Benjamin ben Jonah genannt von Tudela, über dessen genaue Lebensdaten nichts bekannt ist, lebte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Spanien. Der Zeitraum seiner grossen Reise wird mit 1165 bis 1173 angenommen. Kenntnisse über ihn selbst haben wir im Wesentlichen nur aus seinem eigenen Werk, dem Buch der Reisen. Von diesem Reisetagebuch existieren zwei frühe Drucke, nämlich eine Ausgabe von Eliezer ben Gershon, erschienen in Konstantinopel 1543 sowie jener von Abraham Usque, gedruckt in Ferrara 1556. Es folgte eine Vielzahl von Nachdrucken und Übersetzungen (unter anderem von Leopold Zunz). Bemerkenswert ist, dass in einer Sammelhandschrift des British Museum der Reisebericht zusammengebunden ist mit einer Reihe von Werken des Maimonides (1135/38–1204), ferner verschiedenen Midraschim sowie einem Haggadah-Kommentar. Auch bei anderen Ausgaben handelt es sich um Bindungen in sogenannten Sammelbänden, wobei nicht immer leicht erkennbar ist, welche Idee des Herausgebers oder des Bestellers der Sammlung für die Kompilation massgeblich war. Die Standardedition ist jene von Adolf Asher aus dem Jahr 1841.1 Wichtig für die weitere Beschäftigung mit dem Werk ist Marcus Adlers Übersetzung ins Englische aus dem Jahr 1907.
Benjamin von Tudela, Buch der Reisen, Titelblatt, Ausgabe 1633. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Benjamin_of_Tudela_1633_ed_tp.jpg?uselang=de
Weltreise
Benjamin wird als der bedeutendste mittelalterliche jüdische Reisende angesehen. Über seine Ausbildung wissen wir nichts. Dass er manchmal von nicht-jüdischen Autoren als Rabbiner bezeichnet wird, ist auch nicht aussagekräftig, denn dieser Titel kann schlicht für eine respektvolle Anrede stehen. Er war mit Sicherheit kein Rabbiner im Wortsinn: aus seinem gesamten Werk geht nicht hervor, dass er eine entsprechende Bildung genossen hätte. Das von ihm verwendete Hebräisch ist relativ einfach gehalten, so, wie ein Kaufmann schreiben würde, nicht aber ein Gelehrter.2 Es gibt die Vermutung, er sei Juwelenhändler gewesen, was auch Rückschlüsse auf den Zweck seiner Reise zuliesse: nämlich im Rahmen einer schlicht nur als „Weltreise“ zu bezeichnenden Fahrt vielleicht Möglichkeiten internationaler Handelsbeziehungen zu erkunden – führte ihn diese Reise doch in fast alle Gegenden der damals bekannten Welt – quer durch Europa, durch weite Teile Asiens und dann durch Nordafrika zurück nach Europa. Im Unterschied zu anderen zeitgenössischen jüdischen Reisenden endete seine Fahrt nicht in Palästina: er kehrte ins heimatliche Spanien zurück. Ob die Reise also Pilgerfahrt oder Geschäftsreise, vielleicht eine Kombination aus beidem war, ist nicht gesichert.3 Von manchen Autoren wird Benjamin als „jüdischer Marco Polo“ bezeichnet,4 was kaum einem eleganten Schreibstil zuzuschreiben ist, sondern wohl auf dem Umfang seiner Reise beruht, die ihn angeblich sogar bis nach China führte. Vielleicht ist der Vergleich auch dem Umstand geschuldet, dass er vermutlich, ähnlich dem berühmtesten mittelalterlichen Reisenden, Marco Polo (1254–1324), seinen Bericht einem Schreiber diktierte, wobei Benjamins Werk immerhin bereits über einhundert Jahre vor Polos Il Milione (vermutlich 1298/99) entstand.5
Reisebericht
Benjamins Schilderung entwickelt sich zwar entlang eines Reiseverlaufs, lässt aber keine durchgehende Struktur erkennen, sie ist „plotless“6: der Autor schrieb einfach auf, was er sah oder hörte.7 Im Vergleich zu zeitgenössischen Reisenden ist doch bemerkenswert, dass sich hier kein grosser jüdischer Gelehrter auf den Weg machte, wie etwa Nachmanides (1194–1270) oder Maimonides. Benjamin unterscheidet sich auch von dem nur unwesentlich später reisenden Petachia von Regensburg (1170/1187). Dessen Route führte, ausgehend von Prag, über Südosteuropa, den Kaukasus, das Schwarze Meer, Mesopotamien und schliesslich Palästina und wäre im Umfang vergleichbar. Doch Petachia hatte, anders als Benjamin, eine qualifizierte Ausbildung, und der Art seiner Darstellung ist zu entnehmen, dass er die geschilderten Umstände auch tatsächlich selbst erlebt hat. Bei anderen Autoren ist der Zweck der Beschreibungen deutlich im Vordergrund, dies gilt nicht nur für jüdische Reiseschriftsteller, sondern auch für christliche und muslimische Erzähler. Sie legen Begebenheiten der von ihnen vorgenommener Pilgerfahrten dar, um Nachfolgenden ihre Eindrücke zu schildern, aber auch, um Reisenden nützliche Informationen zu vermitteln. Als Beispiele seien hier die „Briefschreiber“ Meshullam von Volterra (1481) und Obadiah von Bertinoro (1465–1515) genannt.8 Benjamin mangelte es sicherlich an der nötigen sprachlichen Kompetenz, die Poeten wie Judah Halevi (1074–1141) oder Judah Alharizi (1165/70–1225/35), beide ebenfalls aus Spanien stammend, eignete: deren Beschreibungen ist zwar ein realistischer Hintergrund zu entnehmen, in ihrer dichterisch gehobenen Sprache steht die künstlerische Gestaltung aber deutlich im Vordergrund.9 Dort, wo Benjamin Geschichten von aussen zugetragen wurden oder eine Übertreibung in der Darstellung leicht erkennbar wird, ist er doch noch weit entfernt von den imaginären Reisen solcher Autoren wie Eldad Ha Dani (um 880) oder David Reuveni (1490–1535/41), die sich ganz in phantastischen Geschichten ergehen, einer Art früher Phantasieliteratur.10 Vielleicht sind ja auch jene eingestreuten, schwer nachvollziehbaren Übertreibungen bei Benjamin bloss dazu gedacht, die mehr oder minder willkürliche Aneinanderreihung örtlicher Gegebenheiten aufzulockern, indem ein Spannungsbogen – wenn auch mühsam – aufrechterhalten wird. Er beschränkt sich allerdings nicht auf die numerische Aufzählung angetroffener jüdischer Bewohner, deren Gemeindevorsteher und Gelehrter, sondern berichtet auch über Besonderheiten, vor allem architektonischer Natur.
Vom Umfang der Erzählung her – zeitlich wie örtlich – ist diese Schilderung mit jener Marco Polos durchaus zu vergleichen, wenngleich Benjamins Text nicht mit so vielen historischen Begebenheiten angereichert ist. Von Leopold Zunz wurde Tudela als „unser erster Reisender“ bezeichnet.11 Sandra Benjamin lässt Tudela in Form fiktiver Briefe nach Spanien sprechen, so, als hätte er die einzelnen Stationen und Begebenheiten tatsächlich jeweils unmittelbar festgehalten und an die daheim Zurückgebliebenen berichtet, wie man dies durchaus von anderen Autoren kennt.12 Auch wenn dieser Ansatz Fiktion ist – es sind keine Briefe bekannt – muss sich der Reisende doch Notizen gemacht haben, in einer Art Reisetagebuch, vielleicht nur mit Kurzeinträgen (?), um seine immerhin über mehrere Jahre verteilten Erlebnisse und die von ihm erhobenen „statistischen Daten“ zur jüdischen Bevölkerung festzuhalten, da weder anzunehmen ist, er hätte seinen Bericht nach der Heimkehr frei erfunden („Münchhausiade“), noch, dass er so viele detaillierte Angaben einfach aus dem Gedächtnis reproduzieren hätte können.
Martin Jacobs stellt einen interessanten Vergleich zum bedeutendsten muslimischen Reisenden her, der aus dem südlichen, muslimisch beherrschten Spanien kam, Ibn Jubayr aus Valencia (1145–1217). Dessen Bericht Ribla (Reise) ist in einem literarisch gehobenen Arabisch abgefasst. Jacobs stellt die seiner Ansicht nach treibenden Motive der beiden so verschiedenen Reisenden einander gegenüber: für Ibn Jubayr die „umma“ (religiös fundierte Gemeinschaft der Muslime), als religiöse und politische Einheit unter der Herrschaft der Almohaden, für Benjamin hingegen die Idee einer „diasporic connectivity“, die einen Geist von Einheit und Verbindung der unter verschiedensten christlichen und muslimischen Herrschaften verstreuten Juden bilden konnte.13 Dies mag die durchaus schlüssige Erklärung für Benjamin von Tudelas gewagtes, gleichsam weltumspannendes Unternehmen zur Erforschung und Berichterstattung über die existierende jüdische Bevölkerung, wo immer sie sich aufhielt, sein.
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Anmerkungen
1 Adler (1907), S XII-XV.
2 Benjamin (1995), S 10.
3 Schliwski (2022), S. 546.
4 Jacobs (2019), S 203.
5 Polo (1983).
6 Jacobs (2014), S 34.
7 Jacobs (2019), S 210.
8 Jacobs (2014), S 31-41.
9 Jacobs (2014), S 46-47.
10 Jacobs (2014), S 43-44.
11 im Anhang zu Adolf Ashers erster englischen Ausgabe The Itinerary of Rabbi Benjamin of Tudela, 2 vols, New York 1840-41, zit.n.Jacobs (2019), S 204.
12 Benjamin (1995). S 12.
13 Jacobs (2019), S 232.
Nachlese
Adler, Marcus Nathan, The Itinerary of Benjamin of Tudela: Critical Text, Translation and Commentary, Oxford University Press, London 1907.
Benjamin, Sandra, The World of Benjamin of Tudela, A Medieval Mediterranean, Travelogue, Associated University Presses, Cranbury, London u.a. 1995.
Jacobs, Martin, Reorienting the East, Jewish Travelers to the Medieval Muslim World, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2014.
Jacobs, Martin, “A day’s journey”: Spatial Perceptions and Geographic Imagination in Benjamin of Tudela’s Book of travels, The Jewish Quarterly Review Vol 109 Nr 2, p 203-235, 2019.
Polo, Marco, Il milione, Die Wunder der Welt, Deutsch Elisie Guiglard, Manesse Verlag, Zürich 1983.
Schliwski, Carsten, Problematische Neugier – Jüdische Reiseberichte im Mittelalter in Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln, Curiositas, (Hg.) Andreas Speer und Robert Maximilian Schneider, De Gruyter, Berlin, Boston 2022.