Ruth Contreras und Dr. Jasmin Freyer bewahren Erinnerungskultur im 10. Bezirk
Das jüdische Leben in Favoriten ist ein kaum sichtbares Kapitel der Wiener Stadtgeschichte. Die Autorin Ruth Contreras hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Kapitel mit Akribie, Empathie und wissenschaftlicher Sorgfalt wieder ans Licht zu bringen. Ihr Gedenkbuch Das Jüdische Favoriten ist weit mehr als eine historische Aufarbeitung – es ist ein eindringlicher Appell an Erinnerung, Verantwortung und Menschlichkeit. Unterstützt wurde sie unter anderem von Dr. Jasmin Freyer, Kultusvorsteherin der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG Wien), deren eigene Familiengeschichte im Buch eine berührende Stimme erhält.
Die Firma A. Lehrer & Hübler bei einer Käsemesse, 1936. Die Schwestern Helene und Paula Lehrer betreuen den Käsestand und präsentieren ihre Waren.
Spurensuche mit Haltung und Herz
Ruth Contreras’ Werk zeichnet nicht nur den Aufstieg und die Zerstörung einer lebendigen jüdischen Gemeinde im 10. Wiener Gemeindebezirk nach, sondern verwebt diesen historischen Bogen mit zeitgeschichtlicher Reflexion. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Verfolgung und den Widerstand der Jüdinnen und Juden während der NS-Zeit. Die massenhaften Deportationen – etwa aus dem jüdischen Altersheim in Favoriten – sind ebenso dokumentiert wie die Geschichten von Überlebenden, Rückkehrern und ihren Nachkommen.
In den Interviews, die Contreras für das Buch führte, kommen unter anderem Dr. Jasmin Freyer, Erica Fischer, Margit Fischer und Ruth Wodak zu Wort. Diese Stimmen geben dem Buch eine emotionale Tiefe, die über die reine Faktenlage hinausgeht. Gerade Dr. Freyer, deren familiäre Wurzeln in Favoriten liegen, schildert eindrucksvoll, wie wichtig es ist, die Geschichten der „zweiten und dritten Generation“ sichtbar zu machen. Ihre Perspektive verleiht dem Buch nicht nur Authentizität, sondern auch Aktualität – gerade in Zeiten, in denen Antisemitismus wieder spürbar zunimmt.
„Delikatessenhandlung zum Schweizer–Abraham Lehrer“. Zwecks Geschäftsvergrösserung bereits zum zweiten Mal innerhalb Favoritens umgesiedelt: Quellenstrasse 131, 1100 Wien um 1920. Am Foto rechts Max Hübler, daneben seine Schwiegermutter Marie Lehrer, seine Ehefrau Helene mit der jüngeren Schwester Paula. Die Kashrut hat bei der jüdischen Familie Lehrer-Hübler offenbar keine Rolle gespielt. Milchiges und Fleischiges, vor allem Schweinefleisch, wurden im Geschäft angeboten. Verkauft wurden Krakauer Klobassen sowie polnische und ungarische Salami. Eier und Butter wurden täglich frisch angeliefert. Der Käse kam von den Sennereien Tirols.
Eine tragische Parallele: Erinnerung im Schatten von Terror
Die Veröffentlichung des Buches fällt in eine Zeit, in der jüdisches Leben erneut Ziel von Hass und Gewalt wurde. Der 7. Oktober 2023, an dem Hamas-Terroristen ein Massaker in Israel verübten, liegt wie ein dunkler Schatten über der Gegenwart. Ruth Contreras schlägt eine erschütternde Brücke zwischen der Reichspogromnacht 1938 – als unter anderem der Favoritner Humboldttempel zerstört wurde – und der jüngsten Schändung der Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof am Wiener Zentralfriedhof im November 2023. Die Parallelen sind bedrückend und unterstreichen, warum dieses Buch gerade jetzt notwendig ist.
Historie mit Tiefgang: Vom 17. Jahrhundert bis zur Shoah
Der historische Teil des Buches reicht zurück bis ins 17. Jahrhundert, als in Unterlaa erste jüdische Familien nachweislich siedelten. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine florierende jüdische Gemeinde mit eigenen Betstuben und dann schliesslich dem imposanten Humboldttempel, einem Meisterwerk des Architekten Jakob Gartner. Contreras schildert anschaulich, wie jüdische Ärztinnen, Unternehmer, Lehrerinnen und politische Aktivisten das Leben im 10. Bezirk prägten. Die jüdische Bevölkerung war wichtiger Bestandteil der Nachbarschaft – in Schulen, auf Märkten, in Vereinen. Trotz wachsender antisemitischer Tendenzen – etwa infolge des Tiszaeszlárer Prozesses 1882 – blühte das jüdische Leben bis zum Jahr 1938. Dann wurde es mit brutaler Gewalt ausgelöscht. Ruth Contreras schildert nicht nur die Geschichte der Zerstörung, sondern auch die der Resilienz, und sie dokumentiert Rückkehr und Wiederaufbau, Verlust und Neuanfang.
Das Delikatessengeschäft meines Ur-Ur-Grossvaters Abraham Lehrer in der Quellenstrasse 60, 1100 Wien, um 1905. Für die Favoritner Bevölkerung war das Warenangebot erstaunlich vielfältig: Geflügel, Eier, Salami, Butter, Senf, Schinken, Tee, Gurken, Quargel, Sardinen sowie weitere Fischsorten und vor allem Käse. Zu der Zeit betrieb Abraham Lehrer bereits eine Filiale in der Arbeitergasse 11 im 5. Bezirk. Rechts neben Abraham (weisser Kittel, Hand vor dem Gesicht) steht meine Ur-Ur-Grossmutter Marie (geb. Steiner aus Szolnok, Ungarn). Links von Abraham steht einer seiner Söhne, Joseph Lehrer, den alle Pepi nannten. Im April 1944 wurde er von Drancy ins KZ Auschwitz überstellt und war bis zur Befreiung am 27.01.1945 auf dem Todesmarsch. Pepi überlebte, heiratete ein zweites Mal und gründete in Frankreich eine Familie. Pepi war in Wien mit Margaretha Schorr liiert, die 1944 ins KZ Auschwitz deportiert und dort vergast wurde.
Erinnern heisst handeln
Das Jüdische Favoriten – Ein Gedenkbuch ist ein stilles Mahnmal aus Papier, das durch persönliche Berichte und historische Tiefe besticht. Die intensive Mitarbeit und das persönliche Engagement von Dr. Jasmin Freyer verleihen dem Projekt besondere Relevanz. Sie steht exemplarisch für eine neue Generation, die die Geschichte ihrer Vorfahren nicht nur bewahren, sondern auch aktiv in gesellschaftliche Diskurse einbringen will. In einem Bezirk, der bis heute von Migration geprägt ist, ruft dieses Werk zur Verantwortung auf: zur Wachsamkeit, zur Solidarität, zum Schutz jüdischen Lebens – damals wie heute. Die Stimmen der Vergangenheit, die Ruth Contreras eingefangen hat, sind kein Echo, sondern ein Ruf: Nie wieder darf jüdisches Leben ausgelöscht werden.
Fazit
Mit Das Jüdische Favoriten gelingt Ruth Contreras ein bedeutendes Stück Erinnerungskultur. Es ist ein historisches Werk, ein persönliches Zeugnis und ein politisches Statement zugleich – getragen von Menschen wie Dr. Jasmin Freyer, die Erinnerung nicht als Pflicht, sondern als moralischen Kompass verstehen. Ein Buch, das nicht nur gelesen, sondern diskutiert, weitergegeben und bewahrt werden sollte.
Nachlese
Ruth Contreras: Das jüdische Favoriten. Ein Gedenkbuch.
Wien: Mandelbaum Verlag 2025.
316 Seiten. Euro 26,00.-
ISBN-10: 3991360799
ISBN-13: 978-3991360797
Alle Abbildungen: Jasmin Freyer, mit freundlicher Genehmigung.