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Holocaust und Holocaustgedenken in Lettland, Teil II

Martin MALEK

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Der 1925 geborene jüdisch-lettische Historiker Margers Vestermanis, der die deutsche Besatzung als einziger seiner Familie überlebt hat, stellte eine Liste von 400 Letten zusammen, die versucht haben, Juden zu retten. Diese Zahl übernimmt auch das lettische Okkupationsmuseum; es fügt hinzu, dass einige dieser Judenretter von den deutschen Besatzern bestraft wurden.1 Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erkannte mit Stand 1. Jänner 2013 für Lettland 135 „Gerechte unter den Völkern“ an (zum Vergleich: Österreich 92, Russland 186, Deutschland 525, Litauen 844).2 Lettlands Aussenminister Edgars Rinkēvičs betonte bei einer Zeremonie in der israelischen Botschaft in Riga am 1. Februar 2012, dass man stolz auf diese „Gerechten“ sein solle.3 Der bekannteste von ihnen ist Jānis Lipke (1900–1987), ein Dockarbeiter, der in Riga 1941–1944 zusammen mit seiner Frau Johanna über 50 Juden rettete.

 

Der lettische Zeithistoriker Prof. Aivars Stranga fast die Situation in Lettland unter der deutschen Besetzung so zusammen:

 

„In occupied Latvia, as in any other occupied country, there existed a full spectrum of attitudes toward the Jews: collaborationism with Nazis in the annihilation of Jews, indifference and different kinds of assistance. The two extremes, murders and rescuers, were absolute minorities. The absolute majority, the onlookers, gazed at the unprecedented crime with indifference, horror or helplessness.“4

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Eingang des Jüdischen Museums in Riga.

Im Oktober 1944 besetzte die Sowjetarmee ein Riga, in dem nur 170 Juden überlebt hatten. In den folgenden Jahren zogen Juden aus anderen Teilen der UdSSR in die Lettische Sowjetrepublik, so dass deren Zahl 1959 immerhin 36.600 (=1,75% der Bevölkerung) betrug.

Von einer Holocaustforschung, die diesen Namen verdient hätte, konnte in der Sowjetunion – und daher auch in der ihr angehörenden Lettischen Sowjetrepublik – überhaupt keine Rede sein. Offiziell wurde meist nicht einmal darauf hingewiesen, dass die Juden während des Zweiten Weltkrieges in den von den Deutschen besetzten Gebieten einzig und allein wegen ihrer Abstammung der Vernichtung preisgegeben waren (warum auch entsprechende Denkmäler fehlten); stattdessen sprach man konsequent – und scheinbar „neutral“ – von „Sowjetbürgern“. Diese Politik hatte mehrere Ursachen. Stalins Antisemitismus ist allgemein bekannt; zudem wollte die sowjetische Staatsführung auch nach seinem Tod (1953) angesichts ihrer explizit antizionistischen Politik Juden nicht als Opfer „gelten lassen“.5 Konsequent tilgte die sowjetische Politik „die Gestalt des Opfervolkes der nationalsozialistischen Genozidpolitik systematisch aus dem historischen Gedächtnis“.6 Hilfe für die lettischen Juden während des Weltkrieges war aus der Sicht der sowjetischen Behörden gänzlich bedeutungslos; einige Judenretter wurden sogar nach Sibirien deportiert bzw. in Gefängnisse gesperrt. Und es sind Biographien lettischer Juden bekannt, die das Ghetto von Riga überlebten, um dann noch mehrere Jahre in sowjetischen Lagern (Gulag) Zwangsarbeit zu verrichten.7

Ein offizielles jüdisches nationales und religiöses Kulturleben wurde vom Sowjetregime (auch) in Lettland nicht gestattet. Solche Aktivitäten liessen sich aber trotz aller Repressalien nicht völlig unterbinden: Die Lettische Sowjetrepublik wurde zu einem Zentrum der prozionistischen Dissidenten- und Nationalbewegung in der UdSSR. Jüdische Aktivisten traten für das Recht auf Ausreise nach Israel und für die Möglichkeit des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ein, gaben Untergrundschriften heraus, lernten „illegal“ Hebräisch und befassten sich mit der Geschichte ihres Volkes. In den 1970er Jahren wanderte etwa ein Drittel der Juden der Lettischen Sowjetrepublik nach Israel, in die USA und westeuropäische Länder aus.

Am Ende der 1980er Jahre ermöglichte die Liberalisierung in der UdSSR auch eine Wiedergeburt des jüdischen Lebens in Lettland. Einer ihrer bekanntesten Exponenten war Mavriks Vulfsons (1918–2004) von der Lettischen Volksfront, die sich die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands auf die Fahnen geschrieben hatte. Vulfsons stand auch an der Wiege der Gesellschaft für jüdische Kultur Lettlands, die im November 1988 in Riga ihren Gründungskongress abhielt und später zur Rigaer jüdischen Gemeinde umgestaltet wurde. 1989 öffnete in Riga die erste jüdische Schule der UdSSR ihre Pforten.

 

Forschung und Gedenken: Ausgewählte Aspekte

1990 entstand auf Initiative Vestermanis’ das erste jüdische Museum Lettlands. Im gleichen Jahr räumte das Parlament Lettlands (damals noch der Oberste Sowjet) in einer Deklaration die Teilnahme von Letten am Holocaust ein und verurteilte jeden Antisemitismus. Erst 1992, also schon in postsowjetischer Zeit, publizierte Vestermanis die erste seriöse Analyse des Holocaust in Lettland. 1998 richtete der damalgie lettische Staatspräsident Guntis Ulmanis eine Historikerkommission ein, deren Hauptaufgabe es sein sollte, zwischen 1940 und 1956 in Lettland begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit – und daher auch und gerade den Holocaust – zu untersuchen. 2001/2002 startete im Zentrum für Judaistik der Lettischen Staatsuniversität in Riga das Projekt „Jüdische Namen im Holocaust in Lettland“. Dazu kamen viele weitere Forschungsprojekte, Publikationen, Ausstellungen, Konferenzen usw. Daher kann keine Rede davon sein, dass der Holocaust in Lettland „kaum erforscht“ sei.

Das in einem kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichteten Gebäude in der Innenstadt von Riga untergebrachte Jüdische Museum kann weniger durch den Umfang seiner Sammlung beeindrucken denn durch die Tragweite der dargestellten Ereignisse. Es vermittelt das Leben der Juden in Lettland seit dem 16. Jahrhundert und natürlich den Holocaust.

Der Holocaust in Lettland wird in den Dauerausstellungen sowohl des Kriegsmuseums wie auch des Okkupationsmuseums, beide in Riga, thematisiert; Letzteres veranstaltet auch einschlägig relevante Schwerpunktausstellungen, so etwa „Rumbula. Autonomie eines Verbrechens, 1941“ (2011–2012). Als der Verfasser das Okkupationsmuseum besuchte, lag im Museumsshop auch das Buch „Österreichische Juden in Lettland“ auf.

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Sir Isaiah Berlin, Jüdisches Museum Riga.

4. Juli als lettischer Holocaust-Gedenktag

Die Peitav Schul ist das einzige jüdische Gotteshaus Rigas, das die deutsche Besatzung überlebt hat; alle anderen waren am 4. Juli 1941 in Brand gesteckt worden (daher ist im postsowjetischen Lettland der 4. Juli Holocaust-Gedenktag). Die Peitav Schul entging der Zerstörung nur deswegen, weil sie mitten in der Altstadt steht und man ein Übergreifen von Feuer auf Nachbargebäude befürchtete. Doch wurde sie während der deutschen Besatzung als Lagerraum missbraucht. Nach Kriegsende war die Peitav Schul eine der wenigen aktiven Synagogen der gesamten UdSSR; heute ist sie die einzige tätige Synagoge Rigas.

Am 4. Juli 1941 trieben lettische Nationalisten von der „Sicherungsgruppe Arājs“ nach verschiedenen Angaben zwischen 300 und 500 grösstenteils litauische Juden in die Grosse Choralsynagoge von Riga, vernagelten die Türen mit Brettern und zündeten das Gebäude an. Mit diesem Massenmord begann in Riga eine Welle von Pogromen, denen Hunderte weitere Juden zum Opfer fielen. Erst am 4. Juli 1988 wurde mit Genehmigung der sowjetischen Behörden an dieser Stelle ein grosser rauer Rundstein mit einem eingemeisselten Davidstern und dem Datum des Massenmordes aufgestellt. 1993 fand die Einweihung eines Mahnmals des Architekten Sergej Ryzh statt. 2001 legte man die Kellerräume und einzelne Seitenmauern der ehemaligen Choralsynagoge frei und widmete sie zu einem Denkmal für die Opfer des Holocaust um. In den wieder zugänglichen Kellerräumen wurde 2005/06 eine Gedenkstätte eingerichtet, die an die ermordeten Juden erinnert. Dazu kam 2007 auf dem Gelände ein Lipke und anderen Letten, die Juden geholfen hatten, gewidmetes Denkmal.

Das im September 2010 mit einer Aussenausstellung eröffnete, doch immer noch im Aufbau befindliche Ghettomuseum befindet sich im Stadtteil Spīķeri und damit an der Grenze zum Gebiet des ehemaligen Rigaer Ghettos. Man entschied sich bewusst dafür, das Museum ausserhalb des ursprünglichen Ghetto-Areals einzurichten, da dieses in einem Stadtbezirk liegt, der heute eine hohe Kriminalitätsrate aufweist.

Viele Jahre lang war der Platz des Massenmordes im Wald von Rumbula nicht markiert gewesen. Erst 1964 gelang es örtlichen jüdischen Aktivisten, den Widerstand der sowjetischen Behörden zu überwinden und die Aufstellung eines Gedenksteins mit der in drei Sprachen – Russisch, Lettisch und Jiddisch – gehaltenen Aufschrift „Für die Opfer des Faschismus“ zu erreichen. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde auf dem Gelände mit dem Bau eines Denkmals begonnen, am 29. November 2002 fand dessen feierliche Einweihung statt. Der zentrale Gedenkplatz beherbergt ein von Tausenden Steinen aus Granit umgebenes Mahnmal. Die Steine stehen, so wie die Menschen bei ihrer Ermordung, dicht nebeneinander. Die Steinkompositionen symbolisieren Familien – Eltern, die mit ihren Körpern ihre Kinder schützen, Brüder und Schwestern, die beieinander stehen. Und am 30. November 2001, nicht zufällig genau 60 Jahre nach Beginn der Deportationen nach Riga, wurde im Wald von Biķernieki ein Gedenkkomplex eröffnet.

 

Aktuelle Kontroversen

Seit 1990 finden am 16. März, dem „Tag der Legionäre“, Umzüge von lettischen Veteranen der Waffen-SS, statt. Immer wieder musste die Polizei eingreifen, um Zusammenstösse mit Gegendemonstranten zu verhindern. Russland, lettische Antifaschisten und jüdischen Organisation verurteilen den Marsch stets, und tatsächlich ist er durch nichts zu rechtfertigen und eine Schande für Lettland. Allerdings stellt sich die Frage, ob das offizielle Moskau tatsächlich in einer geeigneten Position ist, anderen postsowjetischen Republiken in Sachen Vergangenheitsbewältigung „gute Ratschläge“ zu erteilen. So ist Holocaustleugnung in Russland nicht verboten, und dort sind neben Zehntausenden Skinheads auch zahlreiche tendenziell oder manifest antisemitische Parteien und Bewegungen aktiv. Der Holocaust hat bis heute nur wenig Aufmerksamkeit in Politik, Medien und Wissenschaft Russlands gefunden, obwohl er sich zu einem erheblichen Teil auf seinem Gebiet (und in den damaligen Sowjetrepubliken Weissrussland und Ukraine) abgespielt hat.

In postsowjetischer Zeit hat Russland in Politik, Diplomatie und Wissenschaft nichts unversucht gelassen, um die Titularnationen der baltischen Staaten – und die Letten ganz besonders – als besonders willige Helfershelfer Hitlers auch beim Völkermord an den Juden darzustellen. Das aber zeugt weniger von einer wissenschaftlichen – oder wenigstens seriösen – Herangehensweise denn von einer Politisierung und Instrumentierung der auf den „Westen“ zielenden Komponenten der russländischen „Erinnerungsaussenpolitik“, denn der Holocaust spielt als Thema der nationalen Erinnerung in Russland bis heute kaum eine Rolle. Moskau geht es mit seinen Vorwürfen in erster Linie darum, die kleinen baltischen Staaten in Westeuropa und Nordamerika, wo man am Holocaust und seiner Erforschung erheblich mehr als in Russland interessiert ist, zu diskreditieren. Oft drängte sich auch der Verdacht auf, dass man in Russland die Weltkriegskollaborateure der „Anderen“ deswegen besonders lautstark anprangert, um von den „eigenen“ Kollaborateuren abzulenken. So sei an die „Russische Befreiungsarmee“ (nach ihrem Befehlshaber auch als „Wlassow-Armee“ bezeichnet) und die sogenannte (im Westen auch vielen Fachhistorikern unbekannte) im Südwesten Russlands 1942–1943 bestehende „Republik Lokot“ erinnert, die die Juden auf ihrem Territorium ganz ohne deutsche „Hilfe“ gnadenlos verfolgte und alle, denen sie habhaft werden konnte, umbrachte.

 

Anmerkungen

1  Latvia under the Role of the Soviet Union and National Socialist Germany. Museum of the Occupation of Latvia. Riga, 2008, S. 65.

2  About the Righteous, Statistics. <http://www1.yadvashem.org/yv/en/righteous/statistics.asp> (2.7.2013). Darunter sind allerdings lange nicht alle ethnische Letten, sondern auch Russen usw., vgl. Righteous Among the Nations Honored by Yad Vashem, 1 January 2013, <http://www.yadvashem.org/yv/en/righteous/pdf/virtial_wall/latvia.pdf> (2.7.2013).

3  Foreign Minister pays tribute to rescuers of Jews. Aussenministerium Lettlands, 1.2.2012, <http://www.am.gov.lv/en/news/press-releases/2012/february/01-9/> (2.7.2013).

4  Aivars Stranga: The Holocaust in Occupied Latvia: 1941–1945. In: The Hidden and Forbidden History of Latvia Under Soviet and Nazi Occupation 1940–1991. Selected Research of the Commission of the Historians of Latvia. Symposium of the Commission of the Historians of Latvia, Vol. 14. Institute of the History of Latvia. Riga, 2005, S. 161–174, hier S. 170.

5  Aleksandrs Ivanovs: Historiografie des Holocaust in Lettland. In: Stefan Karner, Philipp Lesiak, Heinrihs Strods (Hrsg.): Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung. Innsbruck, Wien, Bozen, 2010, S. 199–221, hier S. 201.

6  Il’ja Al’tman: Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941–1945. Gleichen, Zürich, 2008, S. 490.

7  Vgl. Jewgenij Salzman: Dieses bittere Glück. In: Ingrid Damerow (Hg.): „Von einer Hölle in die andere“. Jüdische Opfer im Nationalsozialismus und Stalinismus. Berlin, 2010, S. 83–187.

Alle Abbildungen: M. Malek, mit freundlicher Genehmigung.