Ausgabe

Das Gefühl der Eile

Kerstin Kellermann

Ein Nachruf auf die Journalistin und Autorin Peggy Parnass, die als Kind flüchten musste und nun mit 97 Jahren in Hamburg starb.

Inhalt

Das Licht an meinem Anrufbeantworter blinkte. Sieben Nachrichten von der gleichen ungeduldigen Person: „Hallo, hier ist Peggy. Wo steckst du überhaupt? Wenn du woanders bist, hättest du doch die Nummer von dort hinterlassen können. Also, bis bald. Tschüsstschüsstschüss!“

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Die Gerichtsreporterin und bekannte Autorin und Peggy Parnass besuchte Wien. Das war im Jahre 1999 und sie folgte einer Einladung der Internationalen Erich Fried Gesellschaft für Sprache und Literatur zum Symposium „Altes Land, neues Land. Verfolgung, Exil, biografisches Schreiben“ im Wiener Literaturhaus. In ihrem Buch Süchtig nach Leben beschrieb Parnass, warum sie so flott und energisch Leben sammelte:

„Für das Wort Alter könnte ich genauso das Wort Tod einsetzen. Darum arbeite ich auch so viel. Immer in Eile. Ich habe früher gedacht, dass ich mit spätestens 25 sterben würde. Darum hatte ich es immer so eilig, soviel zu tun, soviel zu erleben. Dann habe ich zwar gemerkt, dass ich nicht so früh sterben muss, aber dieses Gefühl der Eile hat mich nie verlassen. Und wenn ich das mal ganz kurz vergesse, dann stirbt immer schnell jemand, den ich liebe!“ 

 

In den 1980er Jahren hatte Peggy Parnass in den Wiener Ämtern nach Aufzeichnungen über die Geschwister ihres Vaters Simon Parnass gesucht, eines polnischen Juden und Sozialisten, der in Treblinka ermordet wurde. Leider fanden sich keine Spuren ihrer Angehörigen.

 

Die Frage der Rache

Seit 1970 veröffentlichte Peggy Parnass über hundert Gerichtsreportagen, grossteils in der Hamburger Zeitschrift konkret. Sie verbrachte ihre Tage bei Gericht, schrieb gegen die Verharmlosung nationalsozialistischer Täter an und prangerte deren zumeist grosszügige Haftverschonungen an – gewährt von Richtern mit manchmal ähnlichem Background.

 

„Die Auschwitztäter sind fast alle, obwohl die unvorstellbarsten Dinge in dem langen Prozess gegen sie an den Tag kamen, auf freiem Fuss… Es gab auch den Volljuristen Dr. jur. Hahn, den Henker von Warschau. Er war auf freiem Fuss während seines ganzen Prozesses… 900.000 Menschen sind auf seine Veranlassung umgebracht worden.“

(zitiert aus: Süchtig nach Leben).

 

Im Literaturhaus trug Parnass damals im Jahre 1999 einen Text über Rache vor, selten wurde über Rache so offen und direkt geredet:

„Ich finde es unerträglich, dass sich niemand gerächt hat. In den Naziprozessen sind die Zeugen gebrochen und nicht die Täter“, konstatierte sie. Prompt fragt sie der Moderator, ob man denn so „unversöhnt leben“ könne? Peggy Parnass versuchte nach dem Krieg die Milchfrau, die ihrer Mutter Ohrfeigen verpasst hatte, zu konfrontieren. Doch ohne ein Wort herauszubringen, verliess sie die zitternde Milchfrau, die glaubte, das Gespenst von Peggys ebenfalls in Treblinka ermordeten Mutter ginge um:

„Niemand konnte, weil man ja der zivilisierten Welt angehört, die Milchfrau ohrfeigen. Ich hatte lange den Eindruck, dass ich die Einzige bin, die am Zerspringen war. Mein Hass nährt sich aus der leidenschaftslosen Reaktion der anderen.“

 

Wut gibt Kraft

Peggy Parnass schreibt ihr Leben lang, emotional und engagiert. „Schreiben erleichtert. Lenkt ab. Vertreibt Depressionen. Sorgt, da ich ja fast immer über Menschen vor Gericht schreibe, allerdings dann für andere Depressionen. Gott sei Dank auch für Wut. Sprich: Kraft“, steht in ihrem Buch „Kleine radikale Minderheit“. Doch im Alltag traf sie neben den Nazi-Tätern auf lauter „kleine Männer und Frauen“:

„Rache wollte ich. Und zum verlängerten Arm kleiner Gestrauchelter wurde ich. Zu deren Sprachrohr.“

 

Peggy Parnass meinte einmal, das Schreiben über andere Menschen habe ihr geholfen, sich selber frei zu schreiben. Denn jahrzehntelang sprach sie mit niemanden über ihre Kindheit. Mit der brasilianischen Künstlerin Tita do Rego Silva, die ihr gegenüber wohnte, aber doch. Im Jahre 2014 erschien dann das wunderschöne Holzschnitte-Bilderbuch Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete (Fischer Verlag). Die geliebte Mutter setzte die Kinder gerade noch rechtzeitig in den Zug nach Schweden. Selbst ging sie zurück zu ihrem Mann ins Todeslager, obwohl sie noch einmal herausgedurft hatte. Dieses Verhalten erklärte sich Peggy mit der riesigen Liebe ihrer Mutter Hertha Emanuel. Die den polnischen Juden Simon „Pudl“ Parnass heiss begehrte. Im Buch beschreibt sie den Tod ihrer Mutter, die sogar „gegen ihren Willen noch mal freikam“, so:

„Und mit ihm ist sie dann ja auch gestorben. Sie war gar nicht richtig mit verhaftet, weil sie nicht angemeldet war. Sie hat richtig darauf gepocht, mitzudürfen.“

 

Eine existenzielle, ambivalente Wunde, denn die Mutter hätte ja auch mitsamt ihren Kindern fliehen können. Beim Besuch in Hamburg 2014 hängt ein grosses Bild der Mutter mitsamt der kleinen Peggy am Schoss über dem Bett. Darunter sitzt Peggy Parnass auf ihrem Bett und ist noch immer ganz schön wütend.

 

Viele werden sie vermissen. 

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Drei Holzschnitte, aus: Peggy Parnass/Tita do R.go Silva: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete.

Verlag Fischer Sauerländer 2014. Mit freundlicher Genehmigung Tita do Rego Silva.

 

Nachlese

Süchtig nach Leben (Konkret Literatur Verlag, 1990)

Kleine radikale Minderheit (Konkret Literatur Verlag, 1985)

Peggy Parnass, Tita do Rego Silva: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete (Fischer Verlag 2014)