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Romanioten in der Türkei

Robert Schild

Wo gibt es heute noch romaniotische Juden in der Türkei? Eine erfolglose Suche.

Inhalt

Als Romanioten werden die Juden (Ost-)Roms bezeichnet, deren Lebensraum sich vornehmlich vom heutigen Griechenland bis in die Levante erstreckte. Ihre Sprache war ein mit hebräischen Wörtern gespicktes Griechisch, das sogenannte Jevanitische. Dieser besondere Dialekt und das lokale Griechisch der christlichen einheimischen Bevölkerung konnten gegenseitig durchaus verstanden werden. Die Romanioten benutzten eine eigene Version des Alphabets, um Texte sowohl in jevanitischer als auch in griechischer Sprache zu schreiben.

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Ein jüdischer Grabstein, “Josephos”, aus Manisa (West-Anatolien). Foto: Prof. Hasan Malay. Mit freundlicher Genemigung Dr. Siren Bora.

 

Antike Präsenz in der Ägäis

Anknüpfend an den Artikel „2.600 Jahre Juden in Kleinasien“1 sei hier erwähnt, dass eine jüdische Präsenz im Raum der Ägäis bereits vor der Zerstörung des Zweiten Tempels festzustellen ist, und zwar sowohl auf dem griechischen Festland sowie auf einigen Inseln als auch an der Westküste der heutigen Türkei. So berichtet der Historiker Flavius Josephus (37/38–100), Aristoteles (384–322 v.u.Z.) sei während seiner Reise durch Kleinasien jüdischen Siedlern begegnet; der Biograf Hermippos von Smyrna (289/277–208/204 v.u.Z.) behauptet, Pythagoras (570–510 v.u.Z.) habe einige seiner Lehren von jüdischen Philosophen übernommen. Auch wurde in Sardes, unweit von Izmir, die Ruine einer antiken Synagoge aus dem 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ausgegraben. Aus römischer Zeit stammt eine in Ankara gefundene Bronzesäule. Deren faszinierende Inschrift hält Zugeständnisse des Kaisers Augustus (63 v.u.Z.–14) gegenüber den Juden Kleinasiens fest – darunter das Recht, Spenden nach Jerusalem zu schicken, sowie am Schabbat nicht in den Palast beordert zu werden.

Unter der Herrschaft von Byzanz

Im Gegensatz zum bruchstückhaft überlieferten jüdischen Leben in der Antike ist die jüdische Geschichte im Byzantinischen Reich weitaus besser dokumentiert. Bezeichnenderweise handelt es sich bei einer der frühesten Informationen über die jüdische Gemeinde in Konstantinopel um Details einer Vertreibung. Im Jahre 422 wurden die Juden von Theodosius II. (401–450) aus Byzanz ausgewiesen – und erst fast vierhundert Jahre später durften sie zurückkehren. In der Zwischenzeit hatten sich diese jevanitisch-sprachigen Gemeinden in den Küstenstädten der Ägäis angesiedelt, und trotz zahlreicher Verfolgungen blieben sie während der byzantinischen Zeit auch in Kleinasien ansässig. Die Kaiser in Konstantinopel übten sowohl politische als auch religiöse Macht aus, daher war die Diskriminierung der Juden unter ihrer Herrschaft besonders schwerwiegend. Diese Volksgruppe war – infolge ihrer Religion – in vielfacher Weise diskriminiert, so unter anderem auf bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten und speziell für sie vorgesehene Bezirke beschränkt. Unter der Herrschaft Justinians (482–565) wurde die Verfolgung des Judentums nahezu unerträglich. Beispielsweise wurde verboten, das Schma Jisrael zu rezitieren, und zwar mit der Behauptung, der Satz „unser G‘tt ist der Einzige“ stelle eine Beleidigung des christlichen Konzepts der Dreifaltigkeit dar.

 

Im Osmanischen Reich

Im 14. Jahrhundert entstand im Nahen Osten eine neue Macht. Die Türken unter Sultan Osman (1288–1326, Begründer der nach ihm benannten Herrscherdynastie und ihres Reichs) zogen durch Anatolien und wurden die neuen Herrscher der romaniotisch-jüdischen Gemeinden, die noch immer unter der Unterdrückung durch die Byzantiner standen. Die Romanioten begrüssten die Osmanen als ihre Befreier und halfen ihnen sogar, die Stadt Bursa südlich des Marmara-Meers einzunehmen. Ihre Hoffnung auf positive Veränderungen erfüllte sich, und Sultan Osmans Sohn Orhan (1281–1359/62) erlaubte ihnen, dort die Synagoge Etz ha-Hachayim (dt. Baum des Lebens) zu errichten – sie ist bereits seit über sechshundert Jahren in Betrieb.

 

Ab 1445 wirkte Moses ben Elijah Capsali (1420–1495) als Oberrabbiner in Konstantinopel; nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen im Jahr 1453 wurde er in seinem Amt bestätigt. Capsali genoss als geistlicher und kommunaler Führer grosses Ansehen und wurde von Sultan Mehmed II. (1432–1481) zusammen mit dem Mufti und dem Patriarchen von Konstantinopel an den kaiserlichen Rat (Dīwān) berufen – ein Privileg, das in der judenfeindlich ausgerichteten byzantinischen Zeit kaum denkbar gewesen war. 

 

Von Anfang an war die Toleranz des Osmanischen Reichs gegenüber den Juden von Eigeninteressen bestimmt. Die Türken waren in erster Linie eine Gesellschaft von Kriegern und Bauern, während die Juden im Handel tätig waren und durch ihre Bemühungen eine robuste Wirtschaft schaffen konnten. Die osmanischen Herrscher befolgten gegenüber ihren jüdischen Bürgern die Dhimmi-Regel: Juden erhielten Sicherheitsgarantien, mussten jedoch zusätzliche Steuern zahlen und wurden als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt. Im Allgemeinen waren die osmanischen Sultane Juden gegenüber im wahrsten Sinne des Wortes pragmatisch eingestellt und ermöglichten ihnen ein friedliches Leben.

 

Umsiedlungspolitik

Da Mehmed II. „der Eroberer“ Konstantinopel zu seiner neuen Hauptstadt machen wollte, verfügte er dessen Wiederaufbau. Um es wiederzubeleben, liess er Muslime, Christen und Juden aus seinem ganzen Reich dorthin umsiedeln. Innerhalb weniger Monate wurden die romaniotischen Juden des Osmanischen Reiches (vor allem vom Balkan und aus Anatolien stammend) grosssteils im neuen Konstantiniyye (später auch Dersaadet genannt) konzentriert, wo sie knapp über zehn Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten. Die Zwangsumsiedlung war zwar nicht als antijüdische Massnahme gedacht gewesen, wurde von den Juden aber als eine Art „Vertreibung“ empfunden. Jedenfalls blieben die Romanioten für die kommenden Jahrzehnte die einflussreichste jüdische Gemeinde im Reich und stellten die Oberrabbiner der Städte sowie deren landesweiten Vorsitzenden (ab 1835 offiziell: Hahambaşı, auch: Hakham Baschi) für das ganze Osmanische Reich.

 

Hebräo-Griechisch

Die Familiennamen der Romanioten waren griechisch, auch ihre Synagogen waren unter griechischen Namen bekannt. Sie waren stark von der griechischen Kultur und Sprache beeinflusst, die sie auch offiziell in ihren Synagogeng‘ttesdienst übernahmen. 1547 wurde in Konstantinopel eine Übersetzung der Thora auf Griechisch veröffentlicht und in Quadratbuchstaben (Hebräo-Griechisch) gedruckt. Die Bräuche und Sonderversionen der Gebete bei den Romanioten wurden im Mahsor Romania gesammelt, der auch das Neumondgebet in Hebräo-Griechisch enthält. Viele Jahre lang lasen sie am Versöhnungstag das Buch Jona auf Hebräisch und Griechisch. Es war auch Brauch, das Buch Ruth, die Klagelieder, den Traktat Avot sowie einen Kommentar zum Hohelied auf Griechisch zu lesen.

 

Sefardische Einflüsse

Ab dem 16. Jahrhundert befanden sich die Romanioten mehr und mehr kulturell sowie sozial in der Defensive gegenüber den neuen jüdischen Einwanderungswellen aus den europäischen Ländern, so etwa kleinerer Gruppen aschkenasischer Juden zwischen 1421 und 1453 aus dem Elsass, vor allem aber von der Iberischen Halbinsel aus: Weit über einhunderttausend sefardische Juden wurden 1492 aus Spanien beziehungsweise vier Jahre später auch aus Portugal vertrieben, ein Grossteil von ihnen liess sich im osmanisch beherrschten Griechenland sowie auf einigen ägäischen Inseln, ausserdem vor allem auf anatolischem Boden sowie teilweise auch in der restlichen Levante nieder. Thessaloniki entwickelte sich zu einer der grössten, hauptsächlich sefardischen jüdischen Gemeinden der Welt mit einer soliden rabbinischen Tradition. Zahlreiche Sefarden wählten aber auch andere bedeutende osmanische (Hafen-)Städte, beispielsweise Istanbul, Edirne, Manisa, Adana sowie Beirut und Alexandrien als neue Siedlungsorte. Sie sprachen ihre eigene Sprache, das Judenspanische oder Ladino, eine Mischung aus mittelalterlichem Spanisch und Hebräisch, die in den kommenden Jahrhunderten auch durch das lokale Türkisch sowie (vor allem in intellektuellen Kreisen) durch etwas Französisch angereichert werden sollte. 

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Byzantinische Jüdin, X.-XI. Jahrhundert. Quelle: Nicholas Stavroulakis: Sephardi & Romaniot Jewish Costumes in Greece & Turkey, 16 Watercolors., hg. v. The Association of the Friends of the Jewish Museum of Greece. Athen Talos Press 1986, ISBN 10: 9608502209. Mit freundlicher Genehmigung des Autors, Mai 2001.

 

Verschwinden der Romanioten

Zunehmende Mischehen von Romanioten vor allem mit Sefarden führten dazu, dass Letztere der bestehenden, griechisch orientierten jüdischen Bevölkerung nach und nach ihre Lebensweise und Traditionen aufzwangen. So gehörte etwa zu deren Bräuchen, dass die sieben Hochzeitssegen bei der Verlobungszeremonie (Erusin) rezitiert werden, während es im Judentum allgemein üblich ist, sie bei der eigentlichen Hochzeitszeremonie auszusprechen. Die Zahl der ursprünglich romaniotischen Synagogen nahm ab – so bestand jene der sogenannten Gregos-Gemeinde in Konstantiniyye nur bis 1660, die von Sofia bis 1898 und jene von Adrianopel (türk. Edirne) bis 1905, als sie niederbrannte. Der jevanitische Dialekt beschränkte sich nach und nach auf die Juden in den ab 1918 zu Griechenland gehörenden Städten Kastoria, Ioannina und Chalkis. Auch die historisch wichtige Rolle der Romanioten im Transportgewerbe auf der Insel Kreta verschwand nach und nach – bis die Shoah allem ein abruptes Ende bereitete.

 

Während heute neben Griechenland (Athen, Chalkis, Ioannina und Volos) noch in Israel und den U.S.A. wenigstens je eine romaniotische Synagoge beziehungsweise eine kleine Gemeinde erhalten geblieben sind, kann man in der Türkei von einer derartigen Präsenz überhaupt nicht mehr sprechen. Und wenn man in Istanbul zufällig einem sefardischen Juden mit dem Nachnamen Papo, Galimidi, Stroti oder Politi begegnet und ihn nach seinen Vorfahren fragt, weiss der Grossteil von ihnen kaum, dass diese einst zu den Romanioten zählten.

Anmerkung:

1 vgl. Robert Schild, 2.600 Jahre Juden in Kleinasien. In: DAVID, Jg. 33, Heft 128, Sommer 2021, S. 44f; link: http://davidkultur.at/artikel/2-600-jahre-juden-in-kleinasien.