Christoph Tepperberg
Hannah Arendt: Über Palästina. Zwei bisher unbekannte Texte – erstmals auf Deutsch, herausgegeben von Thomas Meyer, Teile aus dem Amerikanischen übersetzt von Mike Hiegemann. München: Piper Verlag, 2024.
Hardcover, 272 Seiten, Euro 22,00.-
ISBN-EAN: 978-3-492-07319-6
Hannah Arendt (1906–1975), die berühmte jüdisch-amerikanische Philosophin, war jahrgangsgleich mit dem NS-Massenmörder Adolf Eichmann (1906–1962), der 1962 in Jerusalem hingerichtet wurde. Allgemein bekannt wurde Hannah Arendt durch ihr vielbeachtetes Buch Eichmann in Jerusalem (1963, deutsch 1964), in welchem sie den heute geläufigen Begriff von der „Banalität des Bösen“ in die Welt brachte.
Der deutsche Philosoph Thomas Meyer, geb. 1966, lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München auf dem Lehrstuhl für Metaphysik. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Leben und Werk von Hannah Arendt. Bekannt ist seine umfassende Biographie dieser streitbaren jüdischen Intellektuellen: Hannah Arendt. Die Biografie.1 2025 erschien sein Buch Hannah Arendt: Die Denkerin des 20. Jahrhunderts. Meyer ist Herausgeber der auf zwölf Bände angelegten Hannah Arendt-Studienausgabe, die seit 2020 in München erscheint, und Herausgeber des 2018 erschienenen Spiegel-Bestsellers Hannah Arendt: „Die Freiheit, frei zu sein“. Hannah Arendt gilt als Antizionistin und Israel-Kritikerin, diese Zuschreibungen haben durch den 7. Oktober 2023 wesentlich an Bedeutung gewonnen.
Nunmehr präsentiert Thomas Meyer unter dem Titel Über Palästina zwei bisher unbekannte Texte. Der 1944 – also noch vor der Staatsgründung Israels – von Hannah Arendt verfasste Aufsatz Amerikanische Aussenpolitik wurde erst jetzt in einem Archiv gefunden und wird hier erstmals veröffentlicht. (S. 11-28) 1958 war Arendt Mitglied eines Expertengremiums, das mit dem Bericht The Palestine Refugee Problem eine Lösung für die Situation der Geflüchteten im Nahen Osten formulierte. Diese beiden Fundstücke belegen ohne Zweifel Arendts lebenslanges Ringen um einen Frieden in Israel und Palästina.
Dieser umfassende Bericht ist das Ergebnis einer vom New Yorker Institute for Mediterranien Affairs organisierten Studie: The Palestine Refugee Problem. A New Approach and a Plan for a Solution, hier in deutscher Übersetzung: Das Palästinensische Flüchtlingsproblem. Ein neuer Ansatz und ein für eine Lösung. (S. 41-192) Der Bericht wurde von einem 17-köpfigen Autorengremium unter dem Vorsitz von Abba P. Lerner vorgelegt. Hannah Arendt war eine dieser 17 Palästinaspezialisten. Abba P. Lerner verfasste zur Einführung Das Problem der arabischen Flüchtlinge. (S. 31-42), sie bietet eine Zusammenfassung des anschliessenden umfangreichen Berichts.
Dem Leser der Texte springt eines sofort ins Auge: Die ausgeprägte Fürsorge des Gremiums für das Schicksal und Wohlergehen der Flüchtlinge und die wohltuende Sachlichkeit, mit der sich die Autoren damals dem Thema Palästina zuwandten. Mit Wehmut blickt man zurück auf die Jahrzehnte, in denen das Problem noch lösbar schien. Wie weit entfernt sind wir heute von diesen Verhältnissen? Kriegspropaganda, Terror, Korruption in Gaza, die tristen Lebensumstände der Palästinenser, weltweiter Antisemitismus, Emotionen, Oberflächlichkeit und Unsachlichkeit dominieren die gegenwärtigen Verhältnisse. Die in den Texten geschilderten Umstände sind längst Geschichte. Schon deshalb ist der Bericht lesenswert, präsentiert aber doch die Vergangenheit, ist ein Stück Zeitgeschichte.
Der umfassende Bericht enthält überdies 9 Anhänge. (S. 93- 192) Insgesamt zeigt sich, wie präzise die Analysen des Gremiums waren. Wertvoll für die Orientierung des Lesers sind eine „Chronologie der Ereignisse“ 1947-1858 (S. 193-206) und ein Quellenverzeichnis (207-215); dazu kommen die „Grundsätze des Institute for Mediterranean Affairs“ (S. 216f.), das Verzeichnis des „Kuratoriums“ des Instituts (S. 218-227) und Kurzbiografien der (jüdischen) Gremiumsmitglieder. (S. 231-235) Den Abschluss des Bandes bildet das ausführliche „Nachwort“. (237-263)
Das einzige, was man zu dem Buch kritisch anmerken könnte, ist die Positionierung des „Nachwortes“. Normalerweise stellt man bei einer Textedition die Erläuterungen des Editors als Einleitung an den Anfang des Bandes, um den Leser vorab zu informieren. Im vorliegenden Fall bekommt der Leser diese Information erst am Ende des Bandes und es ist nicht sofort ersichtlich, was von den Auroren und was vom Editor stammt. So hätte man die vielleicht Inhalte des „Nachwortes“ zusammen mit der „Editorischen Notiz“ (S. 9) besser an den Anfang des Bandes gestellt.
Unbeschadet dessen ist Über Palästina eine exzellente Edition, in der zwei wesentliche Texte über das Palästina der 1940er und 1950er Jahre umfassend aufbereitet wurden.
Anmerkung
1 Vgl. die Rezension von Christoph Tepperberg zu Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie. München: Piper Verlag, 2. Auflage 2023. In: DAVID, Heft 139 - 12/2023.
https://davidkultur.at/buchrezensionen/ueber-das-denken-und-handeln-einer-grossen-philosophin