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Die virtuelle Rekonstruktion der Synagoge von Gablonz an der Neisse

Maciej Roman LAZEWSKI

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Mit der Aufarbeitung des Tempelbaus von Jablonec nad Nisou in der heutigen Tschechischen Republik erhält die Reihe der virtuellen Rekonstruktionen zerstörter Synagogen einen weiteren Baustein zur Aufarbeitung des sakralen Architekturnachlasses von Wilhelm Stiassny. Mithilfe der vorangegangenen Arbeiten1 konnten ein äusserst detailreiches Modell erstellt und wesentliche Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, welche wiederum Rückschlüsse auf die anderen Synagogen zulassen. Trotzdem verfügte der dreischiffige Bau auch über Eigenheiten, die ihn zu einemganz individuellen Projekt Stiassnys machten.

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Winteraufnahme der Synagoge vom Ufer der Neisse . Mit freundlicher Genehmigung: Mgr. Jan Kaspar, Staatliches Bezirksarchiv Jablonec nad Nisou.

Der industrielle Aufschwung Mitte des 19. Jahrhunderts von landwirtschaftlichen Gütern zu hochwertigen Glas- und Bijouterie-Erzeugnissen bedeutete einen rasanten Aufstieg für den damaligen Marktflecken Gablonz an der Neisse hin zu einer reichen Stadt mit Handelsbeziehungen in die ganze Welt. Diese Entwicklung ist stark mit dem Zuzug jüdischer Siedler verflochten, die durch ihre geschäftliche Umsicht und Tüchtigkeit der aufblühenden Gablonzer Industrie zu neuen Absatzmärkten verhalfen, und deren Verdienste um das gesellschaftliche Gemeinwohl in geschichtlichen Heimatschriften besondere Erwähnung fanden2.

Noch während die jüdischen Gottesdienste in privaten Räumlichkeiten zelebriert werden mussten, formierte sich die schnell anwachsende Glaubensgemeinschaft mit 1. September 1872 zum amtlich eingetragenen Kultusverein. Grossen Anteil daran hatte Daniel Mendl, der, als dritter jüdischer Zuwanderer 1856, sich zuerst in der Stadtverwaltung und später als langjähriger Kultusvorsteher rund um das Gemeindewesen verdienstlich machte und diese Funktion über 30 Jahre bis zu seinem Tode 1911 inne hatte.

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Schnitt durch den Vorplatz mit Blick auf die Vorderfassade auf die rekonstruierten Eingänge. Mit freundlicher Genehmigung M. Lazewski.

Den augenscheinlichsten Entwicklungsschritt machte die auf 750 Mitglieder angewachsene Kultusgemeinde, als sie 1891 - ein Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung - den Beschluss fasste, an den angesehen Wiener Architekten Wilhelm Stiassny heranzutreten, sich an der Ausarbeitung eines eigenen Tempelbaus für die jüdische Gemeinde zu beteiligen.

Der vielseitig um das Judentum engagierte k.u.k. Baurat Stiassny stellte der Gemeinde seine Pläne „uneigennützig"3 zur Verfügung und erdachte auf dem bescheiden bemessenen Bauplatz einen bestmöglich dem verfügbaren Baukapital entsprechenden4 rechteckigen solitären Bau. Die Grundstückslage befand sich in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum und fiel zum Neissetal ab, sodass insbesondere die südorientierte Apsis-Seite exponiert zum Flusstal hervorstach und in ihrem Unterbau die Besonderheit einer Wohnung für den Synagogendiener beherbergen konnte.

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Interpretation einer möglichen Deckenverzierung im Hauptraum. Rekonstruktion 2014. Mit freundlicher Genehmigung M. Lazewski.

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Impression einer möglichen Deckengestaltung über dem Almemor. Rekonstruktion 2014. Mit freundlicher Genehmigung M. Lazewski.

Einweihung 1892

Die am 28.September 1892 feierlich eingeweihte Synagoge ähnelte Stiassnys erhalten gebliebenen Gotteshaus von Malacky (dt. Malatzka), welches er fünf Jahre zuvor in der heutigen Slowakei konzipiert hatte, übertrumpfte jenes aber an Grösse und Pracht deutlich. Entsprechend seiner Idee und Verfechtung einer eigenen sakralen Architekturform für die Judenschaft kombinierte der Architekt verschiedene maurische Elemente miteinander. Die streifenverzierte Fassade besass zur Front hin zwei Seitenrisalite, auf denen prachtvolle Kuppeln mit Laternen und goldenen Davidsternen ruhten. Über dem Mittelportal im aufwendig verzierten Kranzgesimse prunkte der Psalm zum Tor der Gerechten.

Im Innenraum des Betsaals fanden 160 Männer auf den dunklen Holzbänken Platz, über welchen, auf eiserne Säulen gestützt, die Frauengalerie mit weiteren 120 Sitzen zur Verfügung stand. Die qualitativ äusserst gut erhaltene Innenraumfotografie5 zum Zeitpunkt der Einweihung offenbart ein besonderes Alleinstellungsmerkmal dieser Synagoge: Das Mauerwerk war schlicht in weiss belassen. Von farblichen Akzenten und Dekor wurde abgesehen, was zur hölzernen Einrichtung einen starken Kontrast bildete. Diese Eigenheit der Gablonzer Synagoge lässt die Frage aufkommen, ob dies willentlich geschah beziehungsweise, ob finanzielle oder terminliche Gründe während der Bauphase dazu geführt hatten.6 Zahlreiche Überstimmungen zeigen sich bei der Innenraumgestaltung im Vergleich mit den später errichteten Tempeln in der Wiener Leopoldsgasse sowie in Wiener Neustadt, wie beispielsweise der aufwendige Muschelbogen, der den Hauptraum vom Almemor trennte. Ein vergleichbar gestalteter Bogen ist heute immer noch in Stiassnys Prager Jubiläumssynagoge zu bestaunen.

Der Zerstörung und Verwüstung der Novemberpogrome entkam das Gotteshaus der Israelitischen Kultusgemeinde nicht, und so konnte der flüchtende Rabbiner Dr. Georg Vida einzig eine der ursprünglich neun wertvollen Thora-Rollen mit in die USA retten. Als absehbar war, dass seine Abreise sich aufgrund der Quotenregelung wesentlich problematischer gestalten würde, packte er die prachtwolle Kostbarkeit in einfaches Papier und schickte sie in einem schmalen Koffer Richtung Frankreich, an eine Lagerhalle. Dort lag sie fast ein Jahr lang unter einer Vielzahl anderer, niemals abgeholter Gegenstände im Depot, bis schlussendlich 1939 der Rabbiner und seine Familie mit ihr im Gepäck sicher in Amerika ankamen.

Zwar lassen sich einige Relikte, wie Vorhänge und Thora-Mäntel, heute der Jablonecer Synagoge zuordnen, aber bis auf Stiassnys Originalpläne und eine Handvoll historischer Fotografien zeugt heute wenig von dem einstigen Gotteshaus. Am ehemaligen Tempelstandort, der grossteils zum Parkplatz des danebenstehenden Glas- und Bijouterie-Museums umgewidmet wurde, steht zwar mittlerweile ein privat initiiertes Denkmal in versteckter Lage, jedoch führt die nebenan aufgestellte Infotafel zur Stadtgeschichte keine textliche Erwähnung zur abgebildeten Synagogenfotografie.

Die wenigen Bilddokumente und schwer interpretierbaren schriftlichen Zeugnisse lassen viele Frage unbeantwortet, jedoch brachte die daraus resultierende tiefgehende Auseinandersetzung mit den relevanten Vergleichsbauten im Gegenzug eine Wissensverdichtung rund um Stiassnys Schaffen. Insbesondere wäre damit der Grundstein für eine wesentlich verfeinerte Aufarbeitung und Wiedererlebbarkeit der Polnischen Schul in der Leopoldsgasse in Wiens zweitem Gemeindebezirk gelegt.

Als Verfasser des vorliegenden Projektes ist es mir ein Anliegen, der Leserschaft mein diesbezügliches Interesse zu bekunden. Da sowohl die technischen Voraussetzungen als auch der aktuelle Kenntnisstand der Thematik bestünden, sind es einzig die nicht vorhandenen finanziellen Mittel, die einer adäquaten Aufarbeitung der Leopoldsgasse im Wege stehen.

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Blick von der 1905 umgebauten Chorempore auf den Almemor. Rekonstruktion 2014. Mit freundlicher Genehmigung M. Lazewski.

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Abb. links: Kapitell der flankierenden inneren Thoraschreinsäulen. Rekonstruktion 2014. Mit freundlicher Genehmigung M. Lazewski.

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Wilhelm Stiassny, Originalplan der Synagoge Gablonz, Grundriss Erdgeschoss. Mit freundlicher Genehmigung: Ing. Monika Loupa, Mesto Jablonec n. Nisou, Pressestelle.

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Virtueller 3D Längsschnitt durch das Modell. Rekonstruktion 2014. Mit freundlicher Genehmigung M. Lazewski.

Literaturhinweise:

Lazewski Maciej Roman, Die Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge Jablonec nad Nisou, Diplomarbeit TU-Wien, 2014.

Tanaka, Satoko Dissertation „Wilhelm Stiassny (1842-1910), Synagogenbau, Orientalismus und jüdische Identität", Wien 2009.

Lhotova, Marketa; Kapitoly ze stavebniho vyvoje Jablonce nad Nisou: Synagoga a zidovsky hrbitov (deutsch: Kapitel der Bebauung von Jablonec nad Nisou: Die Synagoge und der jüdische Friedhof); Informační centrum Městského úřadu v Jablonci nad Nisou (Hrsg.), 2004, (auf Tschechisch mit kurzen deutschen Beschreibungen).

Link zum Video der Synagoge von Jablonec: www.Youtube.com (Suchbegriff Jablonec Synagoge).

 

Anmerkungen

1  Susanne Schwarz: Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Wiener Neustadt; Diplomarbeit TU-Wien, 2011;

Dipl.-Ing. Herbert Peter: Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Wien - Leopoldsgasse; als Teil des Forschungprojektes: Virtuelle Rekonstruktion der Wiener Synagogen

2  Adolf Lilie; Eine Heimatskunde für Schule und Haus. Der Politische Bezirk Gablonz; Gerichtsbezirke Gablonz und Tannwald (Hrsg.), Gablonz a. N., 1895, S.321

3  TANAKA, S.57; entnommen der jüdischen Österreichischen Wochenzeitschrift, 7.Oktober 1982, S.745

4  TANAKA, S.57; entnommen der Gablonzer Zeitung 4.November 1981, S.4

5  Zur Verfügung gestellt von: Mgr. Jana Nova, Glas und Bijouterie Museum J.n.N.

6  LHOTOVA, S.94; „[..] weil in anderen Synagogen Stiassnys Farben reichlich angewandt wurden."