Ein kulturhistorischer Ansatz
Gibt es einen „türkischen“ Antisemitismus? Die Türkei ist das letzte muslimische Land mit einer jüdischen Bevölkerung von noch knapp über zehntausend Personen. Während vor der Gründung Israels insgesamt rund 600.000 Juden in den nordafrikanischen Staaten inklusive Ägypten lebten, sind es jetzt nicht mehr als dreitausend. 1948 betrug ihre Gesamtzahl in den restlichen arabischen Staaten eine knappe Viertelmillion – und jetzt sind es sage und schreibe nur rund 500 (fünfhundert!). Der Iran beherbergte zur gleichen Zeit um die 140.000 bis150.000 Juden; heute ist diese Zahl ungewiss und wird auf etwa 10.000 bis 20.000 geschätzt. Wenn man von den ehemaligen Sowjetrepubliken Usbekistan und Kasachstan (mit einer jüdischen Bevölkerung von heute rund 3.000 beziehungsweise 2.500 Personen) absieht, scheinen sich nur die in Aserbaidschan wohnenden 7.000 bis 7.500 Juden noch wohl zu fühlen – in einem Land des Islam, das nach wie vor gute Kontakte zu Israel unterhält.
C.R.Atilhan – „Untergang der Zivilisationen“; Istanbul, 1963. Quelle: https://www.kitapyurdu.com/kitap/medeniyetin-batisi-2f59-/
397422.html&manufacturer_id=27440
Als Grund für das Dahinschmelzen der jüdischen Einwohner in allen muslimischen Ländern nennen Historiker einzig und allein ihre zunehmend psychisch und vor allem physisch gewalttätige Diskriminierung seitens der sonstigen einheimischen Bevölkerung, und zwar infolge der israelischen Staatsgründung und deren Sieg über die angreifenden arabischen Nachbarstaaten. Diese Art von aktivem Antisemitismus wird heute mit dem Begriff „ethnic cleansing“ (wenn nicht sogar „Holocaust“) bezeichnet – er fand aber damals noch nicht eine so prätentiöse Bezeichnung. Was waren die Gründe für einen ähnlich starken Rückgang der türkisch-jüdischen Bevölkerung in der gleichen Zeitspanne, nämlich von 1948 bis heute? Vielleicht auch ein paralleler Anstieg des staatlichen, „völkischen“ Antisemitismus – obwohl die Türkei eines der ersten Länder (mithin das einzige islamische Land) war, das 1948 die Staatsgründung Israels sofort anerkannte?
Eine umfassende Abhandlung – ist sie aber objektiv?
Der Ende 2023 in Deutschland erschienene Sammelband mit dem Titel Antisemitismus in und aus der Türkei, herausgegeben von Corry Guttstadt, stellt ohne Zweifel diese Behauptung auf.1 Dem gegenüber möchte der vorliegende Artikel aufzeigen, dass im erwähnten Sammelband der Themenkreis über einen Antisemitismus made in Turkey von der Vielzahl der dort versammelten Autoren fast ausschliesslich als eine quasi „erwartete“ positive (das heisst, für Juden negative) Meinung vorgebracht wird. Mit anderen Worten: Mehrere dieser Beiträge hätten, eventuell „auf Bestellung“, die Türkei sehr wohl als einzigen vorwiegend nicht-antisemitischen muslimischen Staat bezeichnen können. Oft zitierte Themen, etwa über die Aufnahme der iberischen Juden durch den osmanischen Sultan im Jahre 1492, die Einladung von unter anderem jüdischen Akademikern aus Nazi-Deutschland an türkische Universitäten ab 1933, sowie womöglich auch die kolportierte Rettung türkischer Juden aus mehreren Nazi-besetzten Ländern hätten hier sicherlich willkommene Kulissen abgegeben.
Wie in der Buchbesprechung erläutert, ist nicht zu leugnen und auch regelmässig visuell zu beobachten, dass vor allem seit der Schaffung des „Palästinenser“-Begriffs in den 1960er Jahren, aber besonders nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden brutalen Gaza-Krieg, der Antisemitismus in der Türkei zunehmend populär wurde, ja sogar „explodierte“. Ausgehend davon bietet dieser ausführliche Sammelband ein äusserst trübes Bild, vor allem für die im Lande noch verbliebene jüdische Restgemeinschaft, deren Lebensgewohnheiten dadurch jedoch nicht wesentlich beeinflusst werden, wie nach wie vor zu beobachten ist. Die vermehrte Abwanderung vor allem jüngerer türkischer Juden lässt sich vielmehr auf eine sich ständig verschlechternde lokale Wirtschaftslage zurückführen, mit rapid steigenden Lebenshaltungskosten vor allem im Erziehungsbereich, dessen Qualität jedoch ständig abnimmt. Um aber auf unser Thema zurückzukommen: Gibt es einen typischen und wesentlichen, dazu noch ansteigenden „türkischen Antisemitismus“?
Antisemitisches Titelblatt der Zeitschrift MİLLİ İNKİLAP, Istanbul vom 1.Juli 1934. Quelle: https://www.kitapyurdu.com/kitap/medeniyetin-
batisi-2f59-/397422.html&manufacturer_id=27440
Von den „Wurzeln“ zur Chronologie
Wenn man von den Topoi oder Motiven hierzu ausgeht: „primär religiös“ – „rassistisch/faschistisch“– „individuell“ – „Antizionismus“,2 lässt sich feststellen, dass a) die osmanische Bevölkerung viel zu illiterat war, um den (auf Arabisch gedruckten) Koran mit seinen judenfeindlichen Tiraden lesen zu können, und ausserdem ist die von den Katholiken geprägte „Erbsünde“ (Kreuzigung Jesu) im Islam nicht vorhanden; b) es damals kaum eine rassistische Hetze gab; c) Eifersucht oder Neid den jüdischen Händlern im Basar gegenüber, oder feindliche Einstellungen den Nachbarn gegenüber kaum existierten; aber d) eine Solidarisierung mit den arabisch „palästinensischen“ Volksgruppen Israel gegenüber durchaus immer stärkere Akzente bekam (kein Wunder – neben der gleichen Religion sind sogar die arabisch/türkischen Vornahmen fast identisch: Muhammed/Mehmet; Aysha/Ayşe; Hassan/Hasan; Fadime/Fatma und so weiter, und könnten gegebenenfalls Solidaritätsgefühle erwecken).
Weiters ist zu bemerken, dass die osmanische Staatsidee über Jahrhunderte eine „live and let live“-Politik beförderte: Solange die Juden (und andere ethnische Gruppen im Reich) keine staatsfeindlichen Bewegungen unternahmen, wurden sie als „Ungläubige“ zwar verachtet, aber mit einigen minimalen Restriktionen (wie etwa eine bestimmte Kleidung, das Verbot, auf Pferden zu reiten oder Häuser zu bewohnen, die mehr Etagen als jene von Muslimen hatten) keinesfalls diskriminiert oder gar verfolgt. Und tatsächlich erwies sich mit der Zeit, dass – im Gegensatz zu den lokalen Griechen und Armeniern – die türkischen Juden keinerlei staatsfeindliche Konspirationen oder Aktivitäten unternahmen. Andererseits lässt sich aber nicht leugnen, dass in der frühen türkischen Republik bei minderheitenfeindlichen Sanktionen (Vermögenssteuer 1942 und Pogrom vom 6. September 1955) die Juden auch direkt betroffen waren. Die einzige, unmittelbar gegen die türkischen Juden gerichtete Ausschreitung war ein zweitägiges Pogrom in einigen Städten von Thrazien (des europäischen Teils der Türkei, nahe zur griechischen Grenze). Somit lässt sich feststellen, dass sowohl in der spät-osmanischen als auch der 1923 ins Leben gerufenen republikanischen Türkei (mit Ausnahme Thraziens) jeglicher Antisemitismus schlichtweg „importiert“ wurde – oder als eine religiös „ansteckende Krankheit“ bezeichnet werden könnte.
„Juden unerwünscht“ bei einem Istanbuler Antiquariat – August 2024. Quelle: https://www.facebook.com/photo?fbid=2607837189405866&set=a.115124145343862
Fremde Einwirkungen
Derartige fremde Einwirkungen wären (chronologisch zusammengefasst) die folgenden:
Die im 19. Jahrhundert in Russland erschienene antisemitische Hetzschrift Protokolle der Weisen von Zion wurde erstmals 1934 vom türkischen Autor Cevat Rıfat Atilhan in der Zeitschrift Millî İnkilap unter dem Titel Enthüllungen über die Protokolle der israelitischen Herrscher veröffentlicht. Auch weitere Hetzschriften und Bücher (so etwa über die „Blutschande“) sollten bis zu seinem Tode 1967 folgen. Fast gleichzeitig erschienen judenfeindliche Artikel des türkischen Nazi-Bewunderers Nihal Atsız, die – gemeinsam mit den Schriften seines Kollegen Atilhan – anschliessend zu den Ausschreitungen in Thrazien führen sollten. Ebenso wurden jüdische Hetzbilder aus dem Stürmer und Völkischen Beobachter in den frühen 1940er Jahren unter anderem in der Istanbuler Humorzeitschrift Akbaba übernommen; in mehreren türkischen Tageszeitungen (wie etwa der führenden Cumhuriyet, herausgegeben vom notorischen Hitler-Fan Yunus Nadi) wurden ähnliche antisemitische Karikaturen sowie einschlägige (Leit-)Artikel veröffentlicht. In den folgenden Jahren – vor allem nach dem Tod Kemal Atatürks 1938 – wurden in mehreren Moscheen Predigten abgehalten, die das Judentum verteufelten und Djihad-ähnliche Rufe unter das „gläubige“ Volk streuten. Der jüngste „Import“ erfolgte ab 1967 mit der Herausbildung eines „palästinensischen“ Volks und dem Fall Jerusalems, der – vor allem vermittels der „Muslimbruderschaft“ den Ruf zum „Heiligen Krieg“ verstärken sollte. Besonders infolge des Gaza-Krieges wurden in İstanbul veraltete Nazi-Slogans wie Juden unerwünscht bei einigen Läden publik – was jedoch umgehend zu Verboten seitens der Stadtverwaltung führte!
Wie in mehreren Ländern sind heute allerdings auch in der Türkei am wirkungsvollsten mehrere populistische Parteiführer zu beobachten, die den Antizionismus als innenpolitisches Instrument einsetzen, um potentielle Wähler zu motivieren. In diesem Zusammenhang haben sich neue, teilweise auch „importierte“ Ideologien entwickelt, die Juden allgemein als internationale Verschwörer und virtuelle Feinde betrachten. Interessanterweise ist in den letzten Monaten eine Art von „Konkurrenz“ zwischen den grössten politischen Parteien darin zu beobachten, wer Israel am heftigsten kritisieren könne. Einschränkend ist jedoch zu erwähnen, dass Präsident Erdoğan in mehreren Ansprachen unterstrich, er unterscheide sehr wohl zwischen „unseren (den türkischen) Juden“ und der Gefolgschaft Benjamin Netanyahus – aber diese recht selten vorgetragene „Ausklammerung“ lässt den Antisemitismus anderer Politiker sowie in regierungsfreundlichen und sogar in oppositionellen Medien nicht schrumpfen.
Eine andere Beobachtung des Verfassers (der mithin 65 Jahre in Istanbul, grösstenteils im jüdischen Milieu, verbracht hat und seit seiner Emigration die Türkei regelmässig besucht) lässt sich wie folgt weiterleiten: Mit Ausnahme der Synagogen-Anschläge 1986 beziehungsweise 2003 (beide auch „importiert“: Abu Nidal ex Fatah beziehungsweise eine lokale Splittergruppe ex Al Qaeda) und einer Grabschändung sowie – was natürlich sehr schwerwiegend ist! – der brutalen Ermordung eines jüdischen Zahnarztes durch türkische Terroristen, nur weil er Jude war (wieder im Jahre 2003), gab es bisher kaum registrierte Fälle von Strassen-Antisemitismus, der unmittelbar vom türkischen Volk kommen würde – während er heute in europäischen sowie U.S.-amerikanischen Gross- und Kleinstädten fast zur täglichen Routine gehört. Folgender Ausspruch eines französisch-jüdischen Funktionärs bei einem Istanbul-Besuch vor rund zwanzig Jahren war für die jüdischen Gemeindemitglieder völlig ungewöhnlich, weil fremdartig: Er erzählte nämlich, die Pariser Juden könnten bereits damals ihre Kinder nur in jüdische Schulen schicken, weil sie sonst von andersgläubigen Mitschülern belästigt würden. So etwas war zu jener Zeit für türkische Verhältnisse unverständlich – und ist es heute noch!
„Having said all this“ (wie es so schön auf Englisch heisst) kann behauptet werden, dass weder in der osmanischen Bevölkerung noch in den darauffolgenden siebzig, achtzig Jahren ein geschichtlich fundierter, „eingefleischter“ oder vererbter, zu Gewalttätigkeiten gegen jüdische Institutionen führender türkischer Antisemitismus zu verzeichnen war – ganz im Gegenteil zum sogenannten zivilisierten Westen. Ob jedoch an diesen „gesunden Wurzeln“ infolge einer immerwährenden „Asymptote“ in Nahost noch weiter gerüttelt wird – und es somit zu einem kompletten Ende auch der türkisch-jüdischen Präsenz kommt, liegt derzeit noch im Unklaren.
Anmerkung
1 vgl. dazu auch den Beitrag Robert Schild: Antisemitismus in und aus der Türkei. Ein Sammelband, auf Seite 23.
2 vgl. Robert Schild: Der internationale Antisemitismus. In: DAVID, Heft 143, Chanukka 5785/ Dezember 2024, Online-Ausgabe: https://davidkultur.at/artikel/gastbeitrag-der-internationale-antisemitismus-rueckblick-und-ausblick