Ausgabe

Die jüdisch-spanische Schriftstellerin aus Sarajewo Laura Papo Bohoreta (1891–1942) Teil I

Anna Maria Grünfelder

Sefardin und Chronistin der jüdisch-spanischen Kultur in Bosnien und Herzegowina zwischen österreichisch-ungarischer Besatzung, Osmanischem Reich und dem Holocaust

Inhalt

Karl Markus Gauß, der Historiograf aussterbender ­europäischer Minderheiten, suchte auf seinen Entdeckungsreisen 1999–2000 in Bosnien und Herzegowina die Jüdische Gemeinde in Sarajewo auf, das ehemalige Zentrum des sefardischen Judentums. Heute gehören der Jüdischen Gemeinde in Sarajewo schätzungsweise einige hundert Personen an oder führen ihre Abstammung auf die Sefardim des einstigen Osmanischen Reiches zurück. Laura Papo Bohoreta (1891–1942), Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, Sammlerin und Bewahrerin der Sprache und des kulturellen Erbes des sefardischen Judentums in Bosnien und Herzegowina, musste nach dem Unabhängigkeitskrieg 1992–95 in Bosnien und Herzegowina erst (neu) entdeckt werden. Damit wurde auch die Erinnerung an die im 16. Jahrhundert aus Spanien und Portugal ins Osmanische Reich geflüchteten Jüdinnen und Juden wieder lebendig. 

 

Sefarden in Bosnien und Herzegowina

Bis zur Besetzung von Bosnien und Herzegowina durch Österreich-Ungarn (gemäss den Bestimmungen des Berliner Kongresses 1878) lebte die jüdische Bevölkerung in den osmanisch-muslimischen Städten der Balkanhalbinsel zurückgezogen, als isolierte Minderheit neben der mehrheitlich slawischen Bevölkerung. Jüdische Niederlassungen auf dem Balkan hatte es bereits seit den römischen Feldzügen und seit den osmanischen Eroberungszügen gegeben. Juden aus Spanien und Portugal kamen als Flüchtlinge der Rekatholisierung Spaniens, die von den Katholischen Königen 1492 angestossen wurde. Sultan Bayezid II. nahm diese Flüchtlinge grossherzig auf, zumal er in ihnen einen nicht nur materiellen, sondern auch geistigen und kulturellen Nutzen erkannte. Schon im 16. Jahrhundert wurde in Sarajewo eine sefardische Gemeinde gegründet, die nicht nur religiöse Funktionen wahrnahm, sondern auch als Vertreterin ihrer Mitglieder vor der weltlichen Macht fungierte. Die Sefarden in Sarajewo sowie in kleineren Städten – Visoko, Banja Luka, Mostar, Travnik – bauten in diesem Land, das von den osmanischen Beamten nur verwaltet, aber nicht entwickelt wurde, das Bankwesen, den Handel und den Geldverkehr auf. Von Anwälten, Ärzten, Apothekern bis zu Beamten und verschiedenen Gewerben und Handwerksberufen waren alle sozialen Schichten vertreten. Die Infrastruktur hatte bereits bestanden, als die jüdischen Flüchtlinge aus Spanien und Portugal eintrafen. Diese brachten als ihre Sprache „Ladino“ oder „Jüdisches Spanisch“ mit, das zahlreiche lokale Varianten aufwies, zudem mit hebräischen Worten und Entlehnungen aus den lokalen Dialekten im Osmanischen Reich durchsetzt war, aber trotzdem als „lingua franca“ der Sefarden von Bosnien und Herzegowina verstanden und gesprochen wurde. Allerdings blieb diese Sprache den nichtjüdischen Einwohnern fremd. Die Sefarden isolierten sich in ihren Wohngebieten, in ärmlichen Wohnungen, denn die Flüchtlinge von der Iberischen Halbinsel hatten nur wenig Eigentum mit auf die Flucht nehmen dürfen. Hier hatten auch die muslimischen Richter Verständnis für sie, wenn sie die Pflichtabgaben für nichtmuslimische Mitbewohner schuldig blieben.

 

Bescheidene bis ärmliche Lebensbedingungen und Isolation kennzeichneten das sefardische Judentum im osmanischen Paschalik Bosnien und Herzegowina. Sie unterhielten dort, wie es ihrer Tradition entsprach, nur Talmudschulen, die nur von Jungen besucht werden durften. Nur wenige Talmudlehrer konnten zusätzlich die Sprache des Osmanischen Reiches lehren und Sachkundeunterricht bieten. Die „spaniolischen“ Juden unterschieden sich daher von den alteingesessenen sefardischen Juden des Osmanischen Reiches – nicht nur durch ihre kulturelle und gesellschaftliche Isolation, sondern auch durch ihren Mangel an Bildung und ihre Traditionsverhaftung. Jungen konnten zur Schule gehen; Mädchen lernten von ihren Müttern und weiblichen Vorfahren sowie Nachbarinnen die mündliche Überlieferung kennen. Die lokalen Dialekte nahmen überhand. In diesen wurden mündlich Volkslieder und Märchen überliefert. Die habsburgischen Besatzer führten in Bosnien und Herzegowina die allgemeine Schulpflicht, also die Grundschulbildung im Ausmass von fünf Jahren und gleicherweise für Jungen und Mädchen ein. Sie richteten in der Hauptstadt Sarajewo und in grösseren Märkten und Ortschaften Mittelschulen ein, die grundsätzlich auch Mädchen zugänglich waren. Auch für junge Juden, zumal für nichtreligiöse, und Juden in der Provinz  eröffneten die staatlichen Mittelschulen eine Perspektive, so dass eine berufliche Zukunft auch ausserhalb der Thoraschulen möglich wurde. 

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Laura Papo Bohoreta. Foto: Mit freundlicher Genehmigung des Jüdischen Historischen Museums (Jevrejski Istorijski muzej), Beograd.

 

Herkunft

Laura Papo Bohoreta wurde zu ihren Lebzeiten bekannt und berühmt, weil sie von dieser „Zeitenwende“ in Bosnien und Herzegowina profitieren konnte und ihre Chancen wahrnahm. Eine Sefardin spaniolischer Vorfahren, die aus den Traditionen ihrer Herkunft ausbrach – nicht in jedem Fall nur freiwillig, sondern gezwungen durch die Wirtschafts- und politische Krise im Osmanischen Reich (dem „kranken Mann am Bosporus“) den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit mit der Weltwirtschaftskrise, zudem durch die frühe Erkrankung ihres Ehemannes, so dass sie alleine für ihre beiden Söhne verantwortlich war.

 

Laura, die ursprünglich Luna genannt wurde (sie selbst übersetzte „Luna“ mit Laura) wurde 1891 im „Judenviertel“ von Sarajewo in enger Nachbarschaft der Moscheen geboren. Dieses Viertel, nach der abschätzigen Bezeichnung „Cifut“ (für „Jude“) die “Cifutana“ genannt, war zwar kein Ghetto, wohl aber ein „Armenviertel, in dem die Juden als Nichtmuslime, „Zugewanderte“ und grösstenteils „Habenichtse“ lebten. Luna-Laura, älteste Tochter des Ehepaares Juda Leon und Estera (geborene) Levi, erhielt traditionsgemäss den Zunamen „Bohoreta“, „Erstgeborene“ oder „Älteste Tochter“. Der Vater war als Gemischtwarenhändler nur mässig erfolgreich, sodass die insgesamt sieben Kinder – zwei Söhne und fünf Töchter – in sehr bescheidenen Verhältnissen aufwuchsen. Die Eltern zog es 1900 nicht in eine der sich entwickelnden Industrieregionen der Heimat, sondern nach Istanbul. Dort hoffte der Vater, in der mondänen Grossstadt mit einem Modegeschäft zu reüssieren, doch das erfüllte sich nicht. Nach acht Jahren gab Vater Levi seine Pläne auf und kehrte mit der Familie nach Sarajewo zurück.

 

Ausbildung

Luna-Laura Bohoreta, die bereits von der allgemeinen Schulpflicht in der Heimat profitiert hatte, konnte in Istanbul das Gymnasium der Alliance Israélite Universelle besuchen. Diese internationale jüdische Organisation, gegründet in Paris nach öffentlichen Diskreditierungsversuchen gegen Juden, finanziert von Baron Maurice de Hirsch, engagierte sich zum Schutz der Grundrechte und bürgerlichen Rechte von Juden, wobei dem Schulwesen bis zu Reifeprüfungen und Studienzugang besondere Förderung zuteil wurde. Die Alliance war im Nahen Osten und in Nordafrika zum Schutz der Juden gegen die Attacken von Arabern, sowie im gesamten Osmanischen Reich tätig. Die Unterrichtssprache war Französisch, denn die jüdischen Schüler sollten mit der französischen Sprache auch die französische Kultur unter der jüdischen Bevölkerung verbreiten. Luna-Laura konnte nach dem Abschluss der achtjährigen Höheren Schule der Alliance in Istanbul ein Stipendium für einen Sommerkurs in Paris und damit die Qualifikation als Lehrerin der französischen Sprache für Ausländer erwerben. Wie ihre ersten Übersetzungen aus dem Französischen in Ladino zeigen, lernte sie gleichzeitig Englisch – eine damals in Sarajewo von nur wenigen Personen beherrschte Sprache. 

 

Erste Werke 

Auf Englisch verfasste Luna-Laura ihre Glossen zum französischen Original von Jules Vernes Roman Les enfants du capitaine Grant, der in ihrer Ladino-Übersetzung unter dem Titel Las kriaturas del capitan Grant (erst nach ihrem Tod) veröffentlicht wurde. Dank ihrer Bildung trat sie, in ihren eigenen publizistischen Versuchen, der Auffassung entgegen, die Einwohner des von den Osmanen und der türkischen Kultur geprägten Bosniens hätten bis zur österreichisch-ungarischen Besetzung des Landes nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch in kultureller Isolation gelebt. Sie sprach sich dankbar und anerkennend für die Leistungen Österreich-Ungarns in Bosnien aus, wollte aber auch der Osmanischen Herrschaft Dankbarkeit bekunden, weil diese die sefardischen Flüchtlinge gastfreundlich aufgenommen hatte.

 

1908 verfasste Luna-Laura ihr erstes Theaterstück, Elvira, das sich an das Drama der Französin Delphine Girardin, La joie fait peur anlehnte. Delphine de Girardin (1804–1855), Zeitgenossin und Freundin von Victor Hugo, Alfred de Musset und Honoré de Balzac, hatte eine Sammlung von Sketches unter dem Titel Lettres parisiennes (1843) und eine weitere, Il ne faut pas jouer avec la douleur (1853) verfasst. Luna-Laura übersetzte beides und entnahm daraus Versatzstücke für ihr eigenes Theaterstück, La joir fait peure – La alegria espanta. Es handelt sich bei diesem Stück allerdings nicht um ein Drama mit einer konsistenten Handlung, sondern um einen Dialog junger Mädchen über Zukunftspläne: Ihre Zukunft stellen sie sich ganz anders vor als das Leben ihrer Mütter, weiblichen Familienangehörigen und Bekannten – keinesfalls als brave und fleissige Hausfrauen, rund um die Uhr um das Wohlergehen ihrer Familie besorgt, zudem in Ehrenämtern sozial für ihre Nachbarn und Bekannten tätig, während ihre Freizeit den Erzählungen und dem gemeinsamen Gesang mit den Nachbarn gehörte. Lauras Botschaften aus diesem „Drama“ und aus gleichzeitig verfassten Kurzgeschichten: „Plant Eure Zukunft. Interessiert Euch, bildet Euch.“

 

Ein weiteres Stück aus ihrer Feder, Linda Namer, klagt über die Ungerechtigkeit der jüdischen Gesellschaft, armen Mädchen die Schulbildung vorzuenthalten. Sie appelliert an die jungen Mädchen, zwar ihre Pflichten in der Familie nicht zu vernachlässigen, aber ihre Freizeit zur Weiterbildung zu nützen. Dieser Text stammt aus dem Jahre 1919, dem Jahr, in dem Luna-Lauras Vater starb und ihr Mann, David Papo (den sie 1916 geheiratet hatte), erste Symptome einer Geisteskrankheit aufzuweisen begann (ihre Familienangehörigen glaubten, es handle sich um das damals bereits bekannte Posttraumatische Belastungssyndrom, PTBS, das er als Soldat an der Serbischen Front davongetragen haben musste. Späteren Erkenntnissen zufolge handelte es sich um eine unheilbare Psychose, an der er wenige Jahre später verstarb). 1918 wurde Luna-Lauras erster Sohn, Leon, geboren, ein Jahr später der zweite Sohn Bar-Kohbu, genannt Koki.

Der Text selbst, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem Dachboden des ehemaligen Elternhauses von Luna-Laura entdeckt, erwies sich nach Durchsicht der Literaturhistoriker des Archivs der Stadt Sarajewo als unvollständig – entweder durch unsachgemässe Eingriffe Unbekannter, oder nicht vollendet infolge der familiären Belastungen durch die beiden Kleinkinder und die Erkrankung des Ehemannes. In der 2016 veröffentlichten, ersten kritischen Biografie bezeichnet deren Autorin (Jagoda Večerina Tomaić) das Werk als die tiefgründigste Auseinandersetzung mit der Frauenfrage, wie sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, während des Zusammenbruches jahrhundertealter Herrschaftsstrukturen, in der Modernisierung und Industrialisierung, in den Wirtschafts- und politischen Krisen zwischen mehreren Generationen entwickelte. 

 Anmerkung der Autorin

Die Fotos zur Illustration dieses Beitrags stammen aus dem „Literaturbestand“ des Jüdischen Historischen Museums Belgrad (Jevrejski Istorijski muzej, Beograd, JIM), dem auch für die Erteilung der Genehmigung zur Wiedergabe im DAVID gedankt wird.

 

Die Fortsetzung dieses Beitrags lesen Sie in DAVID, Heft 146, Rosch Haschana 5786/September 2025.