Das bewegte Leben des Fussballers und Trainers Izidor „Dori“ Kürschner (1885–1941)
Izidor Kürschner, den alle Welt nur „Dori“ nannte, kam im Juni 1885 zur Welt, wo genau, ist durchaus umstritten. Der einschlägige Wikipedia-Eintrag meint, die Metropole Budapest sei der Geburtsort Kürschners gewesen, weitere Quellen sprechen von der österreichischen Reichshälfte der k.u.k. Doppelmonarchie. Kürschner kam jedenfalls früh nach Budapest, tat sich indessen schwer, die schwierige ungarische Sprache zu erlernen. Deutsch war ihm geläufiger. Vieles zu Kürschners frühen Budapester Jahren liegt im Dunkeln. Diese unklaren Wurzeln gelten auch für die anderen Topstars des ungarischen Fussballs jener Jahrzehnte, Imre Schlosser, Alfred Schaffer oder auch György Orth. Izidor „Dori“ Kürschers Eltern jedenfalls waren jüdischen Glaubens. „Dori“ Kürschner wurde schon bald zum Fussballfan, und die ungarische Kapitale bot ihm bereits damals Spitzenfussball. Teams wie Ferencváros, MTK, Újpest oder ATK buhlten um die Sympathien der Fans auch in internationalen Spielen gegen renommierte Wiener oder Prager Vereine (wobei diese natürlich ebenfalls zur Habsburgermonarchie gehörten). Auch britische Profiteams wie Chelsea London oder West Ham United gaben sich ein Stelldichein in der ungarischen Hauptstadt und verdienten sich somit ein erkleckliches Zubrot.
Izidor „Dori“ Kürschner war ein proletarischer jüdischer Budapester Gassenjunge. Er erlernte den Fussball auf der Strasse, mit Freunden und Feinden, hart, wild, unorganisiert, trat gegen Steine, Kappen und Stoffknäuel, kassierte so manche Strafe von den erbosten Eltern, weil er wieder ein Paar kostbare Schuhe ruiniert hatte. Für Izidor Kürscher war der Budapester Quartiersfussball nicht genug. Das Talent begann seine Karriere beim kleinen Klub Erdőltelki FE, ehe es nach Vermittlung des Altstars Imre Pozsonyi im Jahre 1903 zu MTK wechselte, damals der grosse Rivale von Ferencváros um die Vormachtstellung im ungarischen Fussball. „Dori“ Kürschner begann seine Karriere als Defensiver, als linker Verteidiger. Er bestach nicht so sehr durch seine Technik als durch seine Athletik, Härte, durch sein Stellungsspiel und durch sein taktisches Verständnis. Trainer von MTK war damals der Engländer John Tait Robertson. Er vermittelte den ungarischen Ballkünstlern taktisches Feingespür. Kürschner gewann unter anderem zwei Meistertitel, ehe er den Verein im Jahre 1912 gemeinsam mit Robertson verliess. Später wurden jene Pionierjahre zur „Goldenen Zeit“ des ungarischen Amateurfussballs verklärt. Da er offiziell kein Geld mit Fussball verdiente, musste sich „Dori“ Kürschner nach einer Verdienstquelle umsehen. Gemeinsam mit seinem Vereinskameraden Gyula Kertész hatte er in Budapest ein kleines Fotogeschäft eröffnet. Kürschner fotografierte auch selbst und platzierte seine Bilder manchmal in der ungarischen Sportpresse. Nach seinen vier Jahren bei MTK begab sich Izidor Kürschner nach Nagyvárad (Oradea im heutigen Rumänien), wo er gegen Geld in Schaumatches spielte. Wie er den Ersten Weltkrieg über- oder erlebte, ist bisher nicht geklärt.
Dori Kürschner, 1937. Foto: Imagem do Fundo Correio da Manhã, Nationalarchiv Brasilien, Inv.Nr. BR_RJANRIO_PH_0_FOT_28024_001. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dori_Kürschner_(1937).tiff?page=1&uselang=de
Im ersten Friedensjahr 1919 besann sich MTK Budapest im „Rumpfungarn“ der Zwischenkriegszeit (Vertrag von Trianon) auf ehemalige Vereinsgrössen und wählte folglich Izidor Kürschner als Trainer und Nachfolger des legendären Engländers Jimmy Hogan aus. Der Erfolg stellte sich unter dem „neuen Besen“ sofort ein, auch dank der beiden Brüder György und Jenő Konrad, zweier Budapester Juden und Nationalspieler, die indessen bald von Startrainer Hugo Meisl, Baumeister des zukünftigen österreichischen „Wunderteams“, nach Wien zu den „Amateuren“ (später Austria Wien) gelockt wurden. Das stark „geschrumpfte“ Ungarn versank nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in politischen und ökonomischen Wirren. Nach dem Sieg der Konterrevolution über die kommunistische Räterepublik des Béla Kun etablierte sich schnell der Horthy-Faschimus, der unter anderem scharfe antisemitische Gesetze erliess. Izidor Kürschner reagierte wie andere ungarische jüdische Sportler oder Künstler rechtzeitig und emigrierte im Jahre 1923 in die vergleichsweise sichere, aber ebenfalls von Antisemitismus gekennzeichnete Schweiz, wo er den Basler Quartierverein FC Nordstern übernahm und diesem sofort seinen taktisch-spielerischen Stempel aufdrückte. Andere begabte österreichische oder ungarische Fussballer fanden in Italien Unterschlupf, das freilich Mitte der 1920er Jahre Ausländern das Kicken verbat (Trainer durften bleiben). Vorher hatten allein in der Serie A nicht weniger als 88 Ausländer gegen das runde Leder getreten. Auch die Schweiz, die Weimarer Republik oder Frankreich waren für politisch oder „rassisch“ Verfolgte (noch) sicher.
So gut war Nordsterns Fussball unter „Dori“ Kürschner binnen kurzer Zeit geworden, dass die Verantwortlichen des Schweizerischen Athletik- und Fussballverbands (SAFV) auf den Budapester Coach aufmerksam wurden und diesen gemeinsam mit dem bereits erwähnten Altmeister Jimmy Hogan und einem weiteren Engländer, „Teddy“ Duckworth, zum Co-Trainer der Nationalmannschaft beriefen – eine grosse Ehre. Das illustre Trainertrio bereitete die „Nati“ auf das olympische Fussballturnier in Paris vor; Kredit genossen die „Rotjacken“ freilich nur wenig. Die akribische Vorbereitung auf das Turnier half indessen mit, sensationellerweise das Finale gegen den Topfavoriten aus Uruguay zu erreichen, das jedoch mit 0:3 deutlich verloren ging. Doch hatten die Leistungen der Eidgenossen und die olympische Silbermedaille die Bevölkerung euphorisiert, und selbst die noble NZZ schickte eigens einen Berichterstatter nach Paris. Einer der Stars der Schweizer war der junge Max „Xam“ Abegglen, den „Dori“ Kürschner wenig später als Cheftrainer der Grasshoppers Zürich (GC) an die Limmat holte. Rund um den Regisseur „Xam“ Abegglen baute der Budapester eine sehr starke Mannschaft auf, die in der Schweiz dominierte. In seinem Haus in einem Zürcher Vorort fachsimpelte Kürschner gerne mit kundigen Fans, Journalisten oder Trainerkollegen.
Nach einer kurzen Episode bei den Young Boys Bern (1934/35) verliess „Dori“ Kürschner die Alte Welt in Richtung Brasilien. Dort trainierte er in Rio de Janeiro die beiden ungemein populären Vereine Flamenco und Botafogo. Kürschner installierte Henry Chapmans (Arsenal London) WM-System und stärkte somit die Defensive der offensiv und spielerisch überragenden Brasilianer. Er setzte also taktische Massstäbe und hinterliess deutliche Spuren. Leider versuchten gewisse Leute (Funktionäre, Reservespieler, Journalisten) im Hintergrund, aus Eifersucht gegen Herrn „Kruschner“, wie man Izidor Kürschner unter dem Zuckerhut nannte, zu intrigieren, oftmals erfolgreich, denn der Fremde hatte wenig Chancen gegen die Einheimischen. Der chronisch überarbeitete, von Neid und Intrigen gestresste Izidor „Dori“ Kürschner verstarb bereits im Jahre 1941 tragisch an einem Herzinfarkt. An eine Rückkehr nach Europa hatte er keinen Gedanken mehr verschwendet, wie der bekannte englische Sporthistoriker Jonathan Wilson schreibt. Izidor Kürschner hatte, wie weitere namhafte jüdische Fussball-Lehrer auch, nicht zuletzt Südamerikas Fussball modernisiert und mitunter nachhaltig geprägt.
Vgl. dazu auch den Beitrag von Fabian Brändle: Sportives jüdisches Zürich. 100 Jahre Hakoah Zürich. In: DAVID, Heft 140, Pessach 5784/April 2024, S. 46; online: https://davidkultur.at/artikel/sportives-juedisches-zuerich-100-jahre-hakoah-zuerich
Nachlese
Wilson, Jonathan: The Names Heard Long Ago. How the Golden Age of Hungarian Football Shaped the Modern Game. London 2019.
Zum Autor
Dr. Fabian Brändle ist Historiker und Volksschriftsteller.
Fortsetzung dieser Serie zu jüdischen Fussballern in der kommenden Ausgabe, DAVID 146, Rosch Haschana 5786/September 2025