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Die ganze Wahrheit – ein Erlebnisbericht

Miriam MAGALL

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„Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer über Juden wissen wollten". Das ist der Name der Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin, die vom 22. März bis zum 1. September 2013 stattfand. Für diese Ausstellung hatten die Kuratoren der Ausstellung sich etwas Besonderes einfallen lassen: Jeden Tag sitzt in der Zeit von 14 bis 16 Uhr eine Jüdin oder ein Jude in einer Vitrine und beantwortet Fragen zum Judentum, über Juden oder über alles, was mit Jüdischem zusammenhängt.

 

Sowohl der Titel der Ausstellung, mehr aber noch diese Idee, eine lebende und sehr lebendige Jüdin bzw. einen ebensolchen Juden in eine Vitrine zu setzen, wurde und wird in der Öffentlichkeit zum Teil recht kontrovers diskutiert. Darf man ...? Soll man ...? Und wie kommt das an ...?

Damit sind wir auch schon mittendrin in den vielen Fragen, die einem sozusagen als „lebendes Exponat" im Museum gestellt werden. Dazu sollte erklärt werden, dass ich insgesamt fünfmal in der Vitrine sass. 

Einige der Fragen, die mir persönlich oft als Erstes gestellt wurden, lautete: „Warum sitzen Sie in der Vitrine?" „Wie kommen Sie dazu, hier in der Vitrine zu sitzen?" Und: „Wie fühlen Sie sich in der Vitrine?" Die Fragesteller waren häufig junge Menschen, die oft in einer Gruppe an der Vitrine vorbeikamen und kurz davor Halt machten. Die Fragenden kamen aus Deutschland, aus den Niederlanden, aus Mexiko, aus Korea, aus den USA ... Die Reaktionen auf die Vitrine waren zum Teil positiv bis sehr positiv, zeitweise klangen sie erfreut, dass sie fragen durften, was sie wollten.

Eine Ausnahme zu diesem allgemein positiven Tenor ist mir ganz besonders im Gedächtnis geblieben: Eine Frau mittleren Alters aus Wien berichtete, in einem Wiener Museum habe man Vertreter unterschiedlicher Ethnien an einen Tisch gesetzt, wo Besucher sie befragen konnten. Hier im Jüdischen Museum Berlin graue es ihr angesichts eines lebenden Menschen in einer Vitrine! Denn er komme ihr vor wie ein ausgestopftes Tier in einem Glaskasten!

Grosses Interesse

Andere, meistens Besucher mittleren Alters, erzählten, sie seien sehr an Jüdischem interessiert - aus ganz verschiedenen Gründen: Bei der einen hatte die Tochter in Jerusalem studiert. Eine andere Dame aus Budapest erzählte, sie habe eine 102 Jahre alte jüdische Freundin, die sie regelmässig besuche und der sie vorlese, weil die alte Dame blind ist. Eine ältere jüdische Frau, die jetzt in Wien lebt, erzählte mir von ihrer Vergangenheit und wie sie gerettet wurde. Einige BesucherInnen erkundigten sich, was genau „koscheres Essen" ist. 

Dazwischen stellten, meistens deutsche Männer im mittleren bis höheren Alter (60 bis 70 Jahre), die Frage, ob sie sich schuldig fühlen müssten wegen Hitlers Taten, wenn sie 1941 geboren worden waren.

Sowohl junge Menschen in einer Gruppe als auch meistens Frauen mittleren Alters wollten viel über mich persönlich wissen: Was mit meiner Familie sei. Wie ich von Israel nach Deutschland gekommen sei. Ob mir mein Leben als Jüdin in Deutschland gefalle. 

Ein koreanisches Ehepaar wollte wissen, was ich über Jesus wisse. Am einem Sonntag, den 21. Juli, kamen Mexikaner in kleineren Gruppen an der Vitrine vorbei und fragten, unabhängig voneinander, warum Juden nicht an Jesus glauben und auch, wiederholt, ob Juden mit Christen konkurrieren. Alle wollten mehr über Juden und Judentum erfahren. Ein jüngeres Ehepaar aus Dänemark wollte wissen, wo der Ursprung für die Gebote in der Bibel zu finden sind. Dass sie in der Hebräischen Bibel stehen, wusste es schon. Ein Mann mittleren Alters aus Holland erkundigte sich nach dem Ursprung der Wörter Aschkenas und Sefarad und hörte erstaunt, dass es auch noch Juden gibt, die man Must arabim, d.h. orientalische Juden, nennt.

Eine junge Besucherin aus Polen, die jetzt in Berlin lebt, wollte von mir wissen, was ich über Polen und das Leben dort wisse. Drei US-Amerikaner interessierten sich für den Antisemitismus im heutigen Deutschland und unter Migranten. Eine junge Frau aus Korea zeigte sich sehr beeindruckt vom Jüdischen Museum und seufzte, dass Japan etwas Ähnliches schaffen müsse, leider aber gar nicht daran denke. Auch Israel kam zur Sprache: Zwei junge Frauen aus Deutschland wollten von mir etwas über die aktuelle israelische Politik angesichts der Lage in Syrien hören. Zwei junge Australier wollten ebenfalls viel über Israel erfahren; wie es mit der Sicherheit dort stehe, und wie frei man in Israel umherreisen könne. Sie hatten vor, auf einer ihrer nächsten Reisen unbedingt nach Israel zu fahren.

Vorurteile

Ja, und es kamen auch andere Fragen: Ein junger Mann aus einer Schulklasse wollte von mir wissen, warum Juden geldgierig seien. Eine junge Frau aus Kroatien wollte wissen, warum Hitler die Juden hasste und warum die Menschen oft Juden hassen. Eine andere junge Frau aus Niedersachsen erklärte, sie habe in der Schule schon so viel über Juden und die Schoa gehört und auch immer wieder KZs besichtigen müssen, dass sie davon genug habe und nichts mehr davon hören wolle. Durch die KZs seien dann schliesslich alle nur noch „gelatscht", ohne sich für irgendetwas zu interessieren. Nachdem ich auf die Frage, welchen Stellenwert Jesus für die Juden habe, geantwortet hatte, er sei für die Juden weder ein Sohn G-ttes noch ein Prophet wie bei den Muslimen oder wie für die Christen ihr Religionsstifter, empörte sich eine Frau mittleren Alters aus Deutschland, ich hätte die Christen nicht gebührend gewürdigt!

Da war schon der junge Mann, ein Deutscher, der jetzt in Österreich lebt, eine Erholung. Er empörte sich über den grassierenden Antisemitismus der letzten Zeit; besonders die Rapper hätten da ganz böse Texte. Abschliessend erwähnte er noch seine Oma, die so alt sei wie ich (1942 geboren), und dass sie, weil sie auf dem Land gelebt habe, nichts von der Judenverfolgung mitbekommen habe.

Eine Frau mittleren Alters aus New York, eine Jüdin, wie sie betonte, stellte eine interessante Frage: Ihre Tochter habe im Religionsunterricht von Adam und Eva als Mensch Nr. 1 und Nr. 2 gehört. Ihrer Mutter, meiner Besucherin, stellte sie daher die Frage: Der wievielte Mensch bin ich? Diese Frage gab die Besucherin an mich weiter. Leider konnte ich darauf nicht antworten, sondern verwies sie an ihren Rabbiner. Der wisse - vielleicht - eine Antwort darauf.

Eine der am häufigsten gestellten Fragen war die, welche Fragen mir am häufigsten gestellt werden.

Nach jeder Sitzung in der Vitrine brauchte ich etwas Abwechslung und bin dann jedes Mal durch eine andere Abteilung des Jüdischen Museums spaziert.

Neue und vertraute Erfahrungen

Anhand meiner Erfahrungen aus meiner sonstigen beruflichen Tätigkeit im Bereich der Erwachsenenbildung (ich halte Vorträge bzw. werde zu Studientagen über Jüdisches und Israelisches an Volkshochschulen, Schulen und Museen geladen) waren die Fragen, die mir gestellt wurden, nicht neu für mich. Neu für mich war lediglich die Erfahrung, dass ich warten musste, bis man mich fragt, statt dass die Zuhörer bereits auf ihren Plätzen sitzen, um meinen Ausführungen zu lauschen. Auch die negativen Reaktionen bzw. Fragen waren nicht neu für mich: Bei allen solchen und ähnlichen Begegnungen treffe ich auf ungefähr zehn Prozent unter den Zuhörern, die bösartig gemeinte Fragen gegen Juden und Israel stellen.

Eins steht jedoch fest: Erstens, es herrscht insgesamt grosses Interesse an Jüdischem und Israelischem. Zweitens, die breite Öffentlichkeit weiss relativ wenig über Beides und möchte gerne mehr erfahren. Drittens, deshalb sollte die Aufklärung weitergeführt werden. Viertens, die Arbeit des Jüdischen Museums Berlin sowie ähnlicher Einrichtungen ist dringend angebracht und lobenswert.

  

Literatur

Miriam Magall: Warum Adam keinen Apfel bekam. Grundfragen des Judentums. Calwer Verlag, Stuttgart 2008. ISBN 978-3-7668-4037-0