Im Endeffekt scheint es müssig darüber zu debattieren, ob der Sturz Ben Alis am 14. Jänner 2011 oder die mittlerweile historische Selbstverbrennung im tunesischen Hinterland im Dezember davor den Referenzpunkt für den dritten Jahrestag der arabischen Umbrüche bilden. Fest steht, dass mit dem Eintritt ins vierte Jahr dieser tiefgreifenden gesellschafts-politischen Transformation ein markanter Unterschied zwischen dem Anspruch der Revolutionäre einerseits und der realpolitischen Entfaltung andererseits in Erscheinung getreten ist. Wobei die Bandbreite der Entwicklungen in den betroffenen Staaten kaum grösser sein könnte, einmal mehr auf die enorme Heterogenität der Staaten der arabischen Welt hinweist und somit wiederholt geäusserte Befürchtungen in Hinblick auf ein sich bildendes „Kalifat" bestenfalls als unfundierte Tagträumereien entlarven.
Abdelwahab Meddeb, der bekannte franko-tunesische Autor, schien infolge der Ereignisse, die Ende 2010 in seiner nordafrikanischen Heimat ihren Lauf nahmen, eine Art Seelenfrieden gefunden zu haben. Doch wie so viele andere Beobachter der Umbrüche scheint auch seine Wahrnehmung eher einem gewissen Wunschdenken als einer nüchternen Bestandsaufnahme möglicher Entwicklungspfade der revolutionären Ereignisse geschuldet gewesen zu sein. Seine Euphorie infolge des Sturzes von Ben Ali, die er prompt in seinem Buch Le printemps de Tunis zum Ausdruck brachte, wird inzwischen wohl einer gewissen Ernüchterung, wenn nicht gar fallweise einer depressiveren Stimmung gewichen sein. Politische Attentate, das vorläufige Scheitern des nationalen Dialogs in Tunesien Ende 2013, die damit fortgesetzte innenpolitische Krise und die Notwendigkeit, immer aggressiver auftretende Dschihadisten nun sogar militärisch bekämpfen zu müssen, tragen zweifelsohne zur Verdüsterung selbst der wohlwollendsten Einschätzung bei.
Auch die jüngsten Fortschritte bei der Ausformulierung der neuen Verfassung und die Ernennung des Übergangspremiers Mehdi Jumaa können nicht über die tiefe Polarisierung der Gesellschaft hinwegtäuschen, die infolge der politischen Pluralisierung nach dem Fall Zine el-Abidine Ben Alis deutlich zutage getreten ist. Wenngleich im Jahr 2002 auf der Insel Dscherba ein folgenschwerer Anschlag auf die Synagoge La Ghriba verübt wurde, so hatten sich bislang extremistisch-fundamentalistische Umtriebe im Ursprungsland des voreilig als „Arabischer Frühling" bezeichneten Volksaufstandes sehr in Grenzen gehalten. Doch im Windschatten der Umwälzungen haben sich diese Kräfte nun neu formiert und massiv an Handlungsspielraum gewonnen.
Ein tunesisches Modell?
Somit wird selbst eine im relativen politischen Konsens erarbeitete Verfassung nur teilweise als Heilmittel für gesellschaftspolitische Spannungen dienen können, da es über den legistischen Rahmen eines Grundgesetzes hinaus vielmehr eines gänzlich neuen Gesellschaftsvertrages bedarf. Dennoch gilt die Feststellung, dass sich die neuen, demokratisch legitimierten Machthaber Tunesiens auf einen Dialog zwecks Ausverhandlung politischer Differenzen einigen konnten. Es besteht somit die berechtigte Hoffnung auf ein genuin arabisches Modell der Demokratie à la tunisienne, welches bei Erfolg auch eine ernstzunehmende Herausforderung für andere Staaten der Region werden könnte.
Auf den ersten Blick erscheint es nach wie vor überraschend, dass gerade Tunesien als Auslöser für die Umwälzungen in der Region gelten sollte. Doch bei näherer Betrachtung kristallisiert sich schnell ein Bündel an Ursachen heraus, das zum Sturz des Langzeitpotentaten führen konnte. Das tunesische Bildungssystem hatte in den letzten Jahrzehnten über das Ziel hinausgeschossen und eine Vielzahl gut ausgebildeter Universitätsabsolventen hervorgebracht, die jedoch nur zu einem Teil eine adäquate Anstellung fanden. Durch die Wirtschaftskrise in einigen Ländern der benachbarten Europäischen Union fiel zudem die Option der (legalen) Arbeitsmigration weg, wodurch sich eine nennenswerte Gruppe arbeitsloser Akademiker in der urbanen Agglomeration Tunis etablierte. Das Hinterland, das weder vom Tourismus noch von Investitionen profitieren konnte, entwickelte sich zu einer benachteiligten Region. Die Überlappung dieser beiden Trends führte denn auch dazu, dass die Selbstverbrennung Mohammed Bou Azizis in Sidi Bouzid als zündender Funke fungierte, der vom Hinterland in das urbane Zentrum getragen werden konnte, wo breite Kreise einer unzufriedenen Mittelschicht dem Aufstand erst den Impetus und die notwendige Breitenwirkung verleihen konnten.
Zu dieser länderspezifischen Situation gesellen sich strukturelle regionale Probleme, die mithin alle zu den Auslösern der Unruhen in Nordafrika und der Levante zählen, sich durch die anhaltende Transition aber nicht signifikant positiv verändert haben. Dazu zählen morsche Gesellschaftsverträge post-kolonialen Ursprungs, die zu einer dysfunktionalen Beziehung zwischen Staat und veränderter Gesellschaft führten und entweder durch Repression oder ökonomische Kooptierung ausgewählter Kreise (Stichwort Klientelismus) „gelöst" wurde. Zudem forderten immer breitere Kreise der Bevölkerung die Teilhabe am politischen Prozess (zum Beispiel die ägyptische Oppositionsbewegung Kifaya). Eine solche hätte zwar zu erneuter Legitimität, aber auch zu Transparenz und Rechenschaftspflicht geführt, was freilich nicht im Interesse der nepotistischen Netzwerke liegen konnte. Als Reaktion auf diese Umstände wurden durch die Regime vermehrt Ängste (vor Chaos oder Islamisten) geschürt, nur um sich besser als Ordnungsmacht positionieren und drakonische Überwachungsmassnahmen legitimieren zu können.
Machtübernahme durch die Armee in Ägypten
In Ägypten förderte der vormalige Präsident Mubarak und seine Entourage die islamistische Opposition, da sie, vor allem in ihren extremistischen Auswüchsen, dem Regime dazu diente, als Ordnungshüter in Erscheinung zu treten. Gleichzeitig konnte es dem schwachen Staat nur recht sein, dass das karitative Netzwerk der Ikhwan (Muslimbrüder) eine Alternative zur medizinischen Versorgung darstellte, die, wie viele staatliche Dienstleistungen, mit der Bevölkerungsexplosion (von 20 Mio. auf über 80 Mio. in wenigen Jahrzehnten) nicht mithalten konnte.
Die jüngst via Putsch erfolgte Quasi-Restauration vollendet einen doppelten Schachzug der Armee. Ursprünglich entledigte sie sich Hosni Mubaraks, der über seinen Sohn eine republikanische Thronfolge einläuten wollte, der wiederum durch seine wirtschaftlichen Liberalisierungspläne die ökonomischen Interessen und Pfründe der Streitkräfte bedrohte. Mit dem Staatsstreich gegen den Muslimbruder Mursi entledigte sich die Armee nicht nur eines veritablen, ideologischen Todfeindes, sondern handelte zudem in Interessenüberschneidung mit Saudi-Arabien und Israel, die beide aus spezifischen Gründen ein politisches Experiment der Ikhwan ablehnen. Zudem gelang eine relativ unblutige Machtübernahme, die sich fokussiert gegen die Muslimbrüder richtete - und vor dem Hintergrund der schwachen wirtschaftlichen Performance der Ikhwan auch Rückhalt in der Bevölkerung fand. Die mangelnde Politikerfahrung der Muslimbrüder, im Kern eine Untergrundorganisation, erklärt auch das vorschnelle Handeln und den Versuch, die Islamisierung nach eigenen Vorstellungen voranzutreiben. Doch diese Klandestinität bleibt gleichzeitig eine Stärke der Organisation, die aufgrund der erneuten, weitreichenden Repression in nächster Zeit wohl wieder vermehrt zum Tragen kommen wird.
Saudischer Einfluss
In Libyen übt sich derweil eine extrem schwache Zentralregierung im Aufbau eines staatlichen Gewaltmonopols. Dies wird nicht nur aufgrund regionaler Autonomiebestrebungen und einer einsetzenden Monarchiedebatte, sondern durch die Umtriebe eines dschihadistischen Nexus erschwert.
Syrien gelang es vor dem Bürgerkrieg, durch eine umfassende Bündnispolitik sein geopolitisches Gewicht überproportional zu steigern, spürt nun aber die Kehrseite dieser Vernetzung durch die massive externe Befeuerung des Konfliktes. Das Ende des sogenannten Arabischen Frühlings im Blutbad steht allerdings auch im Interesse der grössten Golfmonarchie. Analog zu Ägypten wird im strategischen Umfeld Saudi-Arabiens kein quasi-republikanisches Ikhwan-Experiment gewünscht, iranischer und auch türkischer, neo-osmanisch verbrämter Einfluss in der Levante soll zurückgedrängt und die Expansion wahhabitischen, sprich salafistischen Gedankengutes gefördert werden. Aus Riyadhs Perspektive läuft es idealerweise auf eine gesellschaftliche Islamisierung nach saudischem Muster und eine starke Zentralherrschaft, eventuell militärischer Art nach ägyptischem Modell, hinaus.
Der Libanon gerät dabei vermehrt in den Sog des syrischen Bürgerkrieges. Die innenpolitischen Spannungen entluden sich monatelang im nördlichen Tripolis zwischen sunnitischen und alawitischen Bevölkerungsteilen, bis die libanesische Armee zur Befriedung einmarschierte. Mittlerweile weckt eine Serie von Bombenanschlägen, die abwechselnd sunnitische oder schiitische Ziele treffen, ungute Erinnerungen an den Bürgerkrieg im letzten Jahrhundert.
Förderung von Werten oder Realpolitik?
Israel hat sich im Lichte der es umgebenden Umbrüche und trotz der siedlerfreundlichsten Regierung seit der Staatsbildung von Ha-Aretz zu einer neuen Verhandlungsrunde mit den Palästinensern unter Ägide ihrer Schutzmacht USA durchgerungen. Doch ein anzunehmendes Scheitern des Unterfangens birgt die ernstzunehmende Gefahr einer dritten Intifada und in weiterer Folge einer massiven Destabilisierung Jordaniens, dessen Königshaus aber möglicherweise auf saudische Schützenhilfe zählen kann, wie zuvor bereits das sunnitische Königshaus in Bahrain.
Für externe, in der Region aussenpolitisch involvierte Akteure stellt sich die Frage, ob sich ihr Handeln im Lichte der Umwälzungen primär an Interessen (wie zuvor) oder an Prinzipien und Werten (wie die Förderung von Demokratie) orientieren soll. Vonseiten der EU und der USA kam es in diesem Zusammenhang bislang zu eher widersprüchlichen Signalen, da ihre Interessen und Werte nicht deckungsgleich sind und zwangsweise in ein Dilemma münden.
Vor der Zäsur der arabischen Aufstände war die Analyse der Resilienz autoritärer politischer Systeme im arabischen Raum in Fachkreisen ein beliebtes Thema. Doch angesichts der sich abzeichnenden Entwicklungen, die zwischen einer Tendenz zu nicht minder autoritären Herrschaftsmodellen auf Grundlage des politischen Islams, dem teilweisen Verlust des staatlichen Gewaltmonopols, militärischen Konterrevolutionen und einem handfesten Bürgerkrieg oszillieren - gepaart mit der Notwendigkeit zur Bekämpfung militanter extremistischer Gruppen -, wird wohl eher ein neues Kapitel dieser Debatte eröffnet werden müssen, als über das Gelingen und die Partikularität einer regionalen Demokratisierung reflektieren zu können.
Der Fortbestand struktureller Schwächen wie der starke demographische Überhang Jugendlicher, hohe Arbeitslosigkeit und der Druck auf die Ressource Wasser in Kombination mit abgeschotteten klientelistischen Netzwerken stellen für die meisten Länder der Region unüberbrückbare Hindernisse auf dem Weg zur politischen Öffnung dar. Als bestes Indiz für die anhaltende Unzufriedenheit gelten auch die erneuten Zusammenstösse Ende Dezember 2013 in Sidi Bouzid, dem Ursprungsort der arabischen Umbrüche, welche die anhaltende wirtschaftliche Marginalisierung der Region und die unerfüllten Forderungen nach Würde, Freiheit und Gerechtigkeit in Erinnerung rufen.
Der Autor, Forscher an der Landesverteidigungsakademie, bringt seine persönliche Meinung zum Ausdruck und nicht jene des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport.