Michael Bittner
Karl-Markus Gauß: Schuldhafte Unwissenheit. Essays wider Zeitgeist und Judenhass.
Wien: Czernin-Verlag 2025.
125 Seiten, Euro 23,00.-
ISBN 978-3-7076-0873-1
Ein neues Buch von Karl-Markus Gauß bietet immer Anlass zur Vorfreude, so viele interessante, lesenswerte Bücher hat er schon geschrieben. Auch auf das neue Buch habe ich mich gefreut - zu früh? Nein, es ist ein Buch, das nicht wie gewohnt das Produkt einer tiefgehenden Recherche ist, einer Reise zu den vergessenen Völkern Mitteleuropas oder die Abenteuerreise durch sein Zimmer. Vielmehr ist es eine Sammlung, die gerade noch rechtzeitig kommt, um die seit dem Massaker des 7. Oktobers grassierende Seuche des neuen Antisemitismus in die Schranken zu weisen. Gauß erweist sich als der Fels der Aufklärung in der Flut der heutigen Dummheit und Realitätsverleugnung. In den Essays, die zu unterschiedlichen Anlässen entstanden sind, positioniert er sich als Anwalt der – jüdischen – Opfer und Kämpfer gegen die antikolonialistisch-woke Leerkopfschar. Es tut gut, in Zeiten von Judith Butler und Konsorten Derartiges zu lesen.
Thematisch sind die Beiträge zum Buch vielfältig, das zentrale Ereignis ist das Hamas-Massaker, das gleich zu Beginn Thema ist, über die Erinnerung an Persönlichkeiten wie Jean Améry, Theodor Herzl oder Leopold Weiss, bis sich der Bogen beim letzten Beitrag thematisch wieder schliesst, den „ungeordneten Aufzeichnungen“ von 1923/24, wo der 7. Oktober und seine Rezeption wieder kommentiert werden. Eine sehr anregende Lektüre, wo Gauß fast nichts auslässt, was es zu den jeweiligen Themen zu sagen gibt, mir fehlen allerdings die Hiebe auf die UNO, die sie sich verdient hätte, und auf den staatlichen Medienkonzern, den man wegen Einäugigkeit schliessen sollte. Dessen Nahost-Korrespondent lässt keine Gelegenheit aus, den Alpenländlern den Konflikt aus der Sicht der Täter zu erklären. Die Lektüre der Gauß’schen Essays ist auch deshalb besonders lohnend, weil man eine Fülle von Details über die Personen erfährt, deren verschlungene Lebenswege beschrieben werden, Parallelitäten, die staunen machen und zu denken geben. Da steht ein phänomenales Gedächtnis dahinter, oder ein gut gefüllter Zettelkasten? Eigenartig berühren nur die Stellen, wo Gauß über sich selbst und seine Weltanschauung schreibt. Er kommt mir dabei vor wie Albert Einstein, der ausgerufen haben soll „G’tt würfelt nicht!“, als er daraufgekommen ist, dass der Alte würfelt. Der Autor teilt kräftig gegen die Linke aus und bezeichnet sich dennoch selbst als solchen. Könnte es sein, dass er – wie viele seiner Generation – ein Kreisky-Linker ist, eine aussterbende Spezies, die den Sozialismus mit Humanismus und Aufklärung verbinden wollte? Dass es ihm entgangen ist, dass die neue Generation von „linken“ Nichtdenkern stattdessen wieder zum Stalinismus zurückgekehrt ist? Was ist denn alles heute nicht verboten? Was darf man alles nicht sagen? Wie werden Rindfleisch, Diesel und das gute, billige Russengas aus ideologischen, nicht aus praktischen oder wissenschaftlichen Gründen verteufelt? Die Welt hat sich weitergedreht, in eine Richtung, wo die Aufklärung keine Chance mehr hat. Vielleicht schreibt Karl-Markus Gauß das nächste Buch zu diesem Thema?