Bei den Recherchen für mein Buch „Vorstadt ohne Juden“ arbeitete ich mich durch tausende Dokumente, die mit der Auswanderung der jüdischen Bevölkerung und den Deportationen in die Vernichtungslager zusammenhängen. Die Rekonstruktion der vielen traurigen Lebensgeschichten – das Leben endet ja immer tragisch, aber nicht unter solch grauenhaften Umständen – ergab, dass diejenigen, die Geld hatten oder es auftreiben konnten, ihr Leben verlängerten gegenüber den Armen und Passiven, die alles einfach geschehen liessen.
Bis dahin war mir nicht bewusst gewesen, dass der Holocaust eine starke soziale Komponente hatte – Reiche wurden vertrieben, Arme vernichtet. Familien, die Immobilienbesitz hatten, Fabriken betrieben oder erfolgreiche Geschäfte führten, konnten sich fast immer retten. Arme, Arbeitslose, mittellose Frauen und Männer und auch deren Kinder wurden Opfer der Vernichtungsmaschinerie der Nazis.
Mein Forschungsobjekt war der 15. Wiener Gemeindebezirk Rudolfsheim-Fünfhaus, ein im Jahr 1938 von etwa 5.500 Juden bewohnter Teil der Bundeshaupstadt, heute sind es noch „einige Dutzend“, wie mir die Wiener Kultusgemeinde mitteilte, in 40 Jahren Durch-den-Bezirk-Streifen sah ich keinen einzigen (als Juden erkennbaren).
Rudolfsheim-Fünfhaus war – und ist heute wieder – ein Arbeiter- und Einwandererbezirk. Daher ist die soziale Pyramide unten sehr breit und ihre Spitze kaum vorhanden, aber dennoch gab es gravierende soziale Unterschiede innerhalb der jüdischen Gemeinde.
Fabrikanten und Ärzte konnten sich zumeist durch Auswanderung retten, sie verfügten über Geld und Auslandskontakte, die vor allem für das Exilland U.S.A. wichtig waren. Ärzte wurden von der Kultusgemeinde bevorzugt behandelt und nur in Einzelfällen zu Opfern, von 41 im Bezirk nachweisbaren Medizinern starben acht in der Shoah.
Kaufleute und Gewerbetreibende verfügten oftmals über Bargeld und Immobilienbesitz, damit konnte man Schiffskarten und Visagebühren bezahlen, sogar die Kapitalisten-Zertifikate für Palästina zu tausend Pfund pro Stück. Für Vermögen über 5.000 Reichsmark musste man 25 Prozent Reichsfluchtsteuer bezahlen, doch kleine Devisenbeträge wurden mit 50 Prozent besteuert, dies betraf wieder die Armen, die von Verwandten aus dem Ausland Geld geschickt bekamen. Beim Verkauf von Immobilien über die Aktion Gildemeester konnten die Eigentümer binnen weniger Wochen ausreisen, das Risiko der Vermarktung trug die Ausreiseorganisation für nichtgläubige Juden, die allerdings auch die rechtgläubigen unterstützte.
Ideal war Schwarzgeld, wie es etwa der Selchereibesitzer und Romanautor Dr. Leopold Ehrlich in einem Briefkuvert verwahrt hatte, gut versteckt vor Finanzamt und gierigen Ariseuren, in seiner Ideensammlung, die aus hunderten Briefumschlägen bestand. Die neunzig Hundert-Reichsmark-Scheine ermöglichten die Flucht der vierköpfigen Familie nach Palästina.
Geringe Chancen auf das Überleben hatten Arbeitslose, Alte und Schuldner, denn Geld war das wichtigste Mittel, um ins Ausland zu gelangen. Bank- und Steuerschulden mussten vor der Ausreise beglichen werden, Hugo Wiener (*1904), dem bekannten Kabarettisten, gelang es, 800 Reichsmark zur Begleichung seiner Steuerschuld von Freunden aufzutreiben, nur 120 davon bekam er von der Kultusgemeinde.1 Seiner Familie allerdings ging das Geld aus, seine Mutter Berta (*1866), seine Schwester Gisela (*1893), sein Schwager Adolf Bauer (*1864) und sein Vater Wilhelm Wiener (*1857) bekamen zwar noch 1.500 Reichsmark zusammen, um Dollars anzufordern,2 doch zu spät, erst am 22.07.1941. Bereits am 29.11.1941 wurden Berta und das Ehepaar Bauer in Kowno ermordet, Wilhelm Wiener starb am 13.02.1942 im jüdischen Altersheim in der Seegasse. Ing. Alois Sternfeld, Pater-Schwarz-Gasse 7/4 (*1889) scheiterte an 200 Reichsmark Schulden, die er nicht begleichen konnte, er wurde am 09.10.1944 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert.3
Trug man gar nichts für die eigene Auswanderung bei, war auch die Chance gering, von der Kultusgemeinde Unterstützung zu bekommen. Bei Therese Baron, Mariahilferstrasse 141/9, ging es um 200 Reichsmark (etwa der Monatslohn eines Arbeiters), die ihr fehlten, um in die U.S.A. zu emigrieren. Die damals 50-jährige geschiedene, arbeitslose Fotografin und Agentin für Miederwaren stellte am 11.06.1938 einen Ausreisantrag. Jahrelang zog sich das Drama hin; im April 1940 schien die Ausreise zu gelingen, es wurden 208 Dollar zu 520 Reichsmark angefordert, doch konnte Frau Baron die geforderten 200 Reichsmark Eigenleistung nicht aufbringen, die Dollars wurden von der Kultusgemeinde zurücküberwiesen. Damit war die Auswanderung gescheitert, am 01.10.1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert, am 09.10.1944 nach Auschwitz überstellt.
Bei der 17-jährigen Lotte Munk, einer Rechtsanwaltstochter aus der Winckelmannstrasse 6, verhinderte ein Kontrollor der Kultusgemeinde ihre Emigration nach Palästina, sie hatte 100 Reichsmark Unterstützung beantragt, die Auswanderung über die Jugend-Alija hätte nur 251,35 Reichsmark gekostet. Jedoch meinte der Prüfer, dass die Familie unvollständige Angaben gemacht und ihre Möbel nicht verkauft hätte. Darüber hinaus habe Lotte eine reiche Tante in Tel Aviv und solle daher den Betrag selbst aufbringen. Sie bekam keine Unterstützung und starb am 18.06.1942 in Maly Trostinec gemeinsam mit ihren Eltern. 100 Reichsmark war ein Menschenleben damals nicht wert.
Meist fehlten nur kleine Geldbeträge, um die Auswanderung zu finanzieren. Ein gutes Mittel zum Überleben war die Chuzpe, die gerade junge Frauen an den Tag legten. Golda Senzer (*1909), Stutterheimgasse 8, frischgebackene Röntgenschwester im Rothschild-Spital, schimpfte mit dem Kontrollor und warf ihm vor, dass die Kultusgemeinde ohnehin genügend Geld hätte, ihre Familie ausreisen zu lassen. Das wirkte und alle konnten in die U.S.A. emigrieren, nur nicht ihr Bruder Benedikt (*1915), der in Belgien wegen kommunistischer Agitation im Gefängnis sass. Der Kontrollor schrieb verzweifelt am 06.12.1938: „Sie leben von 280 RM, die ihnen nach der Flucht geblieben waren, sie besitzen absolut nichts. Sie sind bedürftig“, aber, meinte er, sie seien „sehr unangenehme Leute. sie betteln nicht, sie fordern, aber ich möchte nicht abweisen, sie sind wirklich sehr arm“.4 Also bekam die Familie 1.450 Reichsmark für vier Schiffskarten nach New York und 280 Reichsmark zur Erlangung der „Unbedenklichkeitserklärung“, den Betrag teilten sich die Kultusgemeinde und die Aktion Gildemeester.
Die Alten waren das bevorzugte Ziel der Deportationen in die Vernichtungslager, man sammelte sie in den Altersheimen und konnte so die Quote von 1.000 Juden wöchentlich leicht erfüllen, wie es Adolf Eichmann und seine Leute verlangt hatten. Schon bei den ersten Transporten im Oktober 1939 nach Nisko in Polen liess der Amtsdirektor Dr. Löwenherz das Altersheim in der Radetzkystrasse räumen, weil sich nicht genug junge Männer für den Aufbau eines Lagers gemeldet hatten. Dies wurde ihm von Angehörigen der Opfer später als Mord angekreidet, jedoch wurde er von einem Ehrengericht entlastet. Zwei seiner Gehilfen wurden nach dem Krieg gehängt, auch die Justiz der Zweiten Republik war eine Klassenjustiz wie die ihrer Vorgängersysteme – es waren ja auch oft dieselben Akteure.5
Die wenigsten alten Menschen versuchten sich der Deportation durch Flucht zu entziehen, obwohl es einige alte Damen gab, wie die 88-jährige Chaje Bibe Ziefer aus dem Altersheim in der Goldschlagstrasse 84, die in den Untergrund abtauchten, dann aber dennoch von der Gestapo mittels „U-Boot-Suchliste“ aufgespürt wurden.6
Am 15. September 1939, kurz nach Kriegsbeginn, stellte die Israelitische Kultusgemeinde eine Liste ihrer verbliebenen Mitglieder auf.7 Im 15. Bezirk waren von den etwa 5.500 Personen vor 1938 noch etwa 1.440 in Wien – die genaue Zahl ist nicht eruierbar, weil die Liste fehlerhaft ist, es sind Strassen aus anderen Bezirken in die Aufstellung hineingenommen worden. Doch ersieht man aus ihr, dass der allergrösste Teil dieser Menschen Arme, Alte und alleinstehende Frauen waren, die „befürsorgt“ werden mussten, also von der Kultusgemeinde am Leben erhalten wurden. Fast alle sollten Opfer der Shoah werden, während die Reichen und die Jungen, die Ärzte und Unternehmer schon weg waren. Wer zahlen konnte, blieb am Leben, die anderen blieben auf der Strecke.
Die Deportationen in das polnische Ghetto Lodz zwischen 15. Oktober und 2. November 1941 betrafen etwa 5.000 Wiener Juden, die meisten von ihnen alte Menschen: 78 Prozent waren über 45 Jahre, fast neun Prozent älter als 70 und davon waren mehr als die Hälfte Frauen.8 Die Zentralstelle für die jüdische Auswanderung tarnte diesen Transport als „Umsiedlungsaktion“ und liess die Menschen Gepäck und Geldbeträge mitnehmen, um ihnen vorzugaukeln, sie würden dort weiterleben. Der Höchstbetrag war 100 RM pro Person, die Menschen kratzten ihr letztes Bargeld zusammen. Zerline und Markus Herschthal, Johnstrasse 26/4, besassen nur noch sehr wenig Geld, Zerline hatte 8 RM in der Tasche, Markus 14 RM, für den Gesamtbetrag hätten die beiden nur mehr eine Monatsmiete bezahlen können. Hugo Welward, Schlosser, wohnhaft Sturzgasse 1c/1/2 hatte immerhin 96 RM dabei, viele den Höchstbetrag von 100 Reichsmark, wie Luise Edelsohn, Meiselstrasse 22/14.9 Die Schergen der SS rechneten am Ende der Seite jeweils die Summen aus, die sie dabei verdient hatten, im Schnitt 3.000 Reichsmark pro Seite mit etwa 40 Namen.10 Die Familie Kohn, Braunhirschengasse 28/2 nahm für jedes Familienmitglied 100 RM mit, Alfred, Kaufmann und Verleger, Hilda, seine junge Frau und die beiden Kinder Lili (15) und Georg (12). Ihr Transport Nr. 9 verliess Wien am 28.10.1942 in Richtung Lodz. Die meisten Deportierten waren Frauen und Männer zwischen 50 und 70 Jahren, die ältesten waren Fanny Felix, Hütteldorferstrasse 87, 77 Jahre, Hermine Frisch, Sechshauserstrasse 91 und Friderike Feigel, Rustengasse 2, jeweils 72 Jahre alt. Mit dabei war auch der IKG-Angestellte Julius Feldmann, wohnhaft im ehemaligen Rabbinerhaus Turnergasse 22, mit seiner Ehefrau Franziska, er war einer der gefürchteten „Ausheber“: es ist unklar, wie er auf diese Liste kam. Neben den Kindern der Familie Kohn wurden noch weitere Jugendliche und Kinder in den Tod geschickt, Franziska Grünenger (16), Ilse Lustig (14), Gisela Schor (12), Gertrud Berger (9) und der achtjährige Leo Grünenger, Turnergasse 22/9. Seine Familie, der Vater Chaim und die Mutter Martha, besassen zusammen nur noch 24 Reichsmark.
Von den 5.000 aus Wien deportierten Juden waren bis Mai 1942 bereits 771 gestorben, danach tötete die SS die arbeitsunfähigen Menschen in „Gaswagen“ in Chelmno, die 300 bis 400 Überlebenden wurden im August 1944 nach Auschwitz transportiert. Von den etwa 5.000 Deportierten überlebten 34.11
Bei der Vertreibung und späteren Vernichtung der Wiener Judengemeinde fällt der soziale Aspekt besonders auf, in anderen Ländern, wie Frankreich oder besonders Ungarn, war die Rolle des Geldes geringer, da schnell und rücksichtslos die Menschen in Lagern gesammelt und dann nach Auschwitz geschickt wurden, die Zeit für Rettungsversuche war meist zu kurz. Besonders gründlich war die französische Polizei beim Aufspüren und Deportieren von Juden, die sich nach Frankreich oder Belgien geflüchtet hatten, Serge Klarsfeld hat diese Verschickungen von Drancy bei Paris in die Todeslager im Osten minutiös recherchiert.12 In Ungarn bemühten sich Eichmanns Leute, den Genozid noch schnell vor dem Untergang des „Dritten Reiches“ zu vollenden. Dennoch gab es auch hier Menschen, die sich und ihre Familie durch den Einsatz ihres Vermögens retten konnten, etwa der Rechtsanwalt Tivadar Soros, der Vater des umstrittenen Milliardärs George Soros, er verarbeitete seine Geschichte in einem Roman: „Maskerade um den Tod herum.“13
Was ist ein Menschenleben heute wert? 100 Reichsmark? Die Deutsche Bundesbank berechnet den Wert zum Jahr 1939 mit 510 Euro.14 Diese Einschätzung hat sich offenbar bis heute erhalten: 480 Euro Geldstrafe kostete eine Autolenkerin der Tod einer 16-Jährigen.15 Ein Menschenleben ist also nicht wertvoller geworden.
Anmerkungen
1 Fragebogen zur Ausreise 29731, der Kontrollor hatte 150 RM vorgeschlagen.
2 Archiv der IKG Wien, Dokument A/VIE/IKG/II/AUS/Devisenberatungsstelle/
3 Dokument A/W 812, Wiesenthal Institut für Holocaust Studien.
4 Fragebögen zur Ausreise 19980, 20801, mit Beiblättern.
5 Vgl. den Fall Peter Strauss, 1934 https://magazin.wienmuseum.at/wie-man-eine-demokratie-demontiert-dritter-schritt abgerufen 11.10.2025. https://www.ris.bka.gv.at/JustizEntscheidung.wxe?Abfrage=Justiz&Dokumentnummer=JJT_19510210_OGH0002_00PRAS00694_5000000_000&IncludeSelf=True&ShowPrintPreview=True abgerufen 13.10.2025.
6 Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde A/VIE/IKG/II/BEV/1/3.
7 Archiv Wiesenthal Institut für Holocaust Studien A/W 398,25.
8 https://ausstellung.de.doew.at/m17sm146.html abgerufen 20.08.2025.
9 Fragebogen zur Ausreise 15322.
10 Siehe die Liste vom 21.10.1941 https://www.doew.at/personensuche?gestapo=on&findall=&lang=de&suchen=Alle+finden&shoah=on&politisch=on&spiegelgrund=on&firstname=arnold&lastname=engel&birthdate=&birthdate_to=&birthplace=&residence=&newsearch=10&iSortCol_0=1&sSortDir_0=asc&lang=de#, wo am Ende der Seite die Einzelbeträge addiert wurden.
11 https://ausstellung.de.doew.at/m17sm146.html abgerufen 15.05.2025.
12 Klarsfeld, Serge; Stroweis, Pierre: Le Mémorial de la Déportation des Juifs de France, aktualisierte Fassung der Edition von 1978.
13 https://de.wikipedia.org/wiki/Tivadar_Soros#:~:text=Tivadar%20Soros%2C%20auch%20Theodor%20Schwartz,Managers%20und%20Multimilliard%C3%A4rs%20George%20Soros, abgerufen 13.10.2025. Es ist bezeichnenderweise ein Roman.
14 https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/4162e577aa9cb1691714327342d6156b/472B63F073F071307366337C94F8C870/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf abgerufen 13.10.2025.
15 https://noe.orf.at/stories/3066288/ abgerufen 13.10.2025.

100 Reichsmark Banknote, Foto: Archiv des Autors, mit freundlicher Genehmigung.