Markus Wagner
Léon Poliakov: Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation.
Freiburg-Wien: Ça Ira Verlag, 2. Aufl. 2022.
236 Seiten, Euro 26,00.-
ISBN-13: 978-3-86259-181-7
Vor dem Hintergrund der jüngsten militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Libanon bietet sich eine (Re-)Lektüre des im Ça-Ira-Verlag veröffentlichten Bandes Von Moskau nach Beirut des russischstämmigen jüdischen Historikers Léon Poliakov an, das mittlerweile in erweiterter zweiter Auflage erschienen ist. Poliakov (1910–1997), bekannt vor allem durch sein achtbändiges opus magnum Geschichte des Antisemitismus, analysiert in diesem Essay über die Desinformation eindrücklich, inwieweit die arabische antisemitische Propaganda der frühen 1980er-Jahre auf derjenigen sowjetischer Provenienz fusst – ein Phänomen, das sich gegenwärtig auch anhand der ideologieübergreifenden Verbrüderung zwischen einer antizionistischen Linken und Fürsprechern islamistischer Terrorgruppen ablesen lässt, die seit dem Massaker des 7. Oktober 2023 in zahlreichen westlichen und nicht-westlichen Städten zu beobachten ist.
Geschrieben vor dem Eindruck des Israelisch-Libanesischen Krieges 1982 und erstmals veröffentlicht im darauffolgenden Jahr in Paris,1 liegt hiermit erstmals eine deutschsprachige Ausgabe des Bandes vor. Die deutsche Fassung enthält neben den Originalabbildungen auch den der ursprünglichen Ausgabe anhängenden Essay Die Situation in Deutschland des evangelischen Theologen Rudolf Pfisterer, der bereits als Übersetzer an Poliakovs Geschichte des Antisemitismus mitgearbeitet hatte. Ausgangspunkt des Essays Von Moskau nach Beirut ist der Begriff der „Desinformation“ in seinen historisch, regional und politisch unterschiedlichen und mitunter widersprüchlichen Definitionen. Als deren Gemeinsamkeit kann die absichtsvolle Beeinflussung der öffentlichen Meinung destilliert werden – etwas, das Poliakov zufolge in der Auseinandersetzung mit dem Libanonkrieg 1982 auszumachen sei. Westliche Medien wären hierbei einer Desinformationskampagne aufgesessen, die weitreichende Folgen für das Ansehen des jüdischen Staates gehabt habe, der in der Folge zum „Juden unter den Staaten“ geworden sei. Zentral sei daher die Frage nach dem Ursprung jener Desinformation und danach, ob es sich hierbei um „eine Kampagne gegen die Juden oder für die Araber“ gehandelt habe.2
Um diese Fragen zu beantworten, spannt Poliakov einen weiten Bogen: Ausgehend von der Zusammenfassung seiner eigenen Forschungsergebnisse zum Antisemitismus geht er dazu über, die sowjetische antizionistische Propaganda zwischen 1918 und 1983 zu analysieren, um sich danach der arabischen zuzuwenden, bevor er die Auswirkungen dieser verhängnisvollen Liaison darzustellen versucht. Bei der Lektüre sticht dabei ins Auge, dass die Wurzeln der heute gängigsten Vorwürfe dem israelischen Staat gegenüber in den stalinistischen Säuberungskampagnen der frühen 1950er Jahre liegen. Auch die von Poliakov beispielhaft herangezogenen arabischen Propagandastücke wirken so, als entstammten sie aktuellen Veröffentlichungen zum Nahost-Konflikt. Damit beweisen sie en passant, dass die Ablehnung Israels sich vielfach nicht aus dem tatsächlichen militärischen Vorgehen des jüdischen Staates speist – der aktuelle Krieg in Gaza unterscheidet sich schliesslich fundamental vom Libanonkrieg 1982, dem die Propaganda entstammt – sondern Ausdruck eines „Gerüchts über die Juden“ (Theodor W. Adorno) ist, das allenfalls leidlich angepasst zu werden braucht. Zugleich offenbart sich an den geschilderten Beispielen, dass eine tatsächliche Trennung zwischen Antisemitismus und Antizionismus am verwendeten Material kaum vorzunehmen ist, denn in den allermeisten Fällen wurde die Ablehnung Israels mit klassischem Judenhass unterfüttert. Und auch umgekehrt ist es kaum denkbar, dass das antisemitische Ressentiment nach 1948 ohne die Feindschaft gegenüber dem Zionismus auskommen könnte.
So, wie auch Poliakov selbst kein rein akademisch wirkender Historiker war, was zweifellos der Persistenz des Antisemitismus geschuldet ist, dem er im Laufe seines Lebens immer wieder ausgesetzt war, so machen auch die Herausgeber deutlich, dass man dem Antisemitismus – gleich in welchem Gewand er erscheint – nicht mit neutraler wissenschaftlicher Sachlichkeit begegnen kann. Es handelt sich bei dem Band dementsprechend nicht nur um die blosse Übersetzung eines Essays, dem höchstens historisches Interesse entgegengebracht werden kann, sondern auch um eine politische Intervention gegen den Judenhass, der als Ablehnung Israels auftritt. Darüber hinaus bietet sich der Text als – wenn auch freilich subjektiv gefärbte – historische Einführung in den Nahost-Konflikt bis in die frühen 1980er Jahre an. Poliakov behandelt schliesslich die bedeutendsten Ereignisse der Geschichte des jüdischen Staates, einschliesslich deren Aufnahme durch die europäische Intellektuellenszene, insbesondere Frankreichs. Anhand zahlreicher zeitgenössischer Zitate und Kommentare gelingt es dem Autor, ein Stimmungsbild jener Kreise zu entwerfen, die Israel positiv oder negativ gegenüber eingestellt und damit verbunden waren.
Ergänzt ist der Band um ein ausführliches Vorwort der Herausgeber, in dem nicht nur die unmittelbare Entstehungsgeschichte von Poliakovs Schrift erläutert wird. Mit ausführlichen Anmerkungen versehene historische Abrisse dienen der Kontextualisierung des Werkes und unterstreichen dessen Relevanz noch rund 40 Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung, in einem Zeitalter verschiedener Desinformationskampagnen. Die zweite Auflage des Bandes wurde darüber hinaus um ein Nachwort ergänzt, das den im Vorwort geschlagenen Bogen zur Gegenwart um die jüngsten Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 aktualisiert. Darüber hinaus haben die Herausgeber dem Text grosszügig erläuternde Fussnoten und weiterführende Verweise beigefügt. Die Übersetzung aus dem Französischen stammt vom Historiker und Übersetzer Alexander Carstiuc und der Psychologin Miriam Mettler, die den Band auch herausgegeben haben.
Anmerkungen
1 Léon Poliakov, De Moscou à Beyrouth. Essai sur la désinformation, Paris 1983.
2 Léon Poliakov, Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation, Freiburg-Wien 2022, S. 32.