Christoph Tepperberg
Sandra Pioro: Nie mehr still. Die Reise zu mir selbst. Eine jüdische Geschichte.
Graz: Edition Keiper, 2025.
Taschenbuch (Englische Broschur), 319 Seiten, Euro 24,00.-
ISBN: 978-3-903575-49-3
Sandra Pioro wurde 1968 in Stuttgart geboren. Sie studierte Musikalisches Unterhaltungstheater, Gesang, Musical am Wiener Konservatorium und erhielt 1993 ihr Diplom für Musikalisches Unterhaltungstheater. Sie debütierte am Wiener Ronacher und wirkte mehrere Jahre als Schauspielerin und Musicaldarstellerin, vor allem an Theatern in Stuttgart, Wien und Graz, zuletzt als Ensemblemitglied der Vereinigten Bühnen Graz. Danach tauschte sie die Bühne gegen Sozialarbeit. Sie ist seit 2000 für den „Verein Rote Nasen Österreich“ tätig, arbeitete als Clownsdoktor in Spitälern und Seniorenheimen. Sie arbeitete auch als Modedesignerin, gründete 2003 ein eigenes Modelabel für nachhaltige Mode. 2019 wurde sie Leiterin des Coaching-Teams und der Abteilung Kostüm und Ausstattung bei den „Roten Nasen“. Die vielseitige Künstlerin ist seit 2022 österreichische Staatsbürgerin und lebt in Graz.
Der Vater:
Der aus Sosnowiec in Polen stammende Samuel Pioro wurde 1926 geboren. Er war Jude und überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust. Er selbst wurde in das KZ Auschwitz verbracht und noch kurz vor der Befreiung Anfang 1945 auf den Todesmarsch in das KZ Buchenwald geschickt. Von dort kam er zunächst nach Innsbruck-Reichenau. Von Reichenau gelangte er nach Föhrenwald (südlich München) in ein Lager für „Displaced Persons“. Das Lager mit dem Charakter eines jiddischen Schtetls blieb für zwölf Jahre seine Zuflucht. Danach zog er nach Stuttgart und gründete dort eine Familie. Die Mutter hatte die Zeit der Verfolgung glücklich überstanden. Die Familie gehörte zu einer konservativ-jüdischen Gemeinde. Wie in anderen Familien, die während der NS-Zeit Traumata erlitten hatten, wurde auch in Sandras Familie nicht über die Schrecken des Holocaust gesprochen, alles von dem damals kleinen Mädchen ferngehalten. Es wurde geschwiegen. Das Schweigen wurde ihr in der Kindheit geradezu beigebracht. So ist Sandra lange Zeit still gewesen – ohne Fragen und ohne Antworten. Sandra hing abgöttisch an ihrem liebevollen Papa, der seine Familie jedoch immer wieder verliess. Er kam und ging, schrieb Briefe, bis er 1991 nach Scheidung der Eltern gänzlich aus Sandras Leben verschwand. So entstand ein eigenes Trauma: Verlustangst und Sehnsucht.
Jüdin des Schweigens:
Sandras jüdische Herkunft war bei ihren Mitschülern am Gymnasium kein Thema. Eigenartig allerdings: Sie war vom christlichen Religionsunterricht ausgeschlossen und sollte auch am Geschichtsunterricht nicht teilnehmen, wenn dort die Zeit des Nationalsozialismus durchgenommen wurde. Vor etwa zehn Jahren hatte Sandra ein krasses antisemitisches Erlebnis, das sie besonders erschütterte und ihr Leben nachhaltig veränderte: An einem lauschigen Sommerabend sass sie mit mehreren Designer-Freunden auf einer Wiener Dachterrasse mit Blick auf die Synagoge. Ein Kollege, der mir in diesem Kreis gegenübersass, schaute mich süffisant an, zeigt mit dem Finger nach unten und sagte: „Dort unten steht die Synagoge. Das ist praktisch, denn von hier aus kann man direkt auf die Juden runterspucken.“ Sandra geriet in einen Schockzustand, doch anstatt ihrem Zorn Luft zu machen, verliess sie schweigend den Ort. (S. 14)
Auf Spurensuche:
Ihr Schweigen und subjektiv gefühltes Versagen hielten sie gefangen, bis in ihr der Gedanke reifte, ihr Trauma durch Erforschen ihrer Herkunft abzuschütteln und ihre Erkenntnisse in einem Buch niederzuschreiben. Also begab sie sich auf die Spurensuche nach ihrer jüdischen Familie – auf einen langen schmerzhaften Weg auf der Suche nach Antworten auf ihre vielen Fragen. Ihre Suche ist das beeindruckende Ergebnis des Eintauchens in die Vergangenheit. „Die Neugierde duelliert sich mit der Angst. [...] Letztendlich gewinnt jedoch die Sehnsucht, die sich in meinem Inneren breitmacht und nach den Erinnerungen und Wahrheiten sucht, die allzu lange wie auf einem Meeresgrund verschollen schienen.“ (S. 21) Die Vergangenheit muss auftauchen, aus der Tiefe des Wassers, des Meeres des Vergessens. Diese Metapher des Tauchens in die Tiefe des Meeres durchzieht das gesamte Werk, wird Stilmittel und Methode. Sie erzählt in ihrem Buch von ihrer Recherche, die sie nach Polen führt und verbindet diese mit ihrer eigenen Biografie. Dabei durchwandert sie auch Sosnowiec, die Heimatstadt ihres Vaters und gelangt dort zum jüdischen Friedhof, auf dem ihr Grossvater Dawid, einst Kolonialwarenhändler, bestattet wurde. Der Grabstein fehlt. Von dort fährt sie nach Auschwitz-Birkenau, wovon sie begreiflicherweise zutiefst beeindruckt ist. Am Ende ihrer Reise (und des Buches) schreibt sie in Krakau den vielleicht letzten Brief an ihren geliebten Papa. Der Brief ist bedrückend und hält noch einmal vor Augen, wieviel Kraft es kostete ein Trennungstrauma zu überwinden. (S. 297f.) So ist das Buch zugleich die Geschichte eines Trennungskindes und steht für eine Generation, die man heute als Kriegsenkel bezeichnet.
Überwindung der Traumata:
Bei ihren Recherchen durchbricht die Autorin das Schweigen ihrer Familie, sie entdeckt nach und nach ihre eigene Identität – als Tochter eines Auschwitz-Überlebenden, als Künstlerin, als jüdische Frau. Sie tut dies in einer poetischen und zugleich präzisen Sprache. So entstand am Ende der Reise mit Tauchgängen in die Tiefen ihrer Seele nach 22 Monaten des Schreibens und der Selbstreflexion ein wunderbares Stück Literatur. Das Cover ist liebevoll gestaltet: Die Innenseiten der Buchklappen sind gefüllt mit den Namen von Familienmitgliedern, von denen Sandra erst im Laufe ihrer Suche erfuhr und deren Namen sie beim Besuch des KZ Auschwitz unter den Opfern eingeschrieben fand.1
Das Werk ist in zwei Abschnitte gegliedert: Teil 1: Die Reise beginnt (S. 23-182), Teil 2: Auf zu neuen Ufern (S. 183-300). Das Buch beginnt mit einem Prolog: Reisevorbereitungen und Die Koffer sind gepackt und schliesst mit einem Epilog Die Hüterin des Schatzes (S. 301-303). Eine Danksagung veranschaulich die umfangreichen Recherchen der Autorin (S. 305-307). Literatur- und Quellenhinweise (S. 308-309) sowie ein Glossar relevanter Begriffe (S. 310-316) ergänzen dieses wunderbare literarische und zeitgeschichtliche Werk.
Anmerkung
1Vgl. auch die Rezensionen und Kritiken von Larissa Demmig, Stefanie Maier, Marianne Nolde, Volker, Schögler und Hedwig Wingler auf der Website von Sandra Pioro (www.pioro.at).