Diesen Titel habe ich vom verewigten Kunstkritiker der Presse, Kristian Sotriffer (1932 – 2002) geklaut. Er war ein genialer Rezensent, war mir sehr sympathisch, weil er Hundertwasser als das erkannte, was er war, doch bei Egon Schiele lag er völlig falsch. So eine Art Makart-Schicksal sagte er ihm voraus: hochgejubelt, wenig künstlerische Substanz, dann vergessen, verachtet.
Das Gegenteil von Sotriffers Prophetie ist passiert: Egon Schiele ist der Weltkünstler schlechthin geworden, seine Zeichnungen auf Packpapier bringen Millionenbeträge ein, er wird gefälscht, versteigert, von Museen präsentiert, von Erben zurückverlangt. Wenn das sein Neffe Anton Peschka jr. wüsste – er sagte mir einmal, dass seine eigenen Zeichnungen weitaus besser seien als die seines Onkels. Weltweit werden Ausstellungen von Schieles Werk gezeigt, momentan in der Neuen Galerie in New York, dem Verwahrungsort von Klimts „Goldener Adele“ („Egon Schiele: Living Landscapes“, bis 13. Jänner 2025).
Schiele war kein Jude, doch die meisten seiner Kundschaften stammten aus dem gehobenen jüdischen Bürgertum, das in der ausgehenden Franz-Joseph-Ära kulturell den Ton vorgab, als Kunstsammler, Mäzene und Förderer der Wiener Secession. Schieles Bruder im Geiste, Gustav Klimt arbeitete für dieselbe Klientel ebenso wie andere Avantgardisten, etwa Carl Moll, Richard Gerstl, Adolf Loos, Kolo Moser, Josef Hoffmann und die Wiener Werkstätte. Doch war dies kein allgemeiner „Goût juif“, wie man oft lesen kann, für Ludwig Wittgenstein und seine Schwester Margaret Stonborough war der Secessions-Stil zu altmodisch, für die Frau Pollak zu modern (sie bevorzugte bekanntlich Murillo).
Schieles jüdische Kundschaften waren eifrige Sammler, wie sein Zahnarzt Dr. Heinrich Rieger, dessen Kollektion von Schiele-Zeichnungen sich in Luft aufgelöst hat (vgl. Lisa Fischer, Irgendwo. Czernin-Verlag 2008). Der kunstsinnige Doktor tauschte Plomben gegen Zeichnungen, die er im Stiegenhaus aufhängte. Wenn allerdings die Klosterschwestern aus der Kenyongasse bei ihm erschienen, musste er sie abhängen. Nach der Arisierung durch zwei Kunsthändler galt der Grossteil seiner Sammlung als verschollen, doch manchmal tauchten dann Schiele-Zeichnungen aus der Sammlung Rieger im Leopold Museum beziehungsweise in einer geheimen Kollektion auf, der Versuch einer Versteigerung in London misslang und die Blätter verschwanden wieder. In Zeiten des Art-Loss-Register sind sie zum Kellerkinder-Dasein verdammt, wie auch andere Kunstwerke mit zweifelhafter Provenienz. So tauchte auf einer Kunstmesse in Wien im September 2024 plötzlich ein Schiele auf, ein Porträt des Dichters Carl Otten, Vorzeichnung für „Die Aktion“ Nr. 43/44 von 1917, der nicht im Katalog verzeichnet war und an dem die Galerie in ihrer Werbung beharrlich vorbei fotografierte, angeboten zu einem sehr günstigen Preis übrigens. Nach dem Ende der Messe verschwand er wieder.
Eine weitere arisierte Sammlung war die der Spiritusfabrikanten-Dynastie Lederer aus Györ, sie verdankte Klimt ja ein Familienmitglied, Schiele heftete sich an ihre Fersen und schickte dem wohlmeinenden Sohn unverlangt Zeichnungen, die umgehend bezahlt wurden. Die umfangreiche Kunstsammlung der Familie ging mit der Vertreibung verloren, immer wieder tauchten einzelne Gemälde wieder auf. Auch der berühmte Beethovenfries geht auf die Grosszügigkeit der Lederers zurück. Dafür bekamen sie auch 2018 eine Gedenktafel an ihrem Wiener Wohnhaus (Bartensteingasse 8), auf der steht, dass hier Klimt und Schiele oft zu Gast waren – wie eigenartig, Lederers Leistungen als Mäzene oder Unternehmer werden nicht genannt.
In den letzten Jahren waren die Erben nach dem legendären Komiker Fritz Grünbaum sehr erfolgreich, um einige seiner achtzig Schiele-Werke zurückzubekommen und damit grosse Kasse zu machen. Ob es sich um Raubkunst handelt oder nicht, ist Gegenstand jahrelanger Polemiken und Gerichtsverfahren, da der Verbleib der Sammlung in der NS-Zeit nicht geklärt scheint. Meist geben U.S.-Museen Bilder, die einst im Besitz von Opfern der Shoah waren, anstandslos zurück. Doch das Art Institute of Chicago weigerte sich – ein New Yorker Richter gab ihm recht (https://www.nytimes.com/2024/05/09/arts/design/egon-schiele-nazi-loot-court-case.html). Auch Albertina und Leopold Museum weigerten sich, ihre Bilder den Erben zu überlassen, die heute viele Millionen Dollar bringen würden – ohne die Preisexplosion der letzten zwanzig Jahre hätten die Restitutions-Anwälte vermutlich nichts zu tun.
Bei der hohen Bewertung der Schiele-Werke erhebt sich die Frage – warum gerade seine Zeichnungen? Ihre Qualität ist augenfällig, nur manche „Experten“ erkennen plumpe Fälschungen nicht, wie Jane Kallir vor einigen Jahren in Wien einsehen musste. Das inkriminierte Blatt war eine Moa-Tänzerin und Freundin von Erwin Osen s.A., mit freiem Auge als Aquarell eines Mittelschülers zu erkennen. Daneben sind auch sehr professionelle Fälschungen im Umlauf, vor Jahren wurde eine nur durch die Aufmerksamkeit einer Angestellten des Dorotheums erkannt – leider ging das Falsifikat verloren, nachdem Polizisten es aufs Autodach gelegt hatten (Abbildung 3). Es wird sicher wieder auftauchen!
Schieles Arbeiten haben einen eigenwilligen Strich und sind dadurch attraktiver als die von Klimt, der sich als Zeichner das Vorbild des Jüngeren nahm, es aber nie erreichte. Vor allem ist sein Werk überschaubar und abgeschlossen – wenn man mit 28 Jahren stirbt, kann man nicht so viel Unsinn produzieren, wie wenn man fast 94 wird („Schiele war nur ein bloody imitator von Klimt und mir“, polterte der alte Oskar Kokoschka). Überdies wurden Schieles Arbeiten in der NS-Zeit, wiewohl als „entartet“ verunglimpft, hoch bewertet, das Sammler-Märchen, man habe nach dem Krieg einen Schiele um 50 Schilling kaufen können, ist halt ein Märchen. Nicht einmal bei Willy Verkauf s.A., dem jüdischen Kunsthändler und Dadaisten in der Riemergasse, gab es das (hier bekam man um 50 Schilling einen Herzmanovsky-Orlando).
Mit einem Kunstwerk kauft man ja ein Stück des Künstlers mit; je wichtiger, je berühmter dieser ist, desto teurer. Schiele war ein Trendsetter, der den Expressionismus salonfähig machte, erotische Männerträume bediente und den Trend der Zeit zum Nudismus – man denke an Karl Diefenbach und Otto Mueller – ins Bild setzte. Dazu sein tragischer Lebensweg, sein „Leiden“, das sich aus den verquälten Selbstbildnissen erschliessen lässt, wenngleich als Vorlagen die Fotos von Verrückten aus der Salpetrière in Paris und die Posen seines Freundes Erwin Osen dienten. Seine Verurteilung wegen einer pornografischen Zeichnung, die er wie die kurze Haftstrafe genüsslich auskostete – er litt für die Kunst, es war wie ein Ritterschlag für ihn. Vom Militärdienst machte er sich noch frei, ein nervöser Magen (und Vitamin B) waren damals von Vorteil. Aber dann, nach so viel Glück – die Katastrophe, Tod der schwangeren Ehefrau, die Spanische Grippe, das Ableben von Gustav Klimt an einem Schlaganfall, sein eigener tragischer Tod durch die weltweite Seuche. Alle seine düsteren Vorahnungen der acht Jahre seiner Künstlerschaft waren plötzlich Realität geworden – ein unglaublicher Lebensweg, der den Wert des Künstlers in die Höhe treibt.
Seit Carl E. Schorske mit seinem Bestseller Fin de Siècle Vienna (1980) die Wien-Lawine losgetreten hat, ist Schiele weltweit präsent und seine Popularität steigert sich stetig. Galten die Akte früher als zu erotisch und wurden lieber versteckt, ist heute die Pornografie so allgegenwärtig, dass sich Schieles Selbst- und Mädchenakte harmlos ausnehmen. Kürzlich erschien ein neues Standardwerk über Aktzeichnung – am Cover prangt ein Schiele, kein Michelangelo (Abbildung 2). Bei der Pariser Kunstmesse sprach ich mit einem Galeristen, der sich auf Schiele spezialisiert hat und Frankreich als Hoffnungsmarkt ansieht – dieser Künstler passt genau in unsere Zeit, in der Erotik die Hauptrolle spielt.
Schiele war am Puls der Zeit und mit den richtigen Menschen am richtigen Ort – Wien, Klimt, Erwin Osen, Arthur Roessler, Otto Kallir. Posthum waren es Serge Sabarsky, Rudolf Leopold, Ronald Lauder und Jane Kallir, die seinen Ruhm mehrten. Schon zu Lebzeiten bekannt und geschätzt, entstand nach seinem frühen Tod die verkaufsfördernde Legende vom armen, unverstandenen Künstler, auch ein bisserl verrückt, eben ein österreichischer Van Gogh. So arm war der in Hietzing wohnhafte aber doch nicht, Gustinus Ambrosi schrieb, dass er der Leiche erst Masche und Kragen abnehmen musste, um die Totenmaske abnehmen zu können – Schiele wurde im Smoking bestattet.
Also noch einmal Schiele – aber es ist kein Ende in Sicht!
Foto Ingrid Bittner
Archiv Prof. J. Bittner