Ausgabe

Rosch Chodesch bei der Westmauer

Roger Reiss

Ein besonders weiblicher Tag: Die Rosch Chodesch-Gruppe Women of the Wall. Frauengebete unter dem Himmel Jerusalems

Inhalt

Rosch Chodesch (wörtlich „Kopf des Monats) ist der erste Tag des jüdischen Monats; er beginnt am Neumond. Der genaue Zeitpunkt ist nach der klassischen Definition das Sichten des Neulichtes (Molad), also dann, wenn die finstere Phase des Neumondes gerade vorbeigeht. 

 

Der lunisolare Kalender

Schon während der Nomadenzeit hatten die Israeliten den zu- und wieder abnehmenden Mond als Zeitmesser benutzt. Bis ins 4. Jahrhundert setzte der Sanhedrin, die Exekutive des Rabbinats, den Neumondtag (Rosch Chodesch), den Tag der Feste des folgenden Monats, fest. In der Praxis mussten zwei vom Sanhedrin bestimmte Zeugen die „wachsende Mondsichel“, eigentlich 29 Tage seit dem letzten Ereignis, im Freien beobachten. Dementsprechend ist der jüdische Kalender rund um den „Mondzyklus“ herum konstruiert, daher spricht man auch von einem „gebundenen Mondjahr“ oder „lunisolaren“ Jahr. Aus biblischen Gründen, nach denen die drei Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot zu den korrespondierenden Jahrzeiten gefeiert werden sollten, wird der Zwölf-Monats-Mond-Kalender durch sporadische Einschaltungen – mittels Einführung eines zusätzlichen Monats – angepasst. Um diesen Zeitunterschied zu kompensieren, erfolgt in neunzehn Jahren sieben Mal – im Zeitraum Februar/März – kurz vor Beginn des einsetzenden Naturzyklus ein zusätzlicher Monat – Adar Scheni. Die Praxis, den Rosch Chodesch in den Synagogen des vorangehenden Schabbats anzukündigen, hat sich bis in unsere Zeit erhalten. Und wieder einmal mehr hoffen wir am Neumondtag auf einen guten, gesegneten, friedlichen und erfolgreichen Monat. 

 

Die Rosch Chodesch-Gruppe: Unter dem Himmel Jerusalems

Seit 1967, nach der Rückeroberung Ost-Jerusalems und der Kotel-Befreiung (ha-Kotel ha-Ma’aravi, umgangssprachlich „Westmauer“ genannt), nehmen heute vermehrt Gebetsgänger die Gelegenheit wahr, am monatlichen Morgengebet von Rosch Chodesch mitzumachen. Die achtzehn Meter hohe historische Westmauer des Tempelberges ist ein lebendiger Überrest des Zweiten Tempels (um 515 v.u.Z – 70 u.Z.), der heiligsten Stätte des Judentums, der die Zerstörung durch römische Truppen überlebt hat. Um mit dem riesigen Zustrom zu Rande zu kommen, wurde über die Jahre hinweg der Vorplatz der Westmauer in zwei riesige Sektoren eingeteilt. Der grosse Teil ist für die Versammlung zum täglichen Gebet der Männer reserviert, das am Neumondtag mit viel Andacht von einander abwechselnden Vorbetern angeführt wird. Gleich nebenan, getrennt durch einen metallenen Sichtschutzzaun, verfolgen die Frauen den gemeinsam geführten G’ttesdienst. 

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Westmauer – vergangene Zeiten? Männer und drei hutbedeckte Damen beim gemeinsamen Gebet. Palästina, Teil des osmanischen Reichs, 1870. Postkarte: Felix Bonfils, Jerusalem.

Als Folge dieser strikt gehandhabten Ordnung stehen beim Eingang Wächter und fordern Familien, die sich der Westmauer annähern möchten, auf, sich nach Geschlechtern einzuordnen. Selbst Ehepaaren wird damit die Möglichkeit genommen, sich der Mauer gemeinsam zu nähern, um ein mitgebrachtes Bittgebet zu rezitieren und einen „Brief an den Allmächtigen“ zu richten. Ihre aufgeschriebenen Gebete, Sorgen, Hoffnungen, Genesungswünsche und Danksagungen auf einem kleinen Papierstückchen würden sie gerne gemeinsam in einen der zahlreichen Schlitze und Spalten der Steinquader stecken. Dieser Brauch von „Bittzetteln“ (auf Jiddisch Kvitelach genannt) hat seinen Ursprung im osteuropäischen Chassidismus. Solche Zettel werden bis heute auf die Grabsteine illustrer Rebben gelegt, die für ihre „Wundertaten“ – weltweit – bekannt sind. Und jeder glaubt und hofft fest, dass der Allmächtige sie dafür, an diesem „heiligen Ort“, auf besondere Weise erhört. 

Rosch Chodesch: Ein besonders weiblicher Tag?

Im Zuge der amerikanischen Frauenrechtsbewegung hat sich in den 1980er Jahren unter dem Namen Women of the Wall (Frauen der Mauer) eine Gruppe von Gläubigen konstituiert, die sich zu Rosch Chodesch beim monatlichen G’ttesdienst an der Westmauer der Vorherrschaft der orthodoxen Männer und deren streng gehandhabtem Ritus entgegenstellt. Viele der militanten Frauen gehören der aktiven Masortim (konservativen) Bewegung an. Diese in Israel gebräuchliche Bezeichnung steht für eine traditionalistische Gemeinschaft, die weder streng orthodox noch reformiert ist und rund 30 Prozent der jüdischen Bevölkerung umfasst; viele gehen auch in „normale“ Synagogen. Trotz all dieser respektablen Initiativen ist Rosch Chodesch kein offizieller Feiertag: sowohl die Männer als auch die Frauen der Mauer gehen nach dem Gebet, wie an einem gewöhnlichen Werktag, ihrer Arbeit nach. 

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Women of the Wall, I. Beim Gebet an der Westmauer. Israel National News.
Roger Reiss, Collage, 2018.

Seit 2018 haben jüdische Frauen diesen Feiertag zunehmend wieder für sich entdeckt und besonders sein Potential als Frauentradition. Mit ihrem Votum wollen die Women of the Wall das Monopol der über die Westmauer regierenden Orthodoxen brechen: Sie haben eine Dynamik entwickelt, mit der sie mittlerweile – im Sektor der Frauen – in der hinteren Reihe einen Platz für sich beanspruchen können. Als praktizierende Jüdinnen fordern die Frauen der Mauer beim G’ttesdienst eine Gleichstellung den Männern gegenüber ein. Ostentativ beten die älteren Frauen kopfbedeckt, singen laut und stark, eingehüllt von einem Tallit auf weissem Grund, auf denen bunte, blaue oder rotbraune Streifen eingewoben sind. Manche Frauen legen Tefillin, die Kopf- und Arm-
Gebetsriemen, wozu sie gemäss der Mitzwe, von Gesetzes wegen, gar nicht verpflichtet sind. Strengstens untersagt ist, eine eigene Thora (Pergamentschriftrolle) mitzubringen: das Vortragen eines Abschnittes bleibt Männersache.

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Women of the Wall, II. Als praktizierende Jüdinnen fordern die Frauen der Mauer beim G‘ttesdienst eine Gleichstellung den Männern gegenüber.
Roger Reiss, Collage, 2018.

Wem gehört die Westmauer?

Mit dem Vorpreschen der Women of the Wall, die über die Jahre hinweg einige Erfolge für sich verbuchen konnten, stellt sich die übergeordnete Frage, wem denn die Westmauer gehört? Ist sie jüdisches Eigentum? Offiziell haben heute die „Orthodoxen“ das Sagen. Aber sollte diese Instanz der Westmauer nicht das ganze jüdische Volk, in all seinen Schattierungen, repräsentieren? Wie lange noch muss die bunt zusammengewürfelte Rosch Chodesch-Gruppe, in der die meisten Teilnehmerinnen aus einem traditionellen Haus stammen, warten, bis man sie „an der Westmauer“ zu einem vollwertigen Mitglied „des Kulturerbes“ zählen kann?

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Women of the Wall, III. Warten auf den Allmächtigen, Aufbruchsstimmung in der Wüste. Roger Reiss, Collage, 2020.

Alle Abbildungen:
Mit freundlicher Genehmigung R. Reiss.