen haben. Symbol dieser Zuneigung war der Verkauf echter Jaffa-Orangen auf dem Paradeplatz, dem Platz im Herzen Zürichs, den Mama Lucie Reiss jeweils besorgte. Der Erlös kam einer Landwirtschaftsschule im israelischen Nachlat Yehudah zugute. „Der Andrang am Verkaufsstand der Schweizerisch-Israelischen Wohltätigkeitsorganisation WIZO war so gross, dass meine Mutter, wie um sich Luft zu verschaffen, die blau-weissen Ballone, die ihren Stand zierten, in den Himmel aufsteigen liess, so als wollte sie ihre Verkaufsaktion bis in die hintersten Winkel Aussersihls verkünden, um die dort sesshaften Schtetljuden für ihr zionistisches Anliegen zu gewinnen."

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Verlobung von Leon und Lucie, 1933. Foto: Familienbesitz, mit freundlicher Genehmigung: R. Reiss.

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Verlobung von Leon und Lucie, 1933. Foto: Familienbesitz, mit freundlicher Genehmigung: R. Reiss.

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Verlobung von Leon und Lucie, 1933. Foto: Familienbesitz, mit freundlicher Genehmigung: R. Reiss.

Weiterführende Literatur

  

Reiss, Roger. Fischel und Chaya - Szenen aus dem Zürcher Schtetl. Berlin 2003.

Reiss, Roger. Leon und Lucie. Erinnerungen an das Zürcher Schtetl. Zürich 2008.

Reiss, Roger. Nicht immer leicht, a Jid zu sein. Geschichten aus dem jüdischen Genf. Zürich 2010.

Huser, Karin. Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880-1939. Zürich 1998.