Hannah Arendt und der Abgrund der Macht
Christian Baldinger
Macht – Montesquieu – Menschenrechte (?)
Es ist nicht Aufgabe einer wissenschaftlichen Arbeit, tagespolitische Ereignisse zu kommentieren oder zu kritisieren. Diese können aber dennoch zum Ausgangspunkt kritischer Überlegungen in einerseits historischer anderseits gegenwartsbezogener Hinsicht gemacht werden.
Historischer Überblick
Das Werk Hannah Arendts – die sich selbst viel mehr als Historikerin, nicht als Philosophin sah – nimmt stets kritisch Bezug auf historische Ereignisse, die analysiert und aus ihrer Sicht dargestellt werden. So beschäftigt sie sich mehrfach mit der Frage der Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus und dessen Einflussnahme auf die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution und die Schaffung einer Verfassung aus dem Geist der Revolution heraus im Sinne einer Neuschöpfung.
Aktuelle Situation und Gültigkeit
Es gilt daher zu überprüfen, inwieweit Arendts Überlegungen zu Macht, Gewalt, Machtverteilung und dem Schutz der Menschenrechte nach wie vor Gültigkeit haben beziehungsweise einen Bedeutungswandel erfuhren.
Unter dem Eindruck gegenwärtiger Verhältnisse (die Geschichte wiederholt sich?) erscheint die strikte Trennung der Gewalten einerseits zur Machtbegrenzung und insbesondere auch zum Schutz der Menschenrechte ebenso notwendig wie zum Zeitpunkt der Formulierung der Idee, beziehungsweise eigentlich mehr denn je.
Die drei Schlagwörter im Untertitel können und sollen natürlich auch als provokante Frage verstanden werden:
Arendt sah sich selbst ja nicht als Philosophin (die sie unbestrittenermassen ist!), sondern vielmehr als Historikerin (die sie naturgemäss auch ist) – gibt es doch kaum eine Periode der Philosophiegeschichte, die sie nicht einer historisch-kritischen Würdigung unterzieht. Gerade in ihren Arbeiten zur politischen Philosophie beschäftigt sie sich mit den Anfängen der Politik in der griechischen Antike bis zur (ihrer) Gegenwart. Der von anderen Philosophen zum Teil krass abweichenden Definition von Macht und deren Abgrenzung zur Gewalt widmet sie wiederholte Male Kapitel in ihren Werken, insbesondere in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Antisemitismus, Imperialismus, Totale Herrschaft, in Über die Revolution, ausführlich in Vita activa oder Vom tätigen Leben oder neuerlich deutlich in Macht und Gewalt neben zahlreichen Erwähnungen in anderen Werken und Essays.
Immer wieder nimmt sie dabei Bezug auf das bis heute die Verfassungen zahlloser Demokratien prägende Werk des „Erfinders“ der modernen Gewaltentrennung, Charles de Secondat Baron de la Brede et de Montesquieu (1698–1755; in der Folge kurz Montesquieu genannt).
Es drängt sich daher auf, einerseits auf Arendts Begriffsbestimmungen der Macht und Gewalt einzugehen und in der Folge die Grundzüge von Montesquieus bahnbrechenden Überlegungen darzustellen, schliesslich Arendts Bezüge zu diesen aufzuzeigen, letztendlich die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung von dessen System zur Gewährleistung der Menschenrechte zumindest im jeweilig innerstaatlichen Bereich in Erinnerung zu rufen, die gerade in der Gegenwart, nicht nur auf internationaler, sondern vielerorts auch auf nationaler Basis stark in Bedrängnis zu geraten scheinen.

Hannah Arendt, Portrait im Hof ihres Geburtshauses, 2024. Foto: Hannes Grobe. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hannah-arendt3_hg.jpg?uselang=de
Zu Arendts Machtbegriff
Werden politische Macht und Gewalt vielfach in der Historie gleichgesetzt, nimmt Arendt hier eine strenge Trennung vor.
Der Begriff Macht wird herkömmlich mit Herrschaft, Gewalt und Einfluss in Verbindung gebracht. Als bedeutender Theoretiker der Macht kann der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli (1469–1527) angesehen werden, der in seinem Werk Il Principe sich hauptsächlich der Frage widmet, wie ein Herrscher, der dank glücklicher Umstände an die Macht gekommen ist, seine Herrschaft auf Dauer herstellen kann, der sich dabei nicht an moralischen Grundsätzen, sondern an den Aspekten der Herrschaftssicherung und des Machterhaltes orientiert. Erörtert wird vor allem die Frage der Nützlichkeit von Handlungen zur Erhaltung der Macht, welche Gewaltanwendung durch den Herrscher durchaus einschliessen.
Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588–1679) beschäftigt sich in seinem Hauptwerk Leviathan mit dem Naturzustand des Menschen. Nach ihm leben alle in ständiger Angst und Gefahr vor einem gewaltsamen Tod im Sinne eines Krieges Aller gegen Alle. Zur Überwindung dieses Naturzustandes beziehungsweise Unsicherheitszustandes schliessen sich die Menschen in Form eines Gesellschaftsvertrages zusammen, übertragen dabei allerdings die Macht in ihrer Gesamtheit an einen Souverän. Aus dem Bedürfnis nach Sicherheit erfolgt somit die Unterwerfung unter die Souveränitätsmacht, die im Gegenzug dafür Schutz und Sicherheit vor äusseren und inneren Feinden gewährleistet. Hobbes geht von einer lebenslangen Konkurrenzsituation der Menschen um Güter aus, zu denen er auch Macht zählt. Er sieht es als einen natürlichen Trieb des Menschen an, nach Machtbesitz zu streben.[1] Er führt allerdings weiter aus, dass die souveräne Macht auf zweierlei Arten erlangt werden könne, nämlich einerseits durch natürliche Gewalt oder eben durch Vereinbarung einer Versammlung, somit Bildung eines politischen Gemeinwesens und Einsetzung durch dasselbe.[2] Eine gängig zitierte Machtdefinition ist jene von Max Weber (1864–1920), der diese wie folgt beschreibt:
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstrebende durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.
Nach ihm ist also Macht Ausdruck sozialer Beziehungen, wobei der Begriff "widerstreben" daraufhin deutet, dass keinerlei Bindung an Zustimmung vorausgesetzt wird.[3]
So ganz anders ist die Definition der Macht von Hannah Arendt (1906–1975):
„Macht entspricht der menschlichen Fähigkeiten nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammen zu schliessen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent, als die Gruppe zusammenhält“.[4]
Arendt gibt zwei kurze Definitionen:
„Macht und Gewalt sind Gegensätze: Wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden“.[5]
„Was niemals aus den Gewehrläufen kommt ist Macht.“[6]
Damit tut sie kund, dass ihrer Meinung nach diese beiden Begriffen strikt zu trennen sind, ja, ein Paar von Gegensätzen darstellen. Ihr Machtbegriff stellt auf das Miteinander-Handeln ab und ist ein zentrales Konzept ihrer politischen Theorie. Gewalt hingegen ist zwar ein menschliches Phänomen, aber ihrer Ansicht nach kein politisches.[7] Sie wendet sich dagegen, dass die Unterscheidungen zwischen Macht und Gewalt bestenfalls von sekundärer Bedeutung wären, da es in der Politik immer nur um die entscheidende Frage ginge: „Wer herrscht über wen?“ Macht, Stärke, Kraft, Autorität, Gewalt – all diese Worte bezeichnen nur die Mittel, deren sich Menschen jeweils bedienen, um über andere zu herrschen; man kann sie als Synonym gebrauchen, weil sie alle die gleiche Funktion haben. Arendt differenziert hier allerdings, indem sie Macht definiert als eine menschliche Fähigkeit, nicht nur zu handeln, sondern sich mit anderen zusammen zu schliessen, um im Einvernehmen, mit ihnen zu handeln. Über Macht verfüge nämlich niemals ein Einzelner, sie sei immer im Besitz einer Gruppe und bleibe eben nur so lange existent, als diese Gruppe auch zusammenhalte. Sie führt dazu aus:
„Wenn wir von jemanden sagen, „er habe die Macht“, heisst das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist in ihrem Namen zu handeln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die den Machthaber ermächtigte, und ihm ihre Macht verlieh (…), auseinander geht, vergeht auch „seine Macht““.[8]
Stärke im Gegensatz zur Macht komme immer einem Einzelnen zu, sie ist eine individuelle Eigenschaft. Der Starke ist aber nie am mächtigsten alleine, weil gerade der Stärkste Macht nicht besitzt.[9]
Das Wort Kraft bezieht sie eher auf Energie.
Autorität wird als Eigenschaft einzelner Personen in einem Beziehungsverhältnis gebraucht (Eltern/Kinder, Lehrer/Schüler). Sie bedarf keines Zwanges und keiner Überredung, vielmehr des Respektes, etwa vor einer Person oder deren Amt. Als gefährlichsten Gegner derselben bezeichnet sie Verachtung (insbesondere schädlich ist das Lachen).
Ihr spezielles Machtverständnis entwickelt Arendt erstmals in der Vita Activa unter dem Kapitel „Der Erscheinungsraum und das Phänomen der Macht“.[12] Macht wird darin beschrieben als dasjenige, das entsteht, wenn Menschen zusammen handeln, sie beruht also auf zeitweiliger Übereinstimmung vieler Willensimpulse und Intentionen und als Besonderheit zeichnet die Macht aus, dass diese nicht kleiner wird, wenn sie geteilt wird, sondern vielmehr im Gegenteil anwächst, wenn mehr Individuen sich einer Gruppe anschliessen.[13] Macht und Gewalt stellen somit Gegensätze dar, und somit ist nicht erstaunlich wenn sie sagt, Gewalt kann Macht nur zerstören, sie kann sich nicht an ihre Stelle setzen.[14] Ein einzelner Mensch hat also nur scheinbar Macht, da jede individuelle Handlungsmacht der Unterstützung durch andere bedarf, die Macht also stets im Besitz einer Gruppe ist. Umgekehrt existiert die Gruppe als solche nur, weil sie Macht besitzt.
Macht gehört also zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen beziehungsweise aller irgendwie organisierten Gruppen – Gewalt allerdings nicht.
Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht also immer dort, wo Menschen sich zusammentun, um gemeinsam zu handeln. Die Legitimität beruht auf dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Der Machanspruch legitimiert sich somit aus der Berufung auf die Vergangenheit, die Rechtfertigung eines Mittels jedoch durch einen Zweck, der erst in der Zukunft liegt. Arendt räumt allerdings ein, dass Macht und Gewalt, obwohl verschiedenartige Phänomene, meist zusammen auftreten. Macht hat das Potential, Öffentlichkeit zu stiften, um gemeinsames Handeln zu ermöglichen, was laut Arendt gestört wird, sobald die Interaktion durch Gewalt vermittelt wird. Anstelle wechselseitiger Unterstützung innerhalb einer Gruppe tritt nämlich die Waffe als Werkzeug, mit welcher jenen, die sich der Unterstützung verweigern, eine bestimmte Handlung aufgezwungen wird. Gewalt hat somit stets einen instrumentalen Charakter.[15]
Gewalt ist somit Ausdruck einer zwingenden instrumentellen Verfügung über Menschen, sie kompensiert die fehlende freiwillige Unterstützung durch Zwang. Dies sei nach Arendt stets ein Indikator für fehlende Macht, denn „nackte Gewalt tritt auf, wo Macht verloren ist“.[16] Damit steht sie also im Gegensatz zu jener philosophischen Tradition, die denkt, dass Gewalt lediglich die Steigerung von Macht begreife.[17]
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist wohl der Hinweis, dass sie Gewalt, die immer einen instrumentalen Charakter besitzt, mit der Herstellung von Gegenständen vergleicht, da alles Herstellen immer gewalttätig sei.[18] Ganz im Gegensatz zu Webers Begriff, der den Staat als ein auf legitime Gewaltmittel gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen sieht, gehört für Arendt die Macht zwar zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, doch liegt es in ihrer Struktur, dass sie allen Zielen voraus ist und sie überdauert, während Gewalt dazu nicht gehört, vielmehr dazu neigt, sich von einem Mittel zum Zweck in einen Selbstzweck zu verwandeln.[19] Zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1986 führt Arendt aus, „man kann Macht durch Gewalt ersetzen, und dies kann zum Siege führen, aber der Preis solcher Siege ist sehr hoch; denn hier zahlen nicht nur die Besiegten, der Sieger bezahlt mit dem Verlust der eigenen Macht“.[20]
Die Beziehung zwischen Macht und Gewalt zeigt also, dass das Gegenteil von Gewalt nicht Gewaltlosigkeit, sondern Macht ist – das ist keine Frage der Wahl der Mittel, sondern der Politik. Arendts Machtbegriff steht also für die Entwicklung einer egalitären und freiheitlichen Politik, in der kein Zwang herrscht und über andere Menschen nicht instrumentell verfügt wird, Menschen sich vielmehr aufgrund eigener Überzeugungen und aus ihrer eigenen Handlungsfähigkeit mit anderen in ein Verhältnis zu setzen und mit diesen zusammen handeln.
Die Gewalt wiederum wird aufgrund ihres Zwangs- und Verfügungscharakters als ein Herstellungsprozess gesehen – wegen ihres Rückgriffes auf Werkzeuge, nämlich Waffen. Gewalt ist somit eine Tätigkeit, und zwar eine schweigsame, sie agiert stumm, allerdings mit Waffen.[21] In Über die Revolution bezeichnet Arendt die Gewalt als politisches Grenzphänomen. Denn der Mensch sei ein politisches Wesen (im Sinne der Definition von Aristoteles) und für diesen sei das Miteinandersprechen charakteristisch. Gewalt hingegen sei ihrem Wesen nach stumm.[22] Der Umstand, dass sie Gewalt als sprachlos darlegt, wurde ihr allerdings zum Vorwurf gemacht, da Waffe und Sprache als Gegensätze definiert werden, wohingegen die Gewaltförmigkeit von Sprache sehr wohl eine eigenständige Form der Gewalt darstellen kann. Dies ist seit der antiken Rhetorik bekannt. Wer jemandem ein Verhalten aufzwingen will, kann sehr wohl verbal drohen, falls die andere Person nicht gehorcht. Natürlich kann der Sprechakt auch durch demonstratives Hantieren mit einer Waffe ersetzt werden, was je nach Kontext für sich selbst spricht. Arendt übersieht offenbar auch die Möglichkeit, dass sprachliche Gewalt allein dadurch ausgeübt werden kann, dass man Menschen in verletzender und entwürdigender Weise adressiert. Die Einschränkung, Gewalt sein an den Einsatz von Werkzeugen gebunden, erschliesst sich somit nicht.[23] Sehr wohl lässt sich nach Arendt Gewalt in Arten der Missachtung, des sozialen Ausschlusses und der Willkür erkennen.
Arendt behauptet allerdings auch, dass Gewalt kollektive Ohnmacht erzeuge, und zwar nicht nur auf Seiten des Opfers der Gewalt, sondern auch auf Täterseite. Wer nämlich Gewalt anwende, beweise sich selbst als ohnmächtig, weil gemeinsame Macht auf Handlungsfähigkeit angewiesen sei, und mit der Zerstörung der Handlungsfähigkeit der Anderen auch die eigene zerstört werde, sodass Gewalt, eben weil sie in der Tat Macht vernichten kann, stets die eigene Macht mit bedrohe.[24] Ganz deutlich sei dies am Beispiel der Tyrannis darzustellen. Das Wesen der Terrorherrschaft sei es, dass die Gewalt den Sieg über die Macht davontrage. Tyrannis erzeuge somit Ohnmacht, die schliesslich die totale Herrschaft ermögliche.[25] Das historische Paradigma dieser Gewalt ist für sie die totale Herrschaft, die sie anhand der Beispiele des Nationalsozialismus und des Stalinismus darlegt. In der totalitären Herrschaft kommt nämlich der destruktive Aspekt der Gewalt zu seinem radikalsten Ausdruck. Sie transformiert politische Praxis in kollektive Ohnmacht.[26]
Macht ist somit das Verhältnis zwischen handelnden Individuen, zwischen handlungsfähigen Menschen.
Die Definition des Handels wird in Vita Activa gegeben. Dort wird es von den Tätigkeiten des Herstellens und des Arbeitens abgegrenzt. Das Herstellen ist nämlich eine zielorientierte Tätigkeit, die mit Dingen hantiert, Handeln dagegen eine frei gestaltbare Interaktion zwischen Menschen ohne dingliche Vermittlung. Diese Aufeinander-Bezogenheit der Handelnden ist es, was die gemeinschaftsbildende Kraft der Macht darstellt – einer Macht, die sich also nie im Besitz einer Person befindet, sondern sich auf andere Menschen bezieht und nur zwischen Menschen existiert.[27] Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ihre spätere terminologische Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt noch nicht vollzogen hat: hier wird Macht fallweise mit Herrschaft und Unterdrückung und Gewalt gleichgesetzt. Ein wichtiger Faktor für Macht ist es, dass sich die Macht einer Handlung an der Mitwirkung der von der Handlung Betroffenen bemisst.
Die Macht kommt beispielsweise nur zustande, wenn sie auf die aktive Unterstützung der Beteiligten zählen kann und sich somit als Fortsetzung eines ursprünglichen Konsenses herausstellt.[28] Das heisst also, eine scheinbar souveräne Handlungsmacht des Einzelnen beruht letztendlich auf der Ermächtigung durch die Vielen. Diese Ermächtigung muss aber nicht unbedingt durch aktives Tun herbeigeführt werden, sie kann auch in stummer Unterstützung bestehen. Das Nichtstun der Vielen bedeutet demnach, dass den einzelnen Personen die Möglichkeit zugestanden wird, ihre Initiative ungestört zu vollenden. Die implizite Ermächtigungsstruktur, erläutert Arendt deutlich am Beispiel des Stillhaltens weiter Bevölkerungskreise während des Nationalsozialismus.[29] Dem Konsens kommt somit eine sehr weite praktische Bedeutung zu. Er ist nämlich nichts anderes als der erste Schritt zur Ermächtigung. Konsens bedeutet also einfach mittun, sich unterwerfen, gehorchen, stillhalten oder mitlaufen. Das Prinzip der konsensuellen Ermächtigung ist nach Arendt ein pragmatisches Prinzip der Macht.
In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft legt sie dar, wie die totale Herrschaft eine Machtbasis schuf, durch kontinuierliche Mobilisierung und Dynamisierung von politischer Unterstützung, die schliesslich dazu neigt, ihre Macht gewaltsam gegen jede Opposition zu verteidigen. Es ist sogar notwendig, dass jede totalitäre oder despotische Macht auf konsensuell-kollektive Ermächtigung zurückgreift, da selbst die totale Herrschaft einer Machtbasis bedarf, die nicht erzwungen werden kann.[30] Keine Macht kann sich nämlich ausschliesslich auf Zwang stützen:
„Selbst der Tyrann, der als Einer über alle herrscht, bedarf der Helfer für das Geschäft der Gewalt, obwohl sie in der Anzahl geringer sind als in anderen Staatsformen“.
Dies wäre auch der Grund, warum die Tyrannis, wie Montesquieu sie entdeckte, die gewalttätigste und zugleich die ohnmächtigste aller Staatsformen sei.[31]
Wenn Arendt in Macht und Gewalt schreibt:
„Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt“,[32] könnte dies die Beschreibung des Gründungsaktes einer legitimen politischen Verfassung sein, die auf einem Gesellschaftsvertrag oder einer intersubjektiven Anerkenntnis/ Anerkennungsverhältnis beruht. Im Denktagebuch beschreibt sie, dass ein Einzelner oder eine Einzelne eine Initiative startet, die von einer Gruppe von Menschen aktiv unterstützt wird. Wobei diese Initiative um so mächtiger wird, je stärker sie freiwillig und aktiv unterstütz wird, auch wenn sie dem souveränen Willen eines Einzelnen entsprungen ist.[33] Die Souveränität des Einzelnen ist insofern schwach, als er seine Abhängigkeit von Anderen anerkennt und sich bemüht, die freiwillige Unterstützung des Kollektivs zu gewinnen.
Diesbezüglich führt sich später nochmals aus, „ein einzelner Mensch hat aber gar keine bestimmten Interessen; diese erwachsen ihm erst in dem gemeinsamen Raum, an dem er (…) mit-trägt“.[34]
Um für das Handeln anderer offen zu sein und gemeinsam etwas zu beginnen ist es notwendig, das egalitäre Verhältnisse herrschen, also keiner einem anderen gehorchen muss, sondern die Ziele vielmehr gemeinsam erreicht werden sollen. Niemand soll seine Interessen durch Gewalt, Erpressung oder Manipulation anderer verfolgen. Nur so sei es möglich, dass sich Neuanfänge bilden können, was das Wesen der politischen Revolution sei. Sie bezeichnet dies als legitimen Machtursprung, da die Revolution ein politisches Gebilde ab ovo neu bilde.[35]
Soweit also die doch ungewöhnliche, weil allen vorangegangenen Theorien diametral entgegenstehende Idee Arendts von Macht und ihrer Entstehung, aber auch ihrer „Umkehrung“ durch Gewalt in Ohnmacht. Was bedeutet dies aber nun für den Einzelfall? Macht ist nach Arendt eine Form sinnhaften Handelns, als gemeinsamer Anfang und streng unterschieden von Gewalt. Die politische Dimension dieses gemeinschaftlichen Handelns zeigt sich in pluralistischer und freiheitlicher Interaktion. Politik bedeutet für Arendt somit, Freiheit zu begründen, wie sie an den Beispielen der amerikanischen und französischen Revolutionen darzustellen versucht.[36] In ihrem Werk Über die Revolution – besonders im Hinblick auf die Gestaltung von Verfassungen, die der Gewinnung und Aufrechterhaltung von Freiheit dienen sollen – verweist sie unzählige Male auf den „Schöpfer“ der Gewaltentrennung, Montesquieu, sodass es notwendig ist, sich im nächsten Kapitel ausführlich der Person und seinen für die Nachwelt so grundlegenden Ideen zu widmen.
Montesquieu
Er ist nicht der Erste, der sich mit der Gewaltenteilung beschäftigt: die Idee reicht zurück bis in die Antike. Bereits Platon unterschied für seine Vorstellung vom Idealstaat eine Dreiteilung der Stände und meinte, dass gegen einen Missbrauch der Macht nur die Teilung derselben wirke.[37] Auch Aristoteles bezieht sich in seiner Politik auf eine Dreiteilung der Gewalten und hebt insbesondere die Wichtigkeit des Gerichtswesens hervor.[38] Der eingangs bereits erwähnte Hobbes lässt zwar die Schutzsuchenden in Form eines Gesellschaftsvertrages die Macht an einen Einzelnen übertragen, nimmt somit gerade keine Gewaltenteilung vor. Im Gegenteil, sein Leviatan wird gleichsam zum Musterbuch des Absolutismus.[39] Dem gegenüber kennt schon John Locke (1632–1704), bereits zwei getrennte Gewalten, nämlich die Legislative und die Exekutive, wobei die richterliche Gewalt in diese noch eingeschlossen ist. Den Staatsrechtslehrern der Frühen Neuzeit geht es vor allem um die Idee der Begrenzung absolutistischer Herrscher.
Die detaillierte Ausformulierung der Teilung der Gewalten bleibt dem Baron de la Brede et de Montesquieu vorbehalten (1698–1755). Dieser erbte eine Baronie verbunden mit einem Sitz im Parlament von Bordeaux (damals nicht die Bezeichnung für eine Gesetzgebungskörperschaft, sondern für das oberste Gericht der Region). Aufgrund seines Erbes war er finanziell unabhängig. Er war studierter Jurist, arbeitete zeitweilig als Anwalt und eben als Richter, konnte sich aber auch leisten, ganz Europa zu bereisen, wobei er sich drei Jahre in England aufhielt und dort eingehend das von ihm später hochgelobte englische Verfassungssystem studierte. Selbst aus niederem Adel stammend, hatte er eine starke Abneigung gegen das absolutistische Herrschaftssystem im französischen Königreich. In seinem ersten politischen Werk, den Lettres Persanes von 1721, lässt er zwei Reisende in Form eines Briefromans die Zustände in Frankreich und die dort herrschende Despotie kritisieren. Er wendet sich auch gegen den Herrschaftsanspruch der Kirche und gegen die Unterdrückung der Frauen. In einem weiteren Werk über den Aufstieg und Fall des Römischen Reiches wird die republikanische Staatsform gelobt, allerdings dahingehend, dass diese ideal gewesen sei für ein kleines Gebilde, aber zum Untergang verurteilt aufgrund der späteren Grösse des Römischen Reiches.
In seinem berühmtesten und nachhaltigsten Werk, dem Esprit des Lois von 1748, entwirft er die Theorie der Gewaltentrennung, behandelt aber auch die unterschiedlichen Verfassungsformen. Im Gegensatz zur Antike kennt er deren nur vier. Als positiv werden Demokratie, Aristokratie und Monarchie bezeichnet, als entartete Form die Despotie; die Demokratie hält er für die am ehesten geeignete. Das Volk ist zwar aktiv wahlberechtigt, es steht ihm aber nicht das passive Wahlrecht zu. Er beschreibt die einzelnen Stände und deren wechselseitige Abhängigkeiten, was Schutz gegen Willkür bieten soll. Etwas zwiespältig ist, dass er auf der einen Seite die feudale Ständegesellschaft verteidigt, auf der anderen Seite aber doch der republikanischen Form den Vorzug gibt, wenngleich sie für grössere Staatsgebilde nicht geeignet sei. Hierfür sieht er allerdings den Ausweg des Bundesstaates, wie er in der Folge in der amerikanischen Verfassung verwirklicht wurde.
Das grosse Thema in der Politik Montesquieus ist seine Kritik an der Despotie, schon intensiv vorgetragen in den Persischen Briefen und erst recht im Geist der Gesetze. Der Despot ist nämlich ein Herrscher, der träge, unwissend und wollüstig ist. Er führt seine Verfassungsformen auf Prinzipien zurück, die er wiederum mit menschlichen Leidenschaften verbindet. So werden der Demokratie die Tugend, der Aristokratie die Mässigung und der Monarchie die Ehre zugewiesen, für die Despotie steht die Furcht – ein Gedanke, der bei Arendt – in ihrer Beschreibung der totalitären Herrschaft durch Unterdrückung und kollektive Angst – wiederkehrt.[40] Ganz wesentlich sei jedenfalls die mit den Republiken verbundene Tugend, worin er Vaterlandsliebe und die Neigung zur Gerechtigkeit versteht, also tatsächlich eine politische Tugend.[41] Die Verbindung von Despotie und Furcht wird ja schon in den klassischen Schilderungen der Tyrannis bei Platon und Aristoteles erklärt. Er folgt somit einer uralten Tradition. Die Schilderung der Monarchie gleicht eher einer Satire, bei welcher die Ehre mit einem falschen Standesbewusstsein gleichgesetzt wird. Bei der Despotie tritt an die Stelle von Tugend und Ehre die Furcht. Während die gemässigten Regierungsformen Möglichkeiten für Einsprüche und Kompromisse kennen, seien derartige Mässigungen in der Despotie völlig ausgeschlossen. Diese stehe und falle mit dem vollen Einsatz von Macht (hier natürlich nicht im oben beschriebenen Sinne Hannah Arendts, sondern gleichzusetzen mit Gewalt und Unterdrückung). Er erwähnt auch die Möglichkeit einer Entartung der an sich positiven Verfassungsformen, so etwa in der Demokratie durch Missachtung der Gleichheit oder auch deren Überspannung. In der Aristokratie dann, wenn der Adel eine Willkürherrschaft errichte, die keine Mässigung kenne – Monarchien entarten, wenn die Privilegien der Stände und der Städte beseitigt werden: in diesem Falle entsteht eine Despotie, entweder der Masse oder eines Einzelnen in Form eines Alleinherrschers. Die Despotie ist schon von vornherein verdorben und dementsprechend im ständigen Verfall begriffen. Bemerkenswert ist eben, dass Republiken nur für ein kleines Gebiet geeignet seien, Monarchien für ein mittelgrosses und Despotien für ein Grossreich.
Das bekannteste und für die Nachwelt wichtigste Kapitel ist jenes mit Beschreibung der englischen Verfassung und der darin enthaltenen Lehre von der Gewaltenteilung (XI, 6). Dabei geht es ganz vorrangig um Freiheit, die es durch eine Aufteilung der Gewalten und damit verbundene Mässigung der Macht zu schützen gelte. Freiheit bedeutet nämlich nicht, „dass man machen kann, was man will“, sondern, „dass man zu tun vermag, was man wollen soll“.[42] Politische Freiheit kann es somit nur unter massvollen Regierungen gehen. Eine ewige Erfahrung zeigt nämlich, dass „jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben werde, sie zu missbrauchen“. Die einzelnen Gewalten müssten daher so angeordnet sein, dass „die Macht die Macht bremse“.[43] Aus diesem Grund dürften die gesetzgebende Gewalt und die vollziehende nicht in ein und derselben Hand vereinigt sein. Dies gelte auch für die richterliche Gewalt, wenngleich er diese als keine eigentliche Gewalt bezeichnet (diese ist nämlich lediglich der Mund, der die Wahrheit des Gesetzes spricht). Diese ist aber auch in seinem Werk keineswegs so unwesentlich, wie er sie benennt. Um eine gewisse Unabhängigkeit der Justiz zu erreichen, sollten die Richter aus demselben Stand stammen wie die Angeklagten selbst. Es gibt schon hier diverse Wechselbeziehungen, etwa, dass politische Anklagen des Unterhauses vor das Oberhaus gehörten, da das Volk nicht gleichzeitig Kläger und Richter sein dürfe. Er teilt die drei Gewalten weiter auf, nämlich auf Adel, Volk und Monarch und insgesamt sieben Organe des Staates. Er will dabei berücksichtigt sehen, dass die einzelnen sozialen Schichten auch in den Gewalten repräsentiert würden. Es ergibt sich daraus eine Art Mischverfassung, wie sie auch schon die Antike kannte, in welcher die Elemente der guten Verfassungsarten, nämlich der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie vereint würden. Diese Form der Gewaltenteilung kann somit auch als eine Vorform des Konstitutionalismus gesehen werden.
Das Werk weist noch zahlreiche Einflüsse auf die Verfassungen auf, wobei besonders auffällig die Wirkungen des Klimas auf den Menschen und somit auf die Voraussetzungen auf die politische Freiheit seien. So sei gerade im heissen Süden die Sklaverei durchaus verbreitet, im kühlen Norden allerdings unbekannt. Die Natur hätte somit Einfluss auf Leitvorstellungen des Handelns. Sicher sei jedenfalls, dass der Wandel von einer Verfassung zur anderen stehts von einem Verfall der zuvor als positiv beschriebenen Formen und einem solchen der Wertvorstellung einhergehe.[44]
Auch wenn seine Beschreibung nicht eins zu eins das wiedergibt, was man in der modernen Politik unter Gewaltenteilung versteht, sind die Grundgedanken jedenfalls von grösster Bedeutung: Der Träger einer Gewalt darf niemals gleichzeitig auch Träger einer anderen sein, da eben Inhaber von Macht dazu neigten, diese zu missbrauchen. Es bedürfe somit einer ständigen Kontrolle und wechselseitigen Begrenzung der Machtbereiche. Der Gesetzgeber könne somit keineswegs gleichzeitig Anwender, sei es im Bereich der Verwaltung oder der Gerichtsbarkeit, der von ihm erlassenen Normen sein. Voraussetzung für das Bestehen von Freiheit ist nämlich die unbedingte Trennung von Gesetzgebung und Vollziehung, da bei einer Verbindung derselben jedenfalls Willkür herrschen würde, wäre doch der Gesetzgeber zugleich Richter. Die ungünstigste Ausformung wäre natürlich jene, wenn alle Gewalten in einer Hand vereinigt wären.
Seine Theorien hatten grossen Einfluss auf die nachfolgenden revolutionären Ereignisse, nämlich die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution und die damit einhergehenden Verfassungsbildungen. Die von Alexander Hamilton (1755/57–1804), James Madison (1751–1836) und John Jay (1745–1829) herausgegebenen Federalist Papers und die damit einhergehende Ausarbeitung von Verfassungen der einzelnen Bundesstaaten (zum Beispiel die Virginia Bill of Rights) beziehungsweise der gesamtstaatlichen Verfassung beruhen auf der Idee der Sicherung der Freiheit durch Gewaltenteilung einerseits und des Systems von „Checks and Balances“ andererseits, worunter eine wechselseitige Kontrolle der Gewalten verstanden wird, also etwa das Recht der Gerichtsbarkeit, Gesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit hin zu überprüfen. Wir werden nachstehend noch sehen, dass das System der Checks and Balances, also der wechselseitigen Kontrolle, von besonderer Bedeutung ist. Die Definition der Macht ist bei Montesquieu sicherlich ganz anders als nachfolgend bei Arendt, bei ihm ist sie wohl gleichgesetzt mit Staatsgewalt. Er sieht in der Macht einerseits Vorteile, andererseits auch Gefahren, die in der bereits erwähnten Aussage kulminieren, es sei eine ewige Erfahrung, dass jeder Mensch, der Macht habe, dazu neige, diese auch zu missbrauchen.
Macht muss also Macht begrenzen, um der Idee der Freiheit gerecht zu werden. Die Verwirklichung sieht er darin, dass schon in der Gesetzgebung Unabhängigkeit herrschen solle, durch die Zentralisation, also Selbstverwaltung, für die Provinzen (was streng gegen die zentralistische Ordnung Frankreichs gerichtet war). So schlägt er ein Zwei-Kammern-System mit wechselseitigen Vetorechten vor. Auch sollen die Gesetze von so hoher Qualität sein, dass sie nicht Anlass zu willkürlicher Interpretation bieten, dem Richter aber auch keine Gelegenheit zur Ergänzung des Konzeptes des Gesetzgebers gegeben wäre. Sie sollen vielmehr Ausdruck einer gesunden Vernunft und auch Menschen mit mittelmässigem Verstande zugänglich und verständlich sein. Er wendet sich somit gegen einen „Richterstaat“ – also die Kompetenz, dass Richter Recht schaffen können, wie er dies aus England kannte. Rechtsprechung und Verwaltung sollten streng an die Gesetze gebunden sein.
Dass sein Werk von enormem Einfluss war, zeigt der Umstand, dass es bereits innerhalb von drei Jahren 22 Auflagen erlebte, bis es 1751 sogar verboten wurde. Bis zum Ausbruch der Französischen Revolution wurden seine Thesen in nicht weniger als 1.500 Werken erwähnt.[45] Montesquieus Lehren fanden demnach sehr rasch Eingang einerseits in die Debatten um die Verfassungsbildung in den Vereinigten Staaten, andererseits in seinem Heimatland Frankreich, wobei strittig ist, ob auf die Französische Revolution Montesquieu oder nicht doch eher Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dessen Theorie der Volkssouveränität und des Allgemeinen Willens, von grösserem Einfluss waren.
Die Prinzipienlehre Montesquieus wird von Arendt insoweit übernommen, als sie meint, dass sich für totalitäre Systeme kein Prinzip mehr bestimmen liesse, ein bewegendes Prinzip entfalle, da die totalitäre Herrschaft selbst eine Bewegung sei. Das für die Despotie kennzeichnende Prinzip der Furcht verliere in der totalitären Herrschaft jeden praktischen Sinn, da es keinerlei berechenbare Anlässe für die Furcht mehr gebe.[46] Durch Arendt sei die Republik von der Freude bestimmt, nicht allein zu sein, während die totale Herrschaft auf der „Verlassenheit“ der Menschen gründe.[47] Letztere Aussage ist naturgemäss zu bestätigen, da die Verlassenheit des Menschen aus Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein resultiert. Die totale Herrschaft beraubt den Menschen seiner Fähigkeit, zu handeln. Terror zerstört die Pluralität, was daher in jedem Einzelnem ein Gefühl hinterlasse, von allem ganz und gar verlassen zu sein. Das Prinzip politischen Handelns in der Tyrannis ist laut Montesquieu die Furcht; diese entspringe laut Arendt aus der Grunderfahrung der Ohnmacht und sei eigentlich kein Prinzip des Handelns, sondern im Gegenteil der Verzweiflung, nicht handeln zu können. Innerhalb des politischen Bereichs ist sie somit eine Art arithmetisches Prinzip.
Da die totale Herrschaft ein System ist, in welchem der Staat die vollständige Kontrolle über das Leben der Bürger ausübt und diese durch Einschüchterung und Ausschaltung jeglicher Opposition, ständigen Einsatz von Gewalt, bauend auf ein striktes Überwachungssystem und durch Spitzelwesen und die Loyalität gegenüber dem Regime durch ein ständiges Klima der Angst aufrechterhalten wird (Gefahr willkürlicher Verhaftung, laufende Bespitzelung, Vertrauensverlust eines jeden gegen jeden), geht das die Despotie kennzeichnende Prinzip der Furcht meines Erachtens in der totalen Herrschaft nicht verloren, da diese eben gerade die ständige Verbreitung von Angst und Furcht als ihr Fundament benützt. Es macht meines Erachtens auch keinen Unterschied, ob die Gewaltherrschaft von einem einzelnen, entarteten Regenten (Despoten) mit Hilfe seines ihn stützenden Apparates ausgeübt wird (allein ist der Despot doch machtlos!), oder eben in Form einer Parteiendiktatur, wie von Arendt anhand der Beispiele der Sowjetunion oder Nazi-Deutschlands beschrieben.
Man kann die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution sicherlich nicht als direkte Folge der Lehre Montesquieus betrachten. Sein Einfluss auf das revolutionäre Geschehen und die nachfolgenden Verfassungsentwicklungen ist aber unbestritten. In Über die Revolution stellt Arendt die Erfolge der Amerikanischen Revolution und der Französischen Revolution in ihren Wirkungen für die Nachwelt einander gegenüber. Sie unterscheidet ferner zwischen Revolution und Rebellion, wobei es hier nur auf die tatsächliche Revolution, also die völlige Neuschaffung ankommt. Sie führt nämlich aus, dass das Ziel einer Rebellion die Befreiung sei, während das Ziel der Revolution die Gründung der Freiheit ist. Eine Rebellion, der nicht die Revolution auf dem Fusse folgt, sei somit zum Scheitern verurteilt.[48] Die Amerikanische Revolution entwickelt sich ja aus dem Unabhängigkeitskrieg der Kolonien gegen das Mutterland England. Die folgende Gründung der Republik, wie sie in Amerika stattfand, ist somit durchaus eine Revolution, wie sie die Welt zuvor noch nicht gesehen hat, wenngleich die Neuregelungen der Machtverhältnisse gar nicht revolutionär waren. Sie sollten nämlich lediglich Schutz vor der Staatsmacht garantieren, gewährten allerdings keinen Anspruch auf uneingeschränkte Mitbeteiligung.
Auch wenn für Arendt die Amerikanische Revolution als Beispiel für die „Gründung der Freiheit“ gilt, so leitet sie dies vor Allem daraus ab, dass hier „das Volk der Regierung eine Verfassung gebe, nicht aber darum, dass die Regierung dem Volk eine solche zuteilwerden lassen sollte“.[49] Es bedurfte somit zeitaufwendiger Versammlungen zum Zwecke der Schaffung einer neuen Verfassung, in welcher eben das Volk über diese abstimmte und nicht umgekehrt die Regierung dem Volk eine Verfassung quasi oktroyierte. Für Arendt ist die Institutionalisierung der neuen Freiheit massgeblich, wobei sie ausführt:
„Man weigert sich einen Unterschied zwischen Befreiung und Freiheit anzuerkennen, und übersieht daher, dass nichts vergänglich und vergeblicher ist, als eine Rebellion und eine Befreiung, die unfähig ist, die neu gewonnene Freiheit in angemessenen Institutionen und Verfassungen zu verankern“.[50]
Es bedürfe also nicht nur des Gedankens nach Befreiung (welcher wohl jeder Rebellion inhärent ist), sondern eben der Idee der Gründung der Freiheit sowie des Willens, eine neue Regierung zu bilden, um die Freiheit zu erhalten und nicht wieder zu verlieren. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die misslungenen Revolutionsversuche nach dem Ersten Weltkrieg, indem sie ausführt:
„In diesen Fällen, vor allem in den Revolutionen der besiegten Völker nach dem ersten Weltkrieg, folgt der Revolution zwar eine Verfassung gleichsam auf dem Fusse, aber diese Verfassungen waren keineswegs das Ergebnis der Revolution; es war nicht das Volk, das sich eine Verfassung gab, sondern eine Regierung, die sich dazu verstand, dem Volk eine Verfassung zu geben, nachdem die Revolution misslungen war“.[51]
Zur Erhaltung der gewonnen Freiheit bedurfte es also einer ganz wesentlichen Komponente, nämlich der Aufteilung der Macht:
„Das Problem nach der Unabhängigkeitserklärung (gemeint der USA), war wahrlich nicht, wie Macht begrenzt, sondern wie Macht etabliert werden könne; es handelt sich ja nicht darum, eine bestehende Regierung in ihre Grenzen zurückzuweisen, sondern einen neuen Staat zugründen“.[52]
Das ist ja der wesentliche Unterschied zur Französischen Revolution. In den U.S.A. war der Machtverlust dadurch entstanden, dass die englische Krone Amerika aufgab. Hier bezieht sich Arendt wiederum deutlich auf Montesquieu, der ihrer Meinung nach davon ausging, dass Freiheit und Macht so weit voneinander entfernt seien, dass sie im Gegensatz zueinander stünden, aber in Wahrheit zusammengehörten. Politische Freiheit habe somit nicht im Willen, sondern im Können ihren Ursprung und Sitz. Der politische Raum müsse daher so konstituiert und konstruiert werden, dass Macht und Freiheit sich in ihm vereinigten.[53]
Mit Montesquieu sagt auch Arendt, dass es ohne Macht keine Freiheit geben könne, da Macht notwendig sei, die soeben gewonnene Freiheit zu verteidigen und auch wahren können. Für sie ist daher Montesquieus Einfluss auf das Gelingen der Amerikanischen Revolution und Verfassungsbildung ein ganz wesentlicher. Sie sagt dazu:
„Es gehört zweifellos zu den grössten zukunftsträchtigsten Errungenschaften der amerikanischen Revolution, dass es ihr gelang, den Anspruch auf der Macht, auf Souveränität im politischen Körper der Republik, konsequent zu eliminieren, denn im Bereich menschlicher Angelegenheit kann Souveränität schliesslich und endlich immer nur auf Gewaltherrschaft durch einen Tyrannen hinauslaufen“.[54]
Diesem Gelingen der Amerikanischen Revolution stellt sie das Versagen der Französischen Revolution gegenüber – die Amerikanische Revolution hätte durch Vertrauen, Zusammenarbeit und „gegenseitiges Versprechen“ einerseits pluralistische Strukturen geschaffen, andererseits eine Konzentration der Macht verhindert.[55] Ganz anders hingegen die Französische Revolution. Der Volkswille, auf den diese sich gestützt hatte, sei nämlich instabil und manipulierbar gewesen, da er sich von Tag zu Tag und von Minute zu Minute änderte.[56] Diese Instabilität habe verhindert, stabile Institutionen zu schaffen. Die Revolution habe zwar bestehende Strukturen zerstört, aber nicht durch eine neue, pluralistische Ordnungen ersetzt. Ihre Analyse erscheint allerdings, was die Idealisierung der amerikanischen Entwicklung betrifft, bei weitem überzogen und aus einer ex post-Betrachtung heraus absolut weltfremd.
Stürzte die Französische Revolution das Land vorerst in ein gewaltiges Chaos (Grand Terreur), welches sodann erst im Wege eines neuen Absolutismus wieder zu geordneten Machtstrukturen zurückkehrte (Konsulat, Erstes Kaiserreich), ist doch die bedeutendste Hinterlassenschaft dieses revolutionären Ereignisses die Deklaration der Menschenrechte im Jahre 1789! (dazu noch nachstehend). Die Amerikanische Revolution schuf zwar vorerst ein festes Machtgefüge, beruhend auf Gleichheit, von welcher allerdings in der tatsächlichen Verwirklichung nichts zu spüren war. Zwar bleibt das schreckliche Schicksal der schwarzen Bevölkerung Amerikas von Arendt nicht unerwähnt, doch misst sie diesem ganz offenkundig weniger Bedeutung bei. Dabei ist ihr zugute zu halten, dass sie ihr opus magnum, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, unter dem Eindruck der bis dahin grössten Katastrophe der Menschheit, des Holocaust, schrieb und selbst eine Vertriebene war, doch ist nicht nachvollziehbar, weshalb sie vor dem bis zu ihrem Lebensende in Amerika herrschenden extremen Rassismus die Augen verschloss. Dieser ist ja nicht nur gelebte Realität, sondern wurde auch noch zur Arendts Lebzeiten teilweise gesetzlich verankert (die Segregation in Schulen wurde erst 1954 durch das Oberste Gericht aufgehoben, und die Rassentrennung überhaupt erst mit dem Civil-Rights-Act von 1964!! für alle öffentlichen Einrichtungen als illegal erklärt) und wohin die Entwicklung unter der neuen Regierung geht, kann man sich nicht einmal ausmalen.
Zur Gewaltenteilung
Moderne Rechtsstaaten basieren auf dem von Montesquieu erstmalig ausformulierten Modell. In demokratischen Staaten gibt es somit die klassischen, üblicherweise verfassungsgemäss gesicherten Gewaltformen, die gesetzgebende, die vollziehende und schliesslich die richterliche Gewalt, die voneinander – zumindest weitgehend – unabhängig sein sollten, wenngleich es eine gewisse Interaktion dahingehend gibt, dass diese Gewalten einander auch wechselseitig kontrollieren (in dem oben bereits einmal erwähnten Sinn von Checks und Balances).
Die Legislative erlässt innerhalb der ihr eingeräumten Ermächtigung auf Basis der Verfassungsgesetze Gesetze und Verordnungen. Die Exekutive ist dazu angehalten, diese im Rahmen der Verwaltung durchzusetzen, während die richterliche Gewalt – vereinfachend gesprochen – bei Streitigkeiten zwischen Personen im weitesten Sinne einerseits Recht spricht, andererseits auch im Rahmen der Strafjustiz im Namen des Staates die Ordnung aufrechterhält. Diese einfache Definition ist natürlich eingeschränkt, da einerseits auch Verwaltungsbehörden stark Normen durchzusetzen haben beziehungsweise über zivilrechtliche Ansprüche entscheiden können, andererseits, zumindest was Österreich betrifft, seit der letzten grossen Reform die gesamte Verwaltung unter der nachprüfenden Kontrolle der Justiz steht, indem als zweite Instanz unabhängige Verwaltungsgerichte eingerichtet wurden beziehungsweise schon seit Beginn der Wirksamkeit der aktuellen Verfassung die Höchstgerichte des öffentlichen Rechts zur Kontrolle berufen sind.
Dabei steht dem Verfassungsgerichtshof vor allem auch die Kontrolle der Gesetzgebung zu. Daneben besteht auch noch die Kontrollfunktion des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
Dieser Dreiteilung der Gewalten und ihrer wechselseitigen Kontrollfunktion kommt im Sinne der Beschränkung von Macht einerseits und der Aufrechterhaltung von Freiheit ganz enorme Bedeutung zu. Freiheit im Staat und Freiheit vom Staat bedeutet in erster Linie eine Garantie der Menschenrechte, die ohne Gewaltenteilung, also selbst bei Zusammenfliessen von nur zwei Formen der üblichen Staatsgewalten, nicht denkbar wäre. Zwar war dieser Begriff für Montesquieu noch nicht in dieser Bedeutung greifbar, doch ist sein wesentlichstes Anliegen der Schutz der Freiheit, durch gleichzeitige Beschränkung und Kontrolle der Macht.
Menschenrechte
Das grösste Verdienst der Französischen Revolution – bei allem nachfolgenden Niedergang und Verfall – ist es, erstmalig die Menschenrechte definiert und festgelegt zu haben, als unveräusserliche und natürliche Rechte des Menschen wie Freiheit, Eigentum, Sicherheit sowie Widerstand gegen Unterdrückung,[57] basierend auf dem Gedanken der Aufklärung. Bereits der nach den Friedensschlüssen in Folge des Ersten Weltkrieges gegründete Völkerbund sah es als seine Aufgabe an, nicht nur eine dauernde Friedensordnung wieder herzustellen, sondern auch den Schutz des Einzelnen zu gewährleisten, sodass die Institution des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geschaffen wurde. Aufgrund des Scheiterns dieser Organisation begann bereits während des Zweiten Weltkrieges der Versuch, eine neue Weltfriedensordnung ins Leben zu rufen, welche schliesslich in der Deklaration der Vereinten Nationen mündete. Parallel dazu wurde im Jahre 1948 als Ergänzung zur UNO-Charta die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet.
Allen Menschen sollten die gleichen und unveräusserlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen zustehen. Nicht alle Nationen haben diese Vereinbarung ratifiziert beziehungsweise sind Mitglied der Vereinten Nationen – die Durchsetzung stösst weltweit auf grösste Probleme.
In Folge dieser Erklärung hat im Jahre 1950 der Europarat die Europäische Menschenrechtskonvention verabschiedet und auch einen Europäischen Gerichtshof eingerichtet, der die Grundsätze derselben übernational zu überwachen hat. (In Österreich wurde die Konvention 1964 mit dem Rang eines Verfassungsgesetzes ausgestattet).
Grundsätzliche Voraussetzung zur Überwachung der Einhaltung ist das Bestehen einer unabhängigen Justiz, die wiederum nur im Sinne der strikten Trennung der Gewalten gewährleistet ist.
Wie steht nun Arendt zum Thema Menschenrechte?
In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beschäftigt sie sich auch intensiv mit dieser Frage, angesichts des Schicksals zahlloser Flüchtlinge und Staatenloser in Folge der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Sie sieht hier das Problem absoluter Rechtlosigkeit im Gegensatz zu den doch angeborenen natürlichen Menschenrechten der Person. Sie hebt hervor, dass die Rechtlosen mit dem Verlust ihrer Heimat auch den Schutz ihrer Regierung verloren hätten. Zwar hätten seit der Antike zivilisierte Länder Flüchtlingen, die aus politischen Gründen von der eigenen Regierung verfolgt wurden, Asyl geboten, doch setzte diese voraus, dass der Verfolgte etwas getan hätte, was zwar im Heimatland zur Verfolgung führte, im Asyllande aber nicht ausserhalb des Gesetzes stand. Hier unterstand er eben einem anderen Gesetz, damit sei er auch der Verfolgung durch den eigenen Staat entzogen gewesen. Ganz anders sei dies bei den modernen Staatenlosen. Mangels Staatsbürgerschaft seien sie daher nicht mehr dem eigenen Land unterstellt. Die Staatenlosen während des letzten Krieges (gemeint ist der Zweite Weltkrieg) hätten sich somit stets in einer schlechteren Position befunden als die feindlichen Ausländer, die immerhin auch während des Krieges durch internationale Abkommen geschützt worden seien. Mit den Staatenlosen hingegen konnte jeder Staat machen, was er wollte:
„Es gehöre somit zu den Aporien moderner Erfahrung, dass es offenbar leichter ist den völlig Unschuldigen seiner juristischen Person zu berauben, als irgendeinen anderen, leichter als den politischen Gegner oder den Verbrecher, bei denen sich selbst im Falle der infamsten Verfolgung oder der drakonischen Gesetzgebung die juristische Person immer noch in dem Zusammenhang durchsetzt, der zwischen dem was sie getan hat und dem was ihr geschieht besteht“.[58] Arendt sieht für diese Menschen, dass „die abstrakte Nacktheit ihres Nichts – als – Menschseins ihre grösste Gefahr war. Sie waren damit in das zurückgefallen, was die politische Natur, den Naturzustand und zivilisierte Weltensklaverei nannte“.[59]
Die Bezeichnung "Naturzustand" spielt wohl auf Hobbes an.
Nicht ohne einen gewissen Zynismus hebt sie hervor, dass niemand bereit sei, die sogenannten Menschenrechte wirksam zu schützen:
„Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimental, humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzverein unterschied“.[60]
Sie meint, dass das Wort Menschenrechte überall, sei es in totalitären oder in demokratischen Ländern, zum Inbegriff eines heuchlerischen und schwachsinnigen Idealismus geworden sei – wer nämlich die Rechte, die in der Staatsbürgerschaft garantiert wären, verloren hätte, bleibe rechtlos.
Arendt knüpft das Ende der Menschenrechte an den Niedergang des Nationalstaates und scheint damit den Universalanspruch der Menschenrechte prinzipiell zu bestreiten, indem sie meint, dass Rechtschutz nur Angehörige eines Staates geniessen würden. Arendt zweifelt an der überkommen Auffassung von Menschenrechten und meint, dass die naturrechtlichen und religiösen Begründungen derselben in der Moderne nicht mehr haltbar seien, da metaphysische und religiöse Überzeugungen keine Gültigkeit mehr hätten. Die Menschen hätten sich nämlich zu sehr von G’tt, Geschichte und Natur entfremdet. Auch hätten die Revolutionen des 18. Jahrhunderts alle äusseren Autoritäten jenseits der Vernunft zerstört.[61]
Angesichts der historischen Erfahrung mit Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslagern drängt sich hier die Frage auf, ob es überhaupt sogenannte unabdingbare Menschenrechte gibt, die also unabhängig von einem besonderen politischen Status sind und einzig aus der blossen Tatsache des Menschseins entspringen:
„Wenn es so etwas überhaupt so etwas wie ein eingeborenes Menschenrecht gibt, dann kann es nur ein Recht sein, dass sich grundsätzlich von allen Staatsbürgerrechten unterscheidet“.[62]
Das einzige Recht, das für Arendt dieses Kriterium erfüllt ist, das „Recht, Rechte zu haben – und dieses gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem aufgrund von Handlungen und Meinung beurteilt wird“.[63] Sie meint damit offenbar das Menschenrecht, Teil einer politisch-organisierten Gemeinschaft zu sein; damit verlieren die Menschenrechte aber doch ihren vorstaatlichen und universalen Charakter.
Die in den einzelnen Rechtsordnungen der Nationalstaaten positivierten Rechte wären keine universellen mehr, sondern eben nur nationalstaatliche Partikulare, was allgemeine Menschenrechte eigentlich auf den Status von Bürgerrechten reduziert. Wenn aber Menschenrechte nicht vorpositive oder vorstaatliche Rechte sind, dann hiesse das doch, dass sich am Schicksal der Staatenlosen nichts ändern liesse und der Völkermord zwar eine tragische, aber nicht als Unrecht zu ahndende Tat sei, weil sie gegen kein Recht verstösst. Das von Arendt als einziges Menschenrecht proklamierte „Recht auf Rechte“ wirft daher berechtigte Fragen auf.[64] Arendt betont, dass Rechte nur in der Welt der Menschen Realität hätten und nur aus menschlichen Beziehungen heraus, in denen sich Menschen gegenseitig Rechte zuerkennen und Garantien bestehen können. Im Sinne von Montesquieu sieht Arendt den Sinn von Gesetzen und Rechten in der Etablierung von Bezügen.[65] Für Arendt sind Freiheit und Gleichheit relationale Begriffe, die mit dem Handeln verbunden sind:
„Freiheit wie Unfreiheit ist ein Produkt menschlichen Handelns (…) und hat mit der Natur gar nicht zu tun“.[66] „Gleichheit ist nicht gegeben und als Gleiches sind wir nur als Produkt menschlichen Handels. Gleiche werden wie als Glieder einer Gruppe, in der wir uns Kraft unserer Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren“.[67]
Arendt meint daher, die Rechte der Menschen seien nicht natürlich im Sinne von selbstverständlich und unveräusserlich und daher auch nicht zwingend, wie mathematische Wahrheiten, sie bedürften vielmehr der Übereinkunft. Diese Menschenrechte sind somit Versprechen, die sich die Menschen gegenseitig geben, wie Jacques Derrida (1930–2004) sie sah.[68]
Menschenrechte sind allerdings Rechte, die dem Individuum zukommen, ohne dass sie von jemandem zugestanden oder verliehen werden müssen, daher können sie auch nicht entzogen werden. Es fragt sich daher wirklich, ob das „Recht auf Rechte“ laut Arendt, das ja nicht naturrechtlich begründet sei und nur aus menschlichen Beziehungen seinen Sinn erhalte, auch durch menschliches Engagement garantiert werden kann. Wenn also Arendt der Bedeutung der Menschenrechte, wie sie in der Französischen Revolution formuliert wurden, einer kritischen Revision unterzieht und dies anhand der Rechtlosigkeit der Flüchtlinge analysiert, die sie unter Bedingungen absoluter Gesetzlosigkeit sieht, da sie nicht unter den Schutz eines nationalen Rechtsstaates fallen und somit faktisch kein Recht auf Rechte hätten, macht sie damit auf die Prekarität der Menschenrechte ohne staatliche Schutzmacht aufmerksam und kritisiert somit den Menschenrechtsdiskurs. Sie stellt den Grund- und Menschenrechten quasi ein Recht voran (Recht auf Rechte), womit sie allerdings die Kantische und Hegelsche Figur der Person als Rechtssubjekt und ideologische Figur in Frage stellt. Für sie erlangt eine Person Rechtsstatus nicht über den abstrakten Begriff der angeborenen Würde oder Freiheit der Person, sondern faktisch über die Zugehörigkeit eines nationalstaatlich organisierten Kollektivs.[69] „Der Verlust der Menschenrechte findet nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verloren geht, sondern nur wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein, der überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinung Gewicht haben und seine Handlungen von Belangen sind“.[70]
Das Recht, Rechte zu haben, hängt also davon ab, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird. Das Recht, zu interagieren und so das eigene Schicksal mitzubestimmen, beziehungsweise an der kollektiven Selbstgesetzgebung mitwirken zu können, ist es aber gerade, das dem Asylsuchenden und Migrierenden beziehungsweise tendenziell allen Ausländer*innen ohne politische Rechte in einem Nationalstaat entzogen wird. Damit macht sie in zweifacher Hinsicht auf einen „Blinden Fleck“ in der Erklärung der Menschenrechte aufmerksam, nämlich, dass die Nationalität in doppeltem Sinne für die Gewährung oder den Entzug von Rechten konstitutiv sei:
„Einerseits dadurch, dass die nationalstaatliche Zugehörigkeit mit dem Anspruch auf staatliche Schutzmacht verbunden ist, welche die Menschenrechte gegen Dritte verteidigt und andererseits dadurch, dass die Staatsbürgerschaft in einem demokratisch organisierten Staat ein Grundrecht gewährt, nämlich das Recht auf politische Partizipation“.[71]
Ein Grundrecht, dass nach Arendt das gesamte soziale- und politische Leben bestimmen soll, ist also das Recht auf Teilhabe an gemeinsamer Macht; darin impliziert sie nämlich die normativ gehaltvollen Vorgaben der Anerkennung der Egalität und Partikularität jedes einzelnen Menschen.[72] Damit schliesst sich der Kreis zu Arendts Machtverständnis: rassistische, menschenverachtende oder elitäre Machtvorstellungen unterlaufen nämlich das Menschenrecht auf Teilhabe am gemeinsamen Handeln und lassen sich somit in Arendts Modell gemeinsamer Macht nicht integrieren.
Man mag Arendts „Aporie der Menschenrechte“ teilen oder nicht, unverrückbar ist jedenfalls die Tatsache, dass es zur Aufrechterhaltung und Sicherung der Menschenrechte einerseits übernationaler Organisationen bedarf, wobei deren Einflussnahme, wie die Geschichte zeigt, bedauerlicherweise allzu gering ist, andererseits es unbedingt zusätzlich innerstaatlicher Strukturen von Gewaltenteilung im Montesquieuschen Sinne zur Kontrolle und Beschränkung von Macht bedarf.
Gerade die derzeitige Entwicklung in jenem Staat, dessen Umsetzung revolutionärer Ideen zu Gewinnung und Sicherung von Freiheit Arendt besonders hervorhebt, verläuft in eine Richtung, die aufzeigt, dass das System von Gewaltenteilung beziehungsweise Checks and Balances ein äusserst fragiles – das vermutlich auch Arendt zu einer Neubetrachtung veranlassen würde – und generell berechtigte Angst vor dem Rückschritt in Despotie zu schüren geeignet ist.
Nachlese
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Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft13, Piper Verlag, München, 20099.
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Arendt, Hannah, Über die Revolution, ungekürzte Taschenausgabe, Piper Verlag, München, 2011.
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Arendt, Hannah, In der Gegenwart, Übungen im politischen Denken II3, Piper Verlag, München 20203.
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Arendt, Hannah, Vita activa oder vom tätigen Leben2, Piper Verlag, München, 20212.
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Arendt, Hannah, Denktagebuch 1950 – 19732, Piper Verlag, München 20222.
Arendt 2023.
Arendt, Hannah, Macht und Gewalt29, Piper Verlag, München 2023.
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Arendt, Hannah, Zwischen Vergangenheit und Zukunft6, Übungen im politischen Denken I, Piper Verlag, München 20246.
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Aristoteles, Philosophische Schriften, Politik, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985.
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Bergt, Anna-Theresa, Ausgewählte Fragen zur Gewaltenteilung, Dissertation zur Erlangung des Doktorates der Rechtswissenschaften, Universität Wien, 2010.
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Heuer, Wolfgang, Politik und Verantwortung, in APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte, bpb Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29509/politik-und-verantwortung/ abgerufen am 19.02.2025.
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Meyer Katrin, Macht ohne Gewalt: Arendts Vision sinnhafter Praxis in: Katrin Meyer, Macht und Gewalt im Widerstreit – Politisches Denken nach Hannah Arendt, Schwabe Verlag, Basel, https://doi.org/10.24894/978-3-7965-3561-1/abgerufen 19.02.2025.
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[1] Hobbes (1996), S 81.
[2] Hobbes (1996), S 145-146.
[3] Weber (1985), S 28.
[4] Arendt (2023), S 45.
[5] Arendt (1990), S 75.
[6] Arendt (1990), S 54.
[7] Gockel (2016), S 4.
[8] Arendt (2023)29, S 45.
[9] Arendt (2023)29, S 45.
[10] Arendt (2023)29, S 46-47.
[11] Arendt (2023)29, S 36.
[12] Arendt (2021)2, S 281ff.
[13] Meyer, S 21.
[14] Arendt (2021)2, S 255.
[15] Arendt (2023)29, S 47.
[16] Arendt (2023)29, S 55.
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[18] Arendt (2023)29, S 8.
[19] Heuer (2006), S 5.
[20] Arendt (2023)29, S 55.
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[22] 2011, S 19-20.
[23] Meyer, S 27.
[24] Arendt (2023)29, S 55-56.
[25] Arendt (2023)29, S 56.
[26] Meyer, S 30.
[27] Arendt (2021)2, S 182f.
[28] Arendt (2023)29, S 42.
[29] Meyer, S 37.
[30] Arendt (2023)29, S 51.
[31] Arendt (2023)29, S 42-43.
[32] Arendt (2023)29, S 53.
[33] Arendt (2021)2, S 28.
[34] Arendt (2021)2, S 335.
[35] Arendt (2011), S 41.
[36] Arendt (2011), S 183f.
[37] Platon (1982), S 293-495.
[38] Aristoteles (1985), S xxx.
[39] Hobbes (1996), S 283ff.
[40] Ottomann (2006), S 44.
[41] Montesquieu (1992)2, S 159f.
[42] Montesquieu (1992), S 213.
[43] Montesquieu (1992), S 213.
[44] Montesquieu (1992), S 156f.
[45] Ottmann (2006), S 475.
[46] Arendt (2009), S 758.
[47] Arendt (2009), S 750.
[48] Arendt (2011), S 184.
[49] Arendt (2011), S 188.
[50] Arendt (2011), S 185.
[51] Arendt (2011), S 187.
[52] Arendt (2011), S 191.
[53] Arendt (2011), S 194-195.
[54] Arendt (2011), S 199-200.
[55] Arendt (2011), S 220.
[56] Arendt (2011), S 221.
[57] Wolgast 2009, S 53ff.
[58] Arendt (2009), S 609-610.
[59] Arendt (2009), S 609-620.
[60] Arendt (2009), S 603.
[61] Arendt (2009), S 602.
[62] Arendt (2009), S 607.
[63] Arendt (2009), S 614.
[64] Förster (2009), S 5.
[65] Arendt (2011), S 243ff.
[66] Arendt (2009), S 615.
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[68] Förster (2009), S 12.
[69] Meyer, S 74.
[70] Arendt (2009), S 461f.
[71] Meyer, S 79.
[72] Meyer, S 85.