Ausgabe

Antisemitismus in der Bibel

Christoph Tepperberg

Inhalt

Simone Paganini: Warum sind immer die Juden schuld? Antisemitismus in der Bibel.

Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2025.

Print und eBook, 176 Seiten (Print-Ausgabe), Euro 20,00.- (Print), Euro 15,99.- (eBook)

ISBN-13: 9783451601453 (Print)

EAN: 9783451836800 (eBook)

 

Was will dieses Buch vermitteln?

Antisemitismus ist kein Phänomen unserer Zeit. Schon in der Antike, meint Paganini, wurden Israeliten / Hebräer / Juden von den Ägyptern, Persern, Griechen, Römern und schliesslich auch von den Christen gehasst und verfolgt. Antike Autoren verbreiteten fantasievolle Verleumdungen. Diese Verschwörungsmythen, die sich bis heute gehalten haben, scheinen auch in den biblischen Texten auf. Autor fasst den Begriff Antisemitismus sehr weit, negiert die Unterschiede zwischen den Begriffen Antisemitismus und Antijudaismus. Er hält das Wort „Antijudaismus“ für eine beschwichtige Ausrede des Christentums. Dem Thema Antisemitismus, so Paganini, kam in der christlichen Reflexion, insbesondere in der universitären Theologie, bislang kaum Relevanz zu. Man meinte durch Neuschöpfung des verharmlosenden Begriffs „Antijudaismus“ die meisten Probleme beseitigt zu haben. Der Fokus des Buches, so der Autor, liegt auf den rezipierten biblischen und antiken Anfängen des Antisemitismus, die in letzter Konsequenz in der Shoah mündeten. Paganini sieht den Rassenantisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts lediglich als Weiterentwicklung des Judenhasses aus biblischer und antiker Zeit.

 

Die Gliederung des Buches

Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert: Der 1. Abschnitt befasst sich mit dem Begriff Antisemitismus, seinen Formen, Definitionen und Merkmalen, schliesslich mit dem Begriff Anti-„Semitismus“ und der „semitischen“ Sprachgruppe. Die anderen beiden Abschnitte sind dem eigentlichen Thema gewidmet: Der 2. Abschnitt befasset sich mit Antisemitismus in der Hebräischen Bibel (Tenach, Altes Testament) und in ihrer „heidnischen“ Umwelt. Im 3. Abschnitt schliesslich werden unter dem Titel „Wenn Juden antisemitische Schriften verfassen“ die Bücher des Neuen Testaments behandelt.

 

Antisemitismus in der Hebräischen Bibel

Paganini ortet Antisemitismus quer durch den Tenach. Markante Beispiele: Die Unterdrückung, Knechtung und Versklavung des Volkes Israel durch die Ägypter. Die Erzählung um Mose war für das jüdische Volk derart prägend, dass sie zu einem wesentlichen Teil des biblischen Gründungsmythos wurde. (S. 74-84) Die Zerstörung des Tempels zu Elephantine. (S. 84) Der Versuch der Ausrottung der Israeliten durch den Götzenanbeter Moab. (S. 87) Die Welle von Verfolgung und Intrigen im Buch Daniel während des Babylonischen Exils (S. 106-112) Der Versuch des Persers Haman, die Gesamtheit der jüdischen Bevölkerung auszurotten, wie im Buch Esther beschrieben. (S. 112-117)

 

Wenn Juden antisemitische Schriften verfassen

Die Antijudaismen in den Schriften des Neuen Testaments sind hinlänglich bekannt. Die Evangelien, insbesondere das Johannesevangelium, enthalten hinreichend judenfeindliche Aussagen. Sie wurden zur unglückseligen Grundlage für den Judenhass in Europa. Paganini stellt den universellen Missionsauftrag Jesu in Frage. Jesus habe nur sein eigenes Volk missionieren wollen. Er bezieht sich dabei auf eine historisch-kritische Exegese, wonach die überlieferten Worte Jesu: „Darum gehet hin und lehret alle Völker!“ spätere Einfügungen gewesen seien. (S. 127) In den Generationen nach Jesus wurde die jüdische Mutterreligion von den Christen zunehmend als Fremdkörper empfunden. (S. 143-167) Spätestens seit dem 4. Jahrhundert n.d.Z., als das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben wurde, begann die systematische Drangsalierung der inzwischen längst in der Diaspora lebenden Juden. Die Begründung für diese fatale Entwicklung war vor allem der Vorwurf des „G'ttesmordes“. (S. 150ff.) Das Narrativ des „G'ttesmordes“ war durch viele Jahrhunderte wirkmächtig und bereitete in letzter Konsequenz den Boden für die Shoah. (S. 169) Noch in den 1980er Jahren konnte ich einen Historiker und praktizierenden Katholiken mit den Worten erleben: „Die Jiddn sollen endlich einmal den Mund halten, wo sie doch den Herrn gekreuzigt haben!“

 

Projektionen

Die Bibel ist keine Geschichtsquelle. Sie ist der grossartige Dialog G’ttes mit seinem Volk. Sie handelt von Verheissung und Glaubensprüfung, vom Zorn und der Liebe G’ttes, von Gehorsam und Ungehorsam, Heil und Unheil, Bestrafung und Errettung. Aus jüdischer (israelitischer) Sicht bezeugt der Tenach die von G’tt seinem auserwählten Volk auferlegte Drangsal als Teil der jüdischen Erlösungsgeschichte – die später vom Christentum rezipiert wurde. Paganini ist sich dessen bewusst, dass die Bibel nicht ohne Vorbehalt als Geschichtsquelle geeignet ist. Dennoch glaubt er, dieses Faktum ein Stück weit ignorieren zu können, wohl auch deshalb, weil er bei seinen Ausführungen nicht nur die Schriften der Bibel, sondern auch ausserbiblische Quellen mit einbezogen hat. Dennoch gibt es für die Zeit des Alten Testaments einen eklatanten Mangel an objektivierbaren Quellenbelegen. Nimmt man das Alte Testament als Geschichtsquelle, so erfüllen die als Beweis für Antisemitismus herangezogenen Belege durchaus die vom Autor definierten Kriterien. (S. 62-66) Im Sinne der Quellenkritik sind Paganinis Schlussfolgerungen jedoch Rückprojektionen: Einschätzungen und Beurteilungen aus der Gegenwart werden in ferne Räume der Vergangenheit projiziert. Auf diese Problematik wird man bereits während der ersten Semester des Geschichtsstudiums hingewiesen. Bei dem aus dem Wasser gezogenen Mose (2. Mose 2, 6) meint der Autor semitische Rasse-Merkmale zu erkennen. (S. 81) Andererseits hält es die moderne Bibelwissenschaft für möglich, dass der jüdische Prophet Moses in Wahrheit ein Ägypter gewesen sei.2 Letztlich ist beides irrelevant. Unabhängig von der heute nicht mehr ergründbaren historischen Wahrheit ist auch die Mose-Erzählung nicht rassisch, sondern heilsgeschichtlich zu verstehen. Und Daniel wurde verfolgt, weil er in G’ttestreue seinen Glauben praktizierte. Daniel ist ein Beispiel für Glaubensstärke, nicht für Antisemitismus. Religiöse Intoleranz findet man quer durch die Bibel. Sie traf nicht nur die Israeliten. So etwa liess der Prophet Elias 450 Baals-Propheten „schlachten“. (1. Könige 18, 40) Ein Teil der modernen Bibelwissenschaft interpretiert die biblischen Geschichten als Mythen mit historischem Kern. Biblische Episoden als Geschichtsquelle heranzuziehen ist jedenfalls nur begrenzt sinnvoll. Zudem sollte man um der Klarheit willen den Begriff Antisemitismus nicht für die biblischen Epochen gebrauchen.

 

Die Publikation Simone Paganinis ist gut gegliedert und mit einem detaillierten Inhaltsverzeichnis versehen. Am Ende des Büchleins finden sich wertvolle Literaturangaben mit Erläuterungen zu den einzelnen Publikationen.2 (S. 171-176) Simone Paganini hat sich hier einer grundlegenden und ungemein spannenden Materie gewidmet.3 Der Autor hat es auf sich genommen, die einschlägigen, „antisemitismusverdächtigen“ Bibelstellen zu benennen und in einen breiteren Kontext zu stellen. Und er meint zutreffend: „Antisemitismus kann und muss sowohl in seiner globalen als auch in seiner historischen Dimension ernst genommen werden, ist er doch – so erschütternd das ist – der mit Sicherheit längste „rote Faden“ in der Geschichte der Menschheit.“ (S. 167) Man sollte hinzufügen: „Das gilt jedoch nur bedingt für die Erzählungen des Alten Testaments.“

 

Der Autor

Simone Paganini, Prof. Mag. Dr. theol., geb. 1972 in Busto Arsizio/Italien, ist ein italienischer römisch-katholischer Theologe und Bibelwissenschafter. Er studierte in Florenz, Rom und Innsbruck. Er ist Professor für Biblische Theologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen (RWTH) und Autor zahlreicher wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Bücher, zum Teil auch mit seiner Gattin Claudia Paganini, unter anderem über Qumran, Frauen in der Bibel und skurrile Episoden aus der Kirchengeschichte Er ist auch auf der Plattform „Science Slams“ aktiv.

 

Anmerkung

1 U.a. bei Michael Wolffsohn: Eine andere Jüdische Weltgeschichte. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2023. Siehe auch die Rezension in: DAVID, Heft 146 – 9/2025.

2 Ergänzend sei genannt: Andreas Benk: Christentum, Antisemitismus und Shoa. Warum der christliche Glaube sich ändern muss. Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2022. Siehe auch die Rezension in: DAVID, Heft 139 – 2/2023.

3 Vgl. auch die Rezension von Johanna Grillmayer: Juden, die Bibel und das ewige Andere. In. Religion.ORF.at