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Freier Wille und die Grundlage verantwortlichen Handelns

Gemeinderabbiner Schlomo HOFMEISTER

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Kaum ein anderes weltanschauliches Konzept wird von Philosophen, Theologen und Psychologen, einst wie heute, derart intensiv und kontrovers diskutiert wie die Frage um die Fähigkeit des Menschen zur freien Willensentscheidung; eine Frage, deren Beantwortung keinesfalls nur von theoretischem Interesse, vielmehr für Ethiker sowie Juristen von tatsächlich praktischer Relevanz und aktueller Bedeutung ist.

Wenngleich es aus jüdischer Sicht seit jeher keinen Zweifel darüber gibt, dass jeder Mensch die prinzipielle Fähigkeit besitzt, freien Willen zumindest dort einzusetzen und das eigene Verhalten zu bestimmen, wo er sich eines Konflikts zwischen den religiösen, ethischen oder gesellschaftlichen Prinzipien und Wertvorstellungen auf der einen Seite und seinen menschlichen Schwächen auf der anderen Seite bewusst ist, und somit für sein Tun und Handeln moralisch und ethisch tatsächlich selbst verantwortlich ist, konzentriert sich die rabbinische Literatur seit der Antike in diesem Zusammenhang vor allem auf das scheinbare Paradox, welches sich aus dem freien Willen des Menschen in einer Welt der g-ttlichen Vorsehung ergibt. Sowohl im privaten Entscheidungsbereich des Individuums, als auch in gesellschaftspolitisch und historisch grösseren Zusammenhängen scheint nämlich sowohl das aktive Eingreifen G-ttes in dieser Welt als auch dessen uneingeschränkte und detaillierte Kenntnis über die Zukunft im Widerspruch zum freien Willen des Menschen zu stehen.

Eine einfache Erklärung löst diesen Konflikt zumindest teilweise, wenn wir uns daran erinnern, dass Hashem ausserhalb des Systems Zeit existiert und somit irdische Begriffe wie Vergangenheit und Zukunft für Ihn keinerlei Relevanz haben. Die dem jüdischen Weltbild jedoch integral zu eigene Überzeugung, dass G-tt in das weltliche Geschehen nicht nur theoretisch eingreifen könnte, sondern dies auch praktisch permanent tut, scheint aber dennoch mit dem freien Willen und der daraus resultierenden moralischen Eigenverantwortung des Menschen für sein Tun und Handeln unvereinbar zu sein. Oder sind Menschen - und ich spreche jetzt nicht von sozialen oder biographischen Faktoren - zumindest bisweilen nur bedingt entscheidungs- und handlungsfähig?

In der Tora sowie den Büchern der Propheten und Schriften (Tanach) finden wir eine Reihe von Begebenheiten, wo es zumindest so scheint, als hätte G-tt einzelnen Individuen, beziehungsweise auch grösseren Gruppen, die Fähigkeit zur freien Willensentscheidung entzogen. Eines der bekanntesten Beispiele ist wohl der ägyptische Paroh, von dem uns die Tora ganz unmissverständlich sagt, dass G-tt in dessen Hadern um die Gewährung der Bitte, die Kinder Israels ziehen zu lassen, eingriff, indem er „sein Herz verhärtete" - und nichtsdestoweniger wird Paroh für seine Unnachgiebigkeit in dieser Sache persönlich verantwortlich gemacht und bestraft, was wiederum die Grundannahme der Gerechtigkeit G-ttes in Frage stellt! Eine von vielen verschiedenen Erklärungen zu diesem philosophischen Dilemma bietet Rabbenu Mosche Ben Maimon (RaMBaM), bekannt als Maimonides, indem er darlegt, dass der uns allen gegebene freie Wille als Geschenk zu verstehen ist, welches uns jedoch auch wieder genommen werden kann, wenn wir es auf extreme Weise missbrauchen. Demnach wurde Paroh also nicht für seine Entscheidungen verantwortlich gemacht, die er traf, nachdem Haschem ihm seinen freien Willen nahm, vielmehr war dies und die daraus folgenden Konsequenzen die Bestrafung für seine bereits zuvor frei beschlossenen Untaten.

Ohne freien Willen wäre dem Menschen verantwortliches Handeln und somit Verantwortung für sein Handeln prinzipiell unmöglich. Wenngleich jedem Menschen die Fähigkeit gegeben ist, freie Willensentscheidungen zu treffen, kann er dies nur dann auch uneingeschränkt tun, wenn er frei ist und sein Recht auf persönliche Selbstbestimmung nicht durch physisch unüberwindbare gesellschaftliche Zwänge begrenzt ist. Im modernen westlichen Verständnis werden Begriffe wie Freiheit und Liberalismus häufig gleichgesetzt mit der Idee, dass jeder tun und lassen kann, was er will, wobei die Grenze des eigenen Tuns und Handelns lediglich dort beginnt, wo die Freiheit eines anderen verletzt wird. Wenngleich dieser Freiheitsbegriff, der ursprünglich auf den hohen gesellschaftlichen Idealen und Werten der Aufklärung begründet war - eingebettet in die damals nach wie vor starken religiösen und sozialen Konventionen des 19. Jahrhunderts - durchaus als zumindest minimalistische Basis einer menschlichen Gesellschaft funktionieren konnte, fördert er heutzutage, nach der weitgehenden Auflösung dieser damaligen Rahmenbedingungen, vielmehr das nicht selten egoistisch geprägte, zweifelhafte Ideal der individuellen Selbstverwirklichung und nur in den seltensten Fällen das soziale Engagement und ein menschliches Miteinander.

Verantwortungsvolles menschliches Verhalten ist in der Konsequenz nicht mehr länger selbstverständlicher Teil der humanen Würde und als obligatorisch angesehen, sondern lediglich eine freiwillige, und wenn überhaupt, dann sich meistens nur noch in selektiven Bereichen manifestierende Option. Wenn der Spielraum des eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhaltens lediglich vom staatlichen Strafgesetzbuch beziehungsweise den Persönlichkeitsrechten der Mitmenschen definiert wird, mutiert das Ideal der Freiheit zum wertlosen Selbstzweck, der den Sinn des Lebens entleert.

Jüdisches Freiheitsideal

Wie so viele unserer jüdischen Ideale und Vorstellungen, so steht auch unser traditionelles Verständnis von Freiheit der zeitgenössisch praktizierten Auffassung von Liberalismus diametral entgegen. Das jüdische Ideal von Freiheit bedeutet keineswegs, dass man tun und lassen kann, was man will, so, wie es einem gefällt, oder man es, unter der menschlichen Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse, für sich als richtiges Handeln rationalisiert - das ist nicht Freiheit (Cherut), sondern Willkür (Chofesch). Unter Freiheit verstehen wir genau das Gegenteil, nämlich die Fähigkeit, frei zu entscheiden, freien Willen (Bechira) zu üben und das zu tun, was wir tun möchten, wonach wir uns fühlen, oder eben das, was wir tun wollen, weil es unseren Überzeugungen und Wertvorstellungen nach das Richtige ist. Nicht, das zu tun, was unsere natürlichen, sozialen, wirtschaftlichen, biologischen oder egoistischen Bedürfnisse befriedigen würde, sondern genau diese zu überwinden und das zu tun, was unseren übergeordneten Werten und Idealen entspricht, das ist wahre Freiheit, das ist es, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Tiere sind in ihren Entscheidungen unfrei und vollständig ihren biologischen Trieben unterworfen. Zwar können Tiere durch gezielte Konditionierung an bestimmte Verhaltensabläufe gewöhnt werden, genauso wie das menschliche Verhalten durch kulturelle oder soziale Prägung einem ethisch-moralischen Wertesystem angepasst werden kann, weder das eine noch das andere hat jedoch irgendetwas mit Gewissensentscheidung und freiem Willen zu tun.

Im nicht-jüdischen Verständnis von Freiheit erscheint selbstverständlich alles, was irgendein menschliches Benehmen, Handeln und Tun als „falsch" oder „schlecht" einordnet, als Behinderung oder Limitierung von „Freiheit". Eine ablehnende oder gar antagonistische Haltung moralischen Wertsystemen gegenüber, insbesondere, wenn diese für sich eine transzendente Wahrheit beanspruchen, ist eine natürliche und psychologisch nachvollziehbare Reaktion - wenngleich sie in logischer Konsequenz zu Ende gedacht die Sinnlosigkeit unserer Existenz bedeuten würde. Aber weil dies den so denkenden Menschen jeder höheren Verantwortung seines Handelns entbindet, wird es gerne in Kauf genommen. Paroh ist der Prototyp eines solchen Menschen, der es vorzieht, sich auf eine Stufe mit den zur freien Willensentscheidung unfähigen Tieren zu stellen, um sich seiner menschlichen Verantwortung zu entziehen, indem er sich selbst zum Zentrum und Massstab seines eigenen Universums macht und geradezu krampfhaft seine Augen vor der tatsächlichen Realität verschliesst.

Pessach, „das Fest unserer Freiheit", ist, scheinbar paradoxerweise, vom Anfang bis zum Ende von unzähligen, insbesondere unsere Ernährung regelnden, und noch viel mehr als sonst einschränkenden, Vorschriften und Verboten dominiert. Und die Tora mit ihren 613 Geboten und Verboten, die sich in tausende praktische Details aufgliedern und jeden nur denkbaren Bereich unseres Alltags von morgens bis abends bestimmen und zu kontrollieren scheinen - und wie bereits erwähnt war die Gesetzgebung am Sinai der eigentliche Sinn der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, wenn es heisst: „Lass mein Volk ziehen, damit sie Mir dienen!" - was hat das alles mit Freiheit zu tun?

In den Sprüchen der Väter sagt Rabbi Elasar HaKappar: „Neid, Genusssucht und das Bedürfnis nach Ehre entfernen einen Menschen aus dieser Welt" (Pirkei Avot 4:21), und im Namen von Rabbi Jehoschua ben Levi lesen wir: „Kein Mensch ist so frei, wie derjenige, der sich mit dem Lernen der Tora beschäftigt!" (Pirkei Avot 6:2).

Eine Erklärung dieser Mischna-Zitate ist, dass diese allzu menschlichen, von Rabbi Elasar HaKappar erwähnten Triebe und Instinkte unsere objektive Sicht trüben, uns die weltliche Realität verzerrt erscheinen lassen und uns dadurch den freien Willen nehmen, in unserem Leben die richtigen Prioritäten zu setzen, und dadurch verhindern, dass wir unserer besonderen Aufgabe und Verantwortung als Menschen gerecht werden können: nämlich, dass wir, im Gegensatz zu Tieren, die Fähigkeit haben, uns bewusst gegen unsere egoistischen Bedürfnisse zu entscheiden und entsprechend zu handeln.

Die primitiven Triebe nach Genuss und Macht, deren ständige Bekämpfung Sigmund Freud in seiner Triebtheorie für das unausweichliche Schicksal des Menschen hält, sind für Rabbi Elasar HaKappar natürliche Herausforderungen, derer sich der Mensch jedoch durchaus entledigen kann, da sie nicht Teil des Menschen, sondern lediglich ein Produkt seiner Jezer Hora sind - jenes Triebes, der es uns immer wieder erschweren möchte, das Richtige zu tun, wenn es nicht unseren eigenen egoistischen Bedürfnissen entspricht. Und was können wir gegen die Jezer Hora unternehmen? „Schleppe ihn in das Beit HaMidrasch" (das jüdische Lehrhaus) (Sukkot 52b), denn „kein Mensch ist so frei, wie derjenige, der sich mit dem Lernen der Tora beschäftigt!" (Pirkei Avot 6:2). Rabbi Jehoschua ben Levi sagt uns, dass das Lernen von Tora die ideale Methode ist, jene menschlichen Triebe zu bändigen, die ansonsten unseren freien Willen limitieren und die Werte in unserem Leben von unserem Egoismus leiten lassen. Das authentische Lernen und Verständnis der Tora gibt uns eine andere Perspektive, die es uns ermöglicht das Ringen nach Genuss, Macht und Ehre bedeutungslos zu machen - und uns dadurch echte, persönliche und gesellschaftliche Freiheit in unseren Entscheidungen zu geben. 

Möge das diesjährige Pessach uns allen ein wahrhaftiges Fest der Freiheit sein, damit wir als freie Menschen der Verantwortung und dem Sinn unseres Lebens gerecht werden, unserem individuellen Beitrag leisten können, und damit, hoffentlich ... NÄCHSTES JAHR IN JERUSCHALAJIM!

Chag Sameach und Gut Jomtov wünscht allen Lesern,

Schlomo Hofmeister

Gemeinderabbiner von Wien