Ausgabe

Buch der Reisen Benjamin von Tudela

Christian Baldinger

Die Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf Benjamin von Tudelas Werk „Sefer ha massa‘ ot“, deutsch „Buch der Reisen“, im Vergleich mit annähernd zeitgenössischen Werken der sogenannten (mittelalterlichen) Reiseliteratur. Zu zeigen sind der Aufbau des Werkes, dessen sprachliche Ausführung und die Frage nach der Absicht des Autors.

Inhalt

Benjamin ben Jonah genannt von Tudela, über dessen genaue Lebensdaten nichts bekannt ist, lebte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Spanien. Der Zeitraum seiner grossen Reise wird mit 1165 bis 1173 angenommen. Kenntnisse über ihn selbst haben wir im Wesentlichen nur aus seinem eigenen Werk, dem Buch der Reisen. Von diesem Reisetagebuch existieren zwei frühe Drucke, nämlich eine Ausgabe von Eliezer ben Gershon, erschienen in Konstantinopel 1543 sowie jene von Abraham Usque, gedruckt in Ferrara 1556. Es folgte eine Vielzahl von Nachdrucken und Übersetzungen (unter anderem von Leopold Zunz). Bemerkenswert ist, dass in einer Sammelhandschrift des British Museums der Reisebericht zusammengebunden ist mit einer Reihe von Werken des Maimonides (1135/38–1204), ferner verschiedenen Midraschim sowie einem Haggadah-Kommentar. Auch bei anderen Ausgaben handelt es sich um Bindungen in sogenannten Sammelbänden, wobei nicht immer leicht erkennbar ist, welche Idee des Herausgebers oder des Bestellers der Sammlung für die Kompilation massgeblich war. Die Standardedition ist jene von Adolf Asher aus dem Jahr 1841.1 Wichtig für die weitere Beschäftigung mit dem Werk ist Marcus Adlers Übersetzung ins Englische aus dem Jahr 1907.

 

Benjamin wird als der wichtigste mittelalterliche jüdische Reisende angesehen. Über seine Ausbildung wissen wir nichts. Dass er manchmal von nicht-jüdischen Autoren als Rabbiner bezeichnet wird, ist auch nicht aussagekräftig, denn dieser Titel kann schlicht für eine respektvolle Anrede stehen. Er war mit Sicherheit kein Rabbiner im Wortsinn: aus seinem gesamten Werk geht nicht hervor, dass er eine entsprechende Bildung genossen hätte. Das von ihm verwendete Hebräisch ist relativ einfach gehalten, so, wie ein Kaufmann schreiben würde, nicht aber ein Gelehrter.2 Es gibt die Vermutung, er sei Juwelenhändler gewesen, was auch Rückschlüsse auf den Zweck seiner Reise zuliesse: nämlich im Rahmen einer schlicht nur als „Weltreise“ zu bezeichnenden Fahrt vielleicht Möglichkeiten internationaler Handelsbeziehungen zu erkunden – führte ihn diese Reise doch in fast alle Gegenden der damals bekannten Welt – quer durch Europa, durch weite Teile Asiens und dann durch Nordafrika zurück nach Europa. Im Unterschied zu anderen zeitgenössischen jüdischen Reisenden endete seine Fahrt nicht in Palästina: er kehrte ins heimatliche Spanien zurück. Ob die Reise also Pilgerfahrt oder Geschäftsreise, vielleicht eine Kombination aus beidem war, ist nicht gesichert.3 Von manchen Autoren wird Benjamin als „jüdischer Marco Polo“ bezeichnet,4 was kaum einem eleganten Schreibstil zuzuschreiben ist, sondern wohl auf dem Umfang seiner Reise beruht, die ihn angeblich sogar bis nach China führte. Vielleicht ist der Vergleich auch dem Umstand geschuldet ist, dass er vermutlich, ähnlich dem berühmtesten mittelalterlichen Reisenden, Marco Polo (1254–1324), seinen Bericht einem Schreiber diktierte (wobei Benjamins Werk immerhin bereits über einhundert Jahre vor Polos Il Milione entstand, vermutlich 1298/99).5

 

Zeitliche Einordnung

Man nimmt an, dass Benjamins Reise 1159 oder doch erst 1167 ihren Ausgang nahm und seine Rückkehr in den Zeitraum 1172/73 fällt. Das heisst, die Reisedauer kann mit zumindest fünf Jahren, höchstens aber vierzehn Jahren angenommen werden. In seiner Schilderung der Stadt Rom erwähnt Benjamin einen Papst Alexander. Es muss sich um den Dritten dieses Namens handeln.6 Dessen Episkopat begann im September 1159, er regierte – mit Unterbrechungen - immerhin bis 1181, wenngleich er sich nicht durchgehend in Rom aufhielt.7 Dieser Papst wird ausdrücklich namentlich erwähnt.8

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Benjamin von Tudela, Buch der Reisen, Titelblatt, Ausgabe 1633. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Benjamin_of_Tudela_1633_ed_tp.jpg?uselang=de

Art der Darstellung

Bemerkenswert ist, dass die Einleitung – geschrieben in der dritten Person – den Eindruck erwecken soll, sie sei von einer anderen Person verfasst worden, stamme also nicht von ihm selbst. Hier wird der Autor beschrieben: wir erfahren, dass Benjamin ein kluger, beständiger, in der Thora und Halacha bewanderter Mann sei, dass alles, was er von sich gegeben habe, den Tatsachen entspreche und wahr sei, was „wir“ gedruckt und genauso vorgefunden hätten. Denn er ist ja ein wahrhaftiger Mensch.9 Tatsächlich sagt diese Einleitung überhaupt nichts aus – ist doch nicht überprüfbar, ob sie nicht vielleicht in Wirklichkeit von jemand anderem stammt, der damit Benjamins Ausführungen bestätigen könnte, Dieser müsste dieselbe Reise unternommen haben, dieselben Erlebnisse und Feststellungen unterwegs gemacht haben, um die Richtigkeit seiner Aussagen auch erweisen zu können. Die Einleitung erweckt vielmehr den Verdacht, der Autor könnte selbst versucht haben, hier seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, was nicht verwundert – sind doch manche seiner Ausführungen schlechthin unglaubwürdig, wenn auch nicht so phantasievoll, um nicht zu sagen phantastisch, wie die Schilderungen anderer Reisender, oder auch einfacher Erzählungen, die nicht den Charakter von echter Reiseliteratur haben (wenn sie auch im Text selbst so genannt werden). Es sei hier nur auf die von Günther Stemberger als Münchhausiaden bezeichneten, übertriebenen Schilderungen des Rabbah bar bar Chana verwiesen, die von wundersamen Geschichten strotzen und in ihrer Übertreibung nur als sogenanntes Seemannsgarn anzusehen sind,10 oder auch die phantastischen Reisegeschichten Sindbads des Seefahrers aus den Erzählungen von 1001 Nacht.11 So weit wie in den erwähnten Geschichten reicht die Phantasie des Autors doch nicht, beziehungsweise geht seine Kühnheit nicht so weit, seinen Lesern derart phantastische Darstellungen als wahrheitsgemäss oder gar selbst erlebt verkaufen zu wollen. Es geht allerdings aus den Berichten durchaus hervor, dass er nicht alles selbst gesehen haben will, vielmehr, dass ihm so manche Details von dritter Seite zugetragen seien, worauf er selbst hinweist.

 

Schwierig zu beantworten ist die Frage, was Benjamin mit seiner Reise und dem darüber verfassten Bericht eigentlich bezweckt. Voraussetzung ist hier, dass Benjamin seine Reise wohl freiwillig unternahm, nicht also etwa durch religiöse oder politische Umstände dazu gezwungen war (wie beispielsweise Moses ben Nachman (latinisiert Nachmanides), den man nicht als freiwillig Reisenden bezeichnen kann, da er wegen der Gefahr der Verfolgung seine geliebte Heimat Spanien verlassen musste, um sich auf gar nicht bekanntem Wege nach Israel zu begeben, und von dort aus seine Eindrücke in Form von Briefen an seine in Spanien verbliebene Familie übermittelte,12 oder Moses ben Maimon (Maimonides), der ebenfalls zur Flucht gezwungen war und somit nicht ernsthaft als „Reisender“ bezeichnet werden kann. Benjamin gibt uns weder Auskunft darüber, was ihn zu dieser Reiseunternehmung veranlasste, noch, wie er diese tatsächlich bewerkstelligen konnte, auch nicht, wie er sie finanzierte, oder wo er unterwegs Unterkunft fand. Er wiederholt lediglich stereotyp gewisse Entfernungsangaben, entweder in Längenmassen (Parasangen) oder in der Anzahl der zurückzulegenden Tagesreisen (wobei er nicht etwa sagt, er habe diese oder jene Anzahl von Tagen benötigt, sondern lediglich, dass es von A nach B so und so weit sei). Manchmal erwähnt er, dass man von einem Ort zum anderen mit einem Schiff gelangen könne, wobei aber nicht gesagt wird, ob er tatsächlich Schiffsreisen unternahm; dies ist aber wohl zu schliessen, da er keine auf dem Landwege besuchten Orte erwähnt oder beschreibt.

 

Martin Jacobs erläutert im einleitenden Kapitel seines Buchs Reorienting the East, über Medival Jewish Travelers and Their Writings, verschiedene Arten von Darstellungen, die man unter Reiseliteratur subsumieren kann: die reine Reisebeschreibung, die Aufzählung heiliger Stätten, Handbücher für Pilger, Tagebücher und Briefe, poetische Hervorhebungen und eine grosse Bandbreite von Mischformen.13 Als geradezu exemplarische Form der mittelalterlichen jüdischen Reiseliteratur bezeichnet er jene des Itinerary, also eine Beschreibung des Weges selbst, die Abstände zwischen den aufgesuchten Orten angibt und nähere Ausführungen zu den (für den Erzähler) von Interesse erscheinenden Orten enthält. Tudelas massa‘ ot erscheint geradezu als Musterbeispiel eines Itinerariums, ergeht er sich doch für den ganzen Verlauf seiner Reise in Aufzählungen von Distanzen und Schilderungen von besuchten Orten, wenngleich sein Interesse vornehmlich der dort angetroffenen jüdischen Bevölkerung, und manchmal auch deren Lebensweise, meist unter Aufzählung herausragender Persönlichkeiten (Gelehrte, Gemeindevorsteher), gilt. Der Umstand des Vorhandenseins verschiedener Textfassungen gibt Anlass zu Spekulationen über den angesprochenen Leserkreis (Aschkenasim in der Londoner Handschrift oder italienisch-jüdische Leser für die Ferrara-Ausgabe?). Die verwendete Sprache deutet jedenfalls nicht auf ein höher gebildetes Publikum hin, wenngleich der Umstand der Verwendung zahlreicher arabischer Begriffe schon darauf schliessen lässt, dass der Autor selbst zumindest rudimentäre Kenntnisse dieser Sprache besass. Sein Herkunftsort befand sich bereits seit rund einem Jahrhundert im christlichen Herrschaftsbereich, im Gegensatz zum nach wie vor arabisch dominierten Süden Spaniens.14

 

Reiseverlauf und Art der Beschreibung

Benjamin zieht aus seiner Heimatstadt Tudela vorerst nach Saragossa, von dort weiter nach Tarragona und dann weiter nach Barcelona, wobei die Strecken hier in Tagesreisen bemessen werden. Dort erwähnt er erstmals, es gebe eine jüdische Gemeinde und dieser stünden „gelehrte und verständige Männer“ vor, die er auch namentlich benennt. Dass er selbst stark am Handel interessiert ist, möglicherweise selbst dem Handelsberuf nachging, zeigt sich hier erstmalig in der Schilderung der Handelsbeziehungen dieser Hafenstadt, nämlich nach Griechenland, Genua, Sizilien, Ägypten, Israel und afrikanischen Ländern. Benjamin zieht weiter, über Gerona nach Montpellier, das ebenfalls ein trefflicher Handelsort sei – man komme von überall zum Zwecke des Handels hierher: sowohl Christen als auch Muslime aus dem Herrschaftsbereich Gross-Roms, aus Ägypten, Israel, Frankreich, Asien und England. Natürlich wird auch auf die gelehrten Rabbiner verwiesen. So geht es weiter bis Marseille, welches über gleich zwei jüdische Gemeinden verfüge. Von hier könne man ein Schiff nehmen, um Genua zu erreichen, das ebenfalls am Meer liege. Die Reisedauer wird mit vier Tagen angegeben. Ob Benjamin tatsächlich zur See die Überfahrt vornahm, wird nicht ausgesagt, nur die theoretische Möglichkeit beschrieben. Schliesslich geht es weiter in die grosse Stadt Rom, Hauptstadt des Königreiches Edom (Synonym einerseits für Rom, andererseits für die Christenheit überhaupt). Hier wird eben jener Papst Alexander III. erwähnte, dessen Regierungsdaten eine zeitliche Einordnung des Berichtes ermöglichen. Angesichts der Grösse der Stadt Rom wird hier auch eine genau architektonische Beschreibung vorgenommen. Benjamin dürfte sich dort also mehrere Tage aufgehalten haben, um das alles kennenzulernen.

 

Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sämtlich weitere Stationen, die Distanzen zwischen denselben und die Fortbewegungsweise zu schildern – wobei Benjamin selbst offen lässt, ob er seine Tagesmärsche zu Fuss zurücklegte oder auf dem Rücken eines Pferdes (nur gehobenen Kreisen vorbehalten, für Juden zeitweilig überhaupt verboten) oder eines Esels, (wobei letztere Fortbewegungsform kaum eine Beschleunigung ermöglichte). Originell ist die Darstellung der Gewinnung von Petroleum, das bei Sorrento aus der Meerestiefe sprudele und zu Heilzwecken verwendet werde. Nur selten erklärt Benjamin, welchen Tätigkeiten die von ihm angetroffenen jüdischen Bewohner nachgehen, so etwa in Brindisi, dessen geringe jüdische Bevölkerung dem Beruf der Färberei nachgeht. Bei seinen Personenaufzählungen (zehn Juden in Brindisi, hingegen fünfhundert in Otranto) ist davon auszugehen, dass er hier jeweils nur die Haushaltsvorstände zählt, zu denen also Familienmitglieder und weitere Hausbewohner hinzu zu rechnen wären – anderenfalls wäre schwer zu erklären, wie etwa in einem Ort, in welchem nur zwei Juden lebten, diese überhaupt den Fortbestand einer jüdischen Gemeinde gewährleisten könnten. Besonders wichtig scheint Benjamin die Nennung der jeweiligen Gemeindevorsteher (Rabbinen) sowie ortsansässiger Gelehrter zu sein. Er führt auch aus, das Dasein der jüdischen Bevölkerung wäre mancherorts gefährdet, so etwa in Sinon Potamo (heute Lamia, Griechenland) wo die Wallachen zwar jüdische Namen trügen und von sich selbst sagten, sie seien Juden, diese aber tatsächlich beraubten und töteten, sobald sie Gelegenheit dazu hätten.

 

Begreiflicherweise widmet Benjamin der Schilderung von Konstantinopel viel Aufmerksamkeit, einer Stadt, in der er ganz unermesslichen Reichtum vorfindet (wie später nur in Bagdad). Er vergleicht das religiöse Zentrum mit Rom, schildert den Reichtum der Hagia Sophia und der Paläste. Auch der Ablauf des Weihnachtsfestes wird näher erklärt. Ferner wird ausführlich über Unterhaltungsspiele im Hippodrom berichtet, über die vorhandenen enormen Schätze, natürlich auch über die jüdische Gemeinde, die hier allerdings ausserhalb der eigentlichen Stadt lebt. Von Konstantinopel geht es über die griechischen Inseln schliesslich nach Armenien und weiter nach Antiochia. Hier wird auch über den Beruf des Glasmachers der wenigen ansässigen Juden berichtet. Weiter geht es ins Land Israel, mitsamt Schilderung eines bedeutenden Erdbebens, bei dem mehr als 20.000 Menschen den Tod gefunden hätten. Arg geht der Autor mit dem Volk der Drusen ins Gericht, die er als Heiden ohne jegliche Religion bezeichnet: sie wohnten in den Bergen, hätten keinen Fürsten und betrieben Unzucht („Blutschande“). Interessant ist die Schilderung eines Gebietes namens Gebel am Fuss des Libanon: dort lebten die Assassinen (arabisch: Al Hashishin), die auf Geheiss ihres Ältesten selbst Könige ermordeten (nicht umsonst wird der englische Ausdruck für Attentäter – assassin – von diesem Namen abgeleitet; eine gleichartige Darstellung findet sich übrigens in Marco Polos Il Milione).15 In seiner Schilderung Israels lässt Benjamin es nicht bei den Orten bewenden, sondern erzählt auch über manche Stämme, die dort lebten. Besonderes Augenmerk legt er naheliegenderweise auf die Schilderung von Jerusalem und Umgebung. Wo es ihm bemerkenswert erscheint, verweist er auf das Vorhandensein von Akademien beziehungsweise schildert ihm grossartig erscheinende Bauwerke, so etwa den Palast von Baalbek. Er zeigt, wo noch Synagogen existierten, aber auch Moscheen der muslimischen Bevölkerung.

 

Weiter geht es in das Land Persien, nach Mosul; Benjamin beschreibt auch untergegangen Städte wie etwa Ninive und Assur. Sehr ausführlich widmet er sich der Schilderung von Bagdad (dessen Blütezeit bei seinem Erscheinen längst vorüber war). Die Beschreibung von Bagdad nimmt mehr Raum ein als die Jerusalems. Bemerkenswert ist Benjamins Schilderung vom Kalifen-Hof und von der Person des Kalifs, der den Juden sehr zugetan sei und bei dem auch viele von ihnen in Diensten stünden. Den Kalifen vergleicht er sogar mit dem Papst als oberstem Herrscher der Christenheit.16 Dabei begibt er sich ganz intensiv in das Reich der Phantasie, dichtet er doch dem Kalifen an, dieser stelle (als Beherrscher der Gläubigen!) eigenhändig Matten her, um sie verkaufen zu lassen und lebe somit nur von seiner Hände Arbeit. Der Kalif spreche alle Sprachen, lese und schreibe selbstverständlich auch Hebräisch und sei ein Kenner der mosaischen Gesetze. Er verlasse seinen Palast nur einmal im Jahr, um den Ramadan zu begehen, und reite auf einem königlichen Maultier durch die Stadt.

Weshalb dieser Herrscher in so grossartigem Lichte dargestellt wird, ist nicht nachvollziehbar: lasse dieser doch seine Verwandten in ihren Palästen einsperren, damit sie ihm nicht gefährlich werden könnten. Dasselbe gelte übrigens für Verrückte: sie würden im Sommer wegen der Hitze, die ihnen offenbar besonders zusetze (ein auch heute zu beobachtendes Phänomen) in einem eigenen Palast untergebracht, um sie im Winter wieder freizulassen. Diesem Herrscher huldigten einerseits die Fürsten muslimischer Länder wie Arabien, Persien, aber auch Tibet und Samarkand. Benjamin schildert weiter, der Kalif würde andererseits auch eine Art Pessach-Opfer darbringen. Wichtig ist dem Autor die Person des Daniel ben Chasdaj, Israels Exilarchen, der seine Abstammung bis König David zurück nachweisen könne (was sei dagegen schon der Kalif, der seine Abstammung nur bis zum Propheten Mohammed verfolgen könne). Der Exilarch ist mit grosser Macht über alle jüdischen Gemeinden ausgestattet, geniesst auch bei den Muslimen grosses Ansehen, denn Mohammed selbst verfügte, dass ihm von allen Angehörigen irgendeines Volkes grosse Ehrerbietung entgegenzubringen sei.

 

Intensiv beschäftigt sich der Autor mit der Architektur Bagdads, einer sehr grossen und reichen Stadt, in der es nicht weniger als achtundzwanzig Synagogen gebe, darunter auch die grosse Synagoge des Exilarchen. Bagdad sei nicht nur eine grosse Handelsmetropole, denn hier leben zahllose Gelehrte, Philosophen und Wissenschaftler, aber auch Magier, die jede Art von Zauber kennen. Auch gebe es nirgendwo Mediziner, die jenen Bagdads gleichkämen; Benjamin lobt die Muslime, die Bagdad zu einem medizinischen Zentrum ersten Ranges gemacht hätten. Die königlichen Ärzte seien allerdings syrische Christen, und die jüdischen Ärzte Babylons müssten ihre Ausbildung an jüdischen Akademien erlangen, da sie von anderen Ausbildungszentren ausgeschlossen seien. Generell seien die Juden Bagdads sehr gebildet und überwiegend reich. Auch hier schildert der Autor die längst zerstörte alte Stadt Babel sowie diverse Heiligtümer, wie etwa das Grab des Propheten Ezechiel oder die Gräber diverser Könige. Bemerkenswert ist die Schilderung von Saba, „Al Mayin“ genannt: hier gebe es einen jüdischen Stamm, der zusammen mit Arabern auf Raubzüge gehe und nicht von anderen Völkern unterdrückt werde. Auffällig ist die Schilderung der Stadt Tilmas, in der sogar 100.000 Juden leben sollen und in deren Umgebung die Nachkommen der Stämme Reuben, Gad und Manasse leben sollten. Auffällig ist, dass die geschilderten Gemeinden wie Mahabad sehr gross sind, dasselbe gilt für Hammada in Medien, dem Begräbnisort von Mordechai und Ester, auch in den persischen Städten gibt es jeweils eine sehr grosse jüdische Bevölkerung. Man gewinnt den Eindruck, je weiter man nach Osten gelangt, desto grösser wird die Dichte der jüdischen Bevölkerung. Als gross werden die Distanzen nach Samarkand, nach Tibet und Naisabur geschildert. Offenbar nur vom Hören-Sagen weiss Benjamin, dass dort Nachkommen der Stämme Dan, Zebulon, Ascher und Naftali leben.

 

Dem Leser erscheint im weiteren Verlauf der Lektüre immer unwahrscheinlicher, dass der Autor an den beschriebenen Orten selbst gewesen sein könnte, schliesslich werden hier auch zu Benjamins Lebenszeit bereits historische kriegerische Ereignisse zwischen Persern und Juden geschildert. Hier wird demnach die rein geographische, topographische Schilderung durch historische Begebenheiten erweitert. Schliesslich beschreibt Benjamin – offenkundig von Weitem – auch noch das Land Sin (China), wobei er vermutlich der erste westlich Erzähler ist, der das Land mit diesem Namen bezeichnet. Hier wird die Schilderung recht abenteuerlich, zu, Beispiel bei der Darstellung eines Schiffbruches und der Rettung aus dem Eismeer durch einen Adler (das erinnert schon an die von Stemberger als Münchhausiade bezeichnete Erzählform bei Rabbah bar bar Chana17. Hier werden übrigens die Entfernungen immer grösser. Von Indien geht es plötzlich nach Libyen, also über eine schier unglaubliche Entfernung, ohne dass hier Zeit- oder Wegangaben gemacht werden. Dort wird die Schilderung wieder einfallsreich, insbesondere was die Bewohner entlang des Nils betrifft, die – Tieren gleich – Gräser essen sollen, nackt gingen und keinen Verstand besässen. Die Bewohner von Assuan machten viele Gefangene, um sie dann als Sklaven zu verkaufen, diese seien schwarze Sklaven, die Nachkommen von Ham.

 

Sehr ausführlich widmet sich Benjamin der Schilderung Ägyptens und des Phänomens der Nilhochwässer. Recht phantasievoll ist die Schilderung von Alexandria, insbesondere den Leuchtturm und dessen Glasspiegel an der Spitze betreffend, mit welchem man ein Schiff schon in einer Entfernung von zwanzig Tagen ausmachen könne. Die Bedeutung der Stadt wird wiederum durch die Aufzählung der unzähligen Handelsbeziehungen klar gemacht, wobei übrigens im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Städten sehr viele Städte und Länder, mit denen Handel betrieben werde, aufgezählt sind.

 

Nach einem Abstecher zum Berg Sinai und dem Roten Meer kehrt Benjamin nach Damietta zurück um von dort eine zwanzigtägige-Seereise nach Sizilien anzutreten. Über das ausführlich beschriebene Palermo geht es schliesslich – wieder auf dem Seeweg – in das Gebiet Roms. Von Lucca aus braucht man zwanzig Tage nach Verdun, wo das Land Alemannien (Deutschland) beginne, das auch als Aschkenazy bezeichnet wird. Bei den vielen verschiedenen Städten an Rhein und Mosel lässt der Autor es mit deren Aufzählungen bewenden, nicht ohne zu erwähnen, dass hier viele Gelehrte und reiche Juden wohnten. Nebenbei werden Prag und Kiew erwähnt, und hier auch räumt der Autor ein, er habe diese Orte nicht selbst besucht. Von Russland beschreibt Benjamin die enorme Kälte. Schliesslich „springt“ er von Auxerre nach Paris, der Königsstadt, in welcher es so viele Gelehrte gäbe, wie man sonst auf der ganzen Welt nicht finde, die sich Tag und Nacht mit der Thora beschäftigten. Hier wird der Bericht „beendet“ und „abgeschlossen“, die Rückkehr ins heimatliche Spanien wird also gar nicht explizit geschildert.

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Karte zum beschriebenen Reiseverlauf. Aus dem 1907 erschienenen Buch "The Itinerary of Benjamin of Tudela", auf Englisch übersetzt von Marcus Nathan Adler. (1864–1897). Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://de.wikipedia.org/wiki/Benjamin_von_Tudela#/media/Datei:Benjamin_of_Tudela_route.jpg

 

 

Conclusio: Eine Weltreise im Vergleich mit anderen zeitgenössischen oder späteren jüdischen Reisenden

Benjamins Schilderung entwickelt sich zwar entlang eines Reiseverlaufs, lässt aber keine durchgehende Struktur erkennen, sie ist „plotless“:18 der Autor schrieb einfach auf, was er sah oder hörte.19 Im Vergleich zu zeitgenössischen Reisenden ist doch bemerkenswert, dass sich hier kein grosser jüdischer Gelehrter auf den Weg machte, wie etwa Nachmanides (1194–1270) oder Maimonides. Benjamin unterscheidet sich auch von dem nur unwesentlich später reisenden Petachia von Regensburg (1170/1187). Dessen Route führte, ausgehend von Prag, über Südosteuropa, den Kaukasus, das Schwarze Meer, Mesopotamien und schliesslich Palästina und wäre im Umfang vergleichbar. Doch Petachia hatte, anders als Benjamin, eine qualifizierte Ausbildung, und der Art seiner Darstellung ist zu entnehmen, dass er die geschilderten Umstände auch tatsächlich selbst erlebt hat. Bei anderen Autoren ist der Zweck der Beschreibungen deutlich im Vordergrund, dies gilt nicht nur für jüdische Reiseschriftsteller, sondern auch für christliche und muslimische Erzähler. Sie legen Begebenheiten der von ihnen vorgenommener Pilgerfahrten dar, um Nachfolgenden ihre Eindrücke zu schildern, aber auch, um Reisenden nützliche Informationen zu vermitteln. Als Beispiele seien hier die „Briefschreiber“ Meshullam von Volterra (1481) und Obadiah von Bertinoro (1465–1515) genannt.20 Benjamin mangelte es sicherlich an der nötigen sprachlichen Kompetenz, die Poeten wie Judah Halevi (1074–1141) oder Judah Alharizi (1165/70–1225/35), beide ebenfalls aus Spanien stammend, eignete: deren Beschreibungen ist zwar ein realistischer Hintergrund zu entnehmen, in ihrer dichterisch gehobenen Sprache steht die künstlerische Gestaltung aber deutlich im Vordergrund.21 Dort, wo Benjamin Geschichten von aussen zugetragen wurden oder eine Übertreibung in der Darstellung leicht erkennbar wird, ist er doch noch weit entfernt von den imaginären Reisen solcher Autoren wie Eldad Ha Dani (um 880) oder David Reuveni (1490–1535/41), die sich ganz in phantastischen Geschichten ergehen, einer Art früher Phantasieliteratur.22 Vielleicht sind ja auch jene eingestreuten, schwer nachvollziehbaren Übertreibungen bei Benjamin bloss dazu gedacht, die mehr- oder minder willkürliche Aneinanderreihung örtlicher Gegebenheiten aufzulockern, indem ein Spannungsbogen – wenn auch mühsam – aufrechterhalten wird. Er beschränkt sich allerdings nicht auf die numerische Aufzählung angetroffener jüdischer Bewohner, deren Gemeindevorsteher und Gelehrter, sondern berichtet auch über Besonderheiten, vor allem architektonischer Natur.

 

Vom Umfang der Erzählung her – zeitlich wie örtlich – ist diese Schilderung mit jener Marco Polos durchaus zu vergleichen, wenngleich Benjamins Text nicht mit so vielen historischen Begebenheiten angereichert ist. Benjamin von Tudela wurde als „unser erster Reisender“ von Leopold Zunz bezeichnet (in seinem Anhang zu Adolf Ashers erster englischen Ausgabe von The Itinerary of Rabbi Benjamin of Tudela, 2 vols, New York 1840-4123. Als bedeutendster jüdischer Reisender seiner Zeit wurde er sicher zurecht als jüdischer Marco Polo bezeichnet.24 Sandra Benjamin lässt Tudela in Form fiktiver Briefe nach Spanien sprechen, so, als hätte er die einzelnen Stationen und Begebenheiten tatsächlich jeweils unmittelbar festgehalten und an die daheim Zurückgebliebenen berichtet, wie man dies durchaus von anderen Autoren kennt.25 Auch wenn dieser Ansatz Fiktion ist – es sind keine Briefe bekannt – muss sich der Reisende doch Notizen gemacht haben, eine Art Reisetagebuch, vielleicht nur mit Kurzeinträgen (?), um seine immerhin über mehrere Jahre verteilten Erlebnisse und die von ihm erhobenen „statistischen Daten“ zur jüdischen Bevölkerung festzuhalten, da weder anzunehmen ist, er hätte seinen Bericht nach der Heimkehr frei erfunden (Münchhausiade), noch, dass er so viele detaillierte Angaben einfach aus dem Gedächtnis reproduzieren hätte können.

 

Martin Jacobs stellt einen interessanten Vergleich zum bedeutendsten muslimischen Reisenden her, der aus dem südlichen, muslimisch beherrschten Spanien kam, Ibn Jubayr aus Valencia (1145–1217). Dessen Bericht Ribla (Reise) ist in einem literarisch gehobenen Arabisch abgefasst. Jacobs stellt die seiner Ansicht nach treibenden Motive der beiden so verschiedenen Reisenden einander gegenüber: für Ibn Jubayr die „umma“ (religiös fundierte Gemeinschaft der Muslime), als religiöse und politische Einheit unter der Herrschaft der Almohaden, für Benjamin hingegen die Idee einer „diasporic connectivity“, die einen Geist von Einheit und Verbindung der unter verschiedensten christlichen und muslimischen Herrschaften verstreuten Juden bilden konnte.26 Dies mag die durchaus schlüssige Erklärung für Benjamin von Tudelas gewagtes, gleichsam weltumspannendes Unternehmen zur Erforschung und Berichterstattung über die existierende jüdische Bevölkerung, wo immer sie sich aufhielt, sein.

 

Eine Kurzfassung dieses Beitrags ist bereits in der Printausgabe von Heft 145, Sommer 2025, S. 38f. erschienen.

 

Anmerkungen

1 Adler (1907), S. XII–XV.

2 Benjamin (1995), S. 10.

3 Schliwski (2022), S. 546.

4 Jacobs (2019), S. 203.

5 Polo (1983).

6 Encyclopaedea judaica2 vol 3, S. 362–363.

7 Reinhardt (2017), S. 311-317.

8 Benjamin von Tudela (1988), S. 6.

9 Benjamin von Tudela (1988), S. 3.

10 Stemberger (2010), S. 299–316.

11 Littmann (1953), S. 97–208.

12 https://www.jewishhistory.org/nachmanides/, abgerufen am 02.05.2024.

13 Jacobs (2014), S. 21.

14 Jacobs (2019), S. 205.

15 Polo (1983), S. 360-364.

16 Schliwski (2022), S. 551.

17 Stemberger (2010), S. 299.

18 Jacobs (2014), S. 34.

19 Jacobs (2019), S. 210.

20 Jacobs (2014), S. 31-41.

21 Jacobs (2014), S. 46-47.

22 Jacobs (2014), S. 43-44.

23 Jacobs (2019), S. 204.

24 Jacobs (2019), S. 203.

25 Benjamin (1995), S. 12.

26 Jacobs (2019), S. 232.

 

Nachlese

Adler (1907).

Adler, Marcus Nathan, The Itinerary of Benjamin of Tudela: Critical Text, Translation and Commentary, Oxford University Press, London 1907.

 

Benjamin (1995).

Benjamin, Sandra, The World of Benjamin of Tudela, A Medieval Mediterranean, Travelogue, Associated University Presses, Cranbury, London u.a. 1995.

 

Benjamin von Tudela (1988).

Benjamin von Tudela, Buch der Reisen, Seferha-Massa’ Ot, ins Deutsche übertragen von Rolf P. Schmitz, Reihe Judentum und Umwelt, herausgegeben von Johann Maier, Band 22., Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main, Bern, New York u.a., 1988.

 

Encylopaedia Judaica, Second Edition, Vol 3, Cecil Roth, Benjamin (Ben Jonah) of Tudela, p. 362-364.

 

Encylopaedia Judaica, Second Edition, Vol 20, Menachem Schmelzer, Jewish Travelers, p 116- 118.

 

Jacobs (2014).

Jacobs, Martin, Reorienting the East, Jewish Travelers to the Medieval Muslim World, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2014.

 

Jacobs (2019).

Jacobs, Martin, “A day’s journey”: Spatial Perceptions and Geographic Imagination in Benjamin of Tudela’s Book of travels, The Jewish Quarterly Review Vol 109 Nr 2, p. 203-235, 2019.

 

Littmann (1953).

Littmann, Enno, Die Erzählungen aus den 1001-Nächten, auf Deutsch von Enno Littmann nach dem arabischen Urtext der Kalkuttaer Ausgabe aus dem Jahre 1839, Insel Verlag, Frankfurt 1953.

 

Polo (1983).

Polo, Marco, Il milione, Die Wunder der Welt, Deutsch Elisie Guiglard, Manesse Verlag, Zürich 1983.

 

Reinhardt (2017).

Reinhardt, Volker, Pontifex, die Geschichte der Päpste, CH Beck Verlag, München 2017.

 

Rüger (1990).

Rüger, Hans Peter, Syrien und Palästina nach dem Reisebericht des Benjamin von Tudela, übersetzt und erklärt von Hans Peter Rüger, in Abhandlungen des deutschen Palästina Vereins, Siegfried Wiegmann und Manfred Weippert (Hg), Band 12, Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1990.

 

Schliwski (2022)

Schliwski, Carsten, Problematische Neugier – Jüdische Reiseberichte im Mittelalter

in Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln, Curiositas, (Hg.) Andreas Speer und Robert Maximilian Schneider, De Gruyter, Berlin, Boston 2022.

 

Stemberger (2010).

Stemberger, Günther, Münchhausen und die Apokalyptik – Bavli Bava Batara, 73a-57b als literarische Einheit in Judaica Minora II; Geschichte und Literatur des rabbinischen Judentums, Tübingen 2010.

https://www.jewishhistory.org/nachmanides/ , abgerufen am 02.05.2024.