Christoph Tepperberg
Kalman Segal: Auf der Insel. Roman. Übersetzt aus dem Polnischen von Agnieszka Jankowska, mit einem Nachwort von Christian Kloyber. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2024.
Taschenbuch, 158 Seiten, 8 SW-Abbildungen; Euro 21,00.-
ISBN: 978-3-903522-21-3
Kalman Segal: Lider. Gedichte, herausgegeben, aus dem Jiddischen ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen von Agnieszka Jankowska. Berlin-Leipzig: Hentrich & Hentrich 2025.
Hardcover; 221 Seiten, 5 SW-Abbildungen (Zeichnungen); Euro 24,90.-
ISBN 978-3-95565-701-7
Kalman Segal war ein polnisch-jüdischer Lyriker, Schriftsteller und Radiojournalist. Er wurde am 29. Dezember 1917 in Sanok/Galizien (heute: Polen) geboren und verstarb am 18. Mai 1980 in Jerusalem. Seine Eltern waren Ita Manaster und der Landwirt Leib Segal. In seiner Jugend engagierte sich Kalman Segal in der kommunistischen Bewegung seiner Heimatstadt. 1939 wurden er und seine Eltern nach Sibirien verschleppt. Zurück in Polen, floh er 1946 vor dem Judenhass im Nachkriegspolen in die amerikanische Besatzungszone nach Österreich. Dort arbeitete als Lehrer in einem Waisenhaus des Jewish Joint Distribution Committee auf dem Bürglgut bei Strobl am Wolfgangsee. 1948 begann in Linz seine literarische Laufbahn. Sein Lebensthema wurde der Erhalt der Yidishkayt und die Erinnerung an die durch den Holocaust verlorene Welt. Kalman Segal debütierte in Polen als Lyriker mit drei Gedichtbänden in den Jahren 1952–1954. Ab 1956 publizierte er fünfzehn Prosawerke in polnischer Sprache und wurde zu einem vielgelesenen polnischen Schriftsteller. Sein Erfolg führte dazu, dass er vier Prosawerke selbst ins Jiddische übersetzte und in Polen veröffentlichte. Angesichts der anhaltenden antisemitischen Hetze emigrierte Kalman Segal 1969 über Wien und Rom nach Israel. Dort schrieb er sein letztes episches Werk auf Polnisch und den jiddischen Lyrikband Gezegenung (Abschied).
Agnieszka Jankowska ist Übersetzerin, Autorin und Herausgeberin. Sie wurde 1962 in Wien geboren. Ihre frühe Kindheit verbrachte sie bei den Eltern ihrer Mutter in den polnischen Vorkarpaten. Ihre Eltern emigrierten aus Polen nach Wien und Kittsee (Burgenland). Sie absolvierte das Gymnasium in Neusiedl am See, studierte Politologie und Internationales Recht an der Universität Wien. danach an der Johns Hopkins University-SAIS in Bologna und Washington, D.C. Es folgte eine Berufslaufbahn in multinationalen Unternehmen. Das Interesse an der eigenen polnisch-jüdischen Familie und an der Geschichte Galiziens führte in Kooperation mit der Abteilung Sanok des Polnischen Staatsarchivs zu Büchern und Beiträgen zur regionalen Sozialgeschichte. 2017 begann ihre Zusammenarbeit mit dem Austeria Verlag in Krakau: Reprint der ersten Kurzgeschichtensammlung von Kalman Segal; sie publizierte dessen erste Fremdsprachenübersetzung: Erzählungen aus dem toten Städtchen (Krakau 2018); Mitarbeit an der Herausgabe von Jeszcze żyjemy – Noch leben wir, Segals opus magnum über die zweitausendjährige Geschichte der Juden (2020). Agnieszka Jankowska ist seit 1999 verheiratet und hat drei heranwachsende Töchter. Neben ihrer literarischen Tätigkeit betreibt sie in Polen verschiedene Projekte in Wirtschaft und Kultur.
Kalman Segal führt den Leser in ein Kinderheim, das 1948 vom Jewish Joint Distribution Committee in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Militärregierung auf dem Bürglgut bei Strobl am Wolfgangsee errichtet wurde. Das Heim beherbergte verwaiste, traumatisierte und entmoralisierte Kinder, deren Eltern im Holocaust ermordet worden waren. Durch die Erziehung in diesem Waisenhaus sollte es den Kindern ermöglicht werden zu lernen, den Menschen wieder zu vertrauen; sie sollten auch auf ein neues Leben in Erez Israel oder in den U.S.A. vorbereitet werden. Der Ich-Erzähler hat selbst verschiedene Lager überlebt und findet keinen Halt in dieser Welt von Menschen, die selbst haltlos geworden sind. Mit den Kindern, die entsetzliche Entbehrungen erlitten und im Wald unter wilden Tieren gelebt hatten, findet der Erzähler aus seiner völligen Gefühlsverhärtung und Erstarrung heraus. Der Roman beschreibt Episoden auf dieser Insel des Glücks mit diesen Kindern. Die Episode findet jedoch ein jähes Ende: Das Heim wird aufgelöst:
Der Heimleiter kam zum Frühstück [...] Wir traten in den Kinderspeisesaal ein [...] „Meine lieben Kinder“, sagte der Heimleiter, „von morgen an wird dieses Haus nicht mehr unser Heim sein. (S. 122ff.)
Am Ende des Nachworts findet der Leser Quellen aus dem Archiv des American Joint Distribution Committee (S. 139-142). Darin ist auch von Lehrern die Rede, die sich im Kinderheim auf dem Bürgl engagiert hatten. Einer von ihnen war tatsächlich Kalman Segal. Der Roman Auf der Insel (S. 21-134) ist umrahmt von einem Vorwort der Übersetzerin (S. 7-19) und einem Nachwort des Mexikologen Christian Kloyber (S. 135-143). Abbildungen (S. 144-147), Kurzbiografien (S. 149-152) und ein Glossar (S.153-157) ergänzen dieses wirklich gelungene Büchlein.
Das andere hier zu besprechende Buch enthält 41 von Kalman Segals Gedichten, die von Agnieszka Jankowska aus dem Jiddischen ins Deutsche übertragen wurden. Die Transliteration vom jiddischen (hebräischen) Original besorgte Aleksandra Guja (Jagiellonen-Universität Krakau). Die jiddische Erstausgabe wurde 1952 in Warschau herausgebracht. Die vorliegende Edition umfasst die Gedichte auf Jiddisch und Deutsch (S. 1-115), ein „Glossar“, das weit mehr beinhaltet als ein herkömmliches Begriffsverzeichnis (S.118-128), eine Zeittabelle zur jiddischen Literatur (S.129-132), die Beurteilung der vorliegenden Lyriksammlung „Lider“ (S. 133-136), ein ausführliches Nachwort der Herausgeberin (S. 137-158) und schliesslich die Gedichte im jiddischen Original in hebräischer Schrift mit separater Paginierung. (S.1-65) Neu für mich war, dass „Peisach“ eine Lesart von Pejes (Schläfenlocken) ist. (S. 156)
Bei Segals Lyrik handelt es sich um ungereimte Gedichte. Er verfasste sie in seiner Muttersprache, dem Jiddischen. Die Gedichte sind empathisch, freudig, traurig, schwermütig, thematisieren Natur, Dorfleben, Alltagszenen, Tagwerk von Handwerkern und Bauern, Jahreszeiten, Geborgenheit des Kindes bei Mutter und Familie, das heimelige Zuhause, doch stets umfangen von einer gewissen Wehmut. Vor allem aber wird uns in Erinnerung gerufen, wie wunderbar und ausdrucksstark die jiddische Sprache ist. Sie wird leider von immer weniger Menschen gesprochen. Der Gedichtband trägt mit dazu bei, dass das Jiddische in der Welt lebendig bleibt. Die aufwendige Aufbereitung des Bandes entspricht allen Regeln moderner Editionstechnik. Ein rundum erfreuliches, faszinierendes und gelungenes Buch.