Christoph Tepperberg
Heimo Halbrainer / Marco Jandl / Thomas Stoppacher (Hrsg.):
NS-Herrschaft, Verfolgung und Widerstand in der Oststeiermark 1938–1945. Graz: CLIO Verlag 2025.
Hardcover, 280 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Skizzen und Tabellen, Euro 29,00.-
ISBN: 978-390342526-2
Der Verlag des CLIO-Vereins für Geschichts- & Bildungsarbeit unter der wissenschaftlichen Leitung von Heimo Halbrainer veröffentlicht seit 1998 laufend Bücher zur Zeit- und Kulturgeschichte. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunk auf der Geschichte der NS- und Nachkriegszeit. Das hier vorliegende Buch setzt diesen Forschungsschwerpunkt fort. Der Sammelband enthält 19 Beiträge von 15 Autoren: Wolfgang Brossmann, Otmar Brandweiner, Heimo Halbrainer, Marco Jandl, Engelbert Kremshofer, Eleonore Lappin-Eppel, Martin Pöllabauer, Michael Rath, Hans Reitbauer, Andreas Salmhofer, Gernot Schafferhofer, Anni Seitinger, Thomas Stoppacher, Chri Strassegger und Kerstin Ziegler. Die Beiträge sind jeweils mit einem wissenschaftlichen Anmerkungsapparat (Fussnoten) versehen.
Die Oststeiermark umfasst die heutigen Bezirke Weiz und Hartberg-Fürstenfeld. Es gibt für diese Bezirke inzwischen eine ganze Reihe regionaler Einzelpublikation zum Thema NS-Verbrechen. Nunmehr bietet der vorliegende Sammelband eine Gesamtschau mit neuen Quellenstudien und unter Einbeziehung regionaler Publikationen. Vor allem aber wurden Vorarbeiten von engagierten Personen der Regionen mit einbezogen, die durch Interviews von Zeitzeugen wertvolle Beiträge lieferten.
Wir haben uns schon derart an die thematische Dominanz der Vernichtungsmaschinerie des Holocaust in fabrikmässigen Dimensionen gewöhnt, dass wir bisweilen den Blick auf die zahllosen Gewaltakte des NS-Regimes jenseits der grossen Vernichtungslager aus den Augen verlieren. Im vorliegenden Band werden uns gerade diese Gewaltaktionen wieder deutlich vor Augen geführt: Demütigung, Diskriminierung, Ausschluss aus der Volksgemeinschaft, Arisierungen von Häusern, Betrieben und Geschäften, Beschlagnahmung von Kraftfahrzeugen als „Dienstfahrzeuge“ für NS-Organisationen, schliesslich die drakonische Ahndung von harmlosesten Unmutsäusserungen, gepaart mit einem überbordenden Denunziantentum: alles Kennzeichen für Diktaturen im Allgemeinen. (S. 7-24)
Das Buch ist in vier Hauptabschnitte gegliedert: 1. NS-Herrschaft und NS-Terror; 2. Widerstand und Opposition; 3. Jüdisches Leben und Verfolgung der Jüdinnen und Juden; 4. Erinnerung.
Die Beiträge des 1. Abschnittes beschäftigen sich mit der NS-Herrschaft in den Regionen Joglland und Wechselland; mit der Opferdatenbank für die Oststeiermark; mit den Roma im Bezirk Hartberg; und den Krankenmorden im Kreis Fürstenfeld.
Der 2. Abschnitt informiert über den Nationalsozialismus im Feistritztal, speziell über eine Pappfabrik in Rosegg; über das Verschwinden zweier Familien 1938, über ein Sensenwerk und ein Ferienheim in Arzberg; es folgen Abhandlungen über die Judenverfolgung in Fürstenfeld; schliesslich über die Endphaseverbrechen, die Todesmärsche ungarischer Juden 1945.
Der 3. und umfangreichste Abschnitt dokumentiert den bewaffneten Widerstand in der Region Harzberg-Masenberg; ein Versteck von 45 Deserteuren 1945 im Hochlantschgebiet; Widerstand in Fischbach 1944/45; das Wirken des Pfarrers von Gasen und dessen Ermordung; Beiträge über die NS-Opfer in Birkfeld und Weiz; und über zivilen Ungehorsam in Fladnitz an der Teichalm.
Der 4. und letzte Abschnitt befasst sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg in der Oststeiermark; zusammen mit einer fotografisch-kartografischen Spurensuche zu vergessenen Orten des NS-Terrors.
Es ist im Rahmen dieser Rezension unmöglich, all diese wertvollen Beiträge zu besprechen. Ich werde mich auf einen Artikel konzentrieren, der hoffentlich das Interesse unserer Leserinnen und Leser findet: Endphaseverbrechen vor der Haustür – Die Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und Juden durch die Oststeiermark im Frühjahr 1945. (S. 159-180) Die Autorin Eleonore Lappin-Eppel ist eine erfahrene Wissenschaftlerin, die an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und an der Universität Graz arbeitet. Wie alle Beiträge des Bandes ist auch ihr Artikel nicht weitschweifig und dennoch von erstaunlichem Detailreichtum. Die Ostmark wurde in den letzten Wochen vor der Befreiung durch die Alliierten im April und Mai 1945 zum Schauplatz von Kämpfen zwischen der Deutscher Wehrmacht und den anrückenden Alliierten. Dabei kam es auch in der Oststeiermark zu sogenannten Endphaseverbrechen, denen ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Deserteure, politische Gegner und Personen des Widerstandes zum Opfer fielen. Unmittelbarer Anlass für diese Verbrechen war die Evakuierung der zum Bau des Südostwalls eingeteilten meist jüdischen Zwangsarbeiter infolge der herannahenden Roten Armee. Der Südostwall war als (unwirksame) Befestigung „gegen den Feind aus dem Osten“ gedacht. Als die Todesmärsche der ungarischen Juden und anderer Zwangsarbeiter begannen, wurden die grossen Vernichtungslager im Osten bereits evakuiert. Deshalb gingen die Todesmärsche quer durch die „Gaue der Ostmark“, insbesondere durch die „Gaue Steiermark“ (Steiermark/Südburgenland) und „Niederdonau“ (Niederösterreich/ Nordburgenland) in das noch im „Betrieb“ befindliche KZ Mauthausen in „Oberdonau“ (Oberösterreich). Eleonore Lappin-Eppel gibt dazu einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Marschrouten.
Die Massenmorde in den Konzentrationslagern, im Frontbereich und im feindlichen Hinterland wurden fast ausschliesslich von staatlichen Organisationen begangen: von SS, Waffen-SS, fallweise unterstützt von der Deutschen Wehrmacht. Die Endphaseverbrechen wurden zwar von SS-Verbänden unterstützt, für die Organisation des Südostwall-Baues und der Todesmärsche Richtung Mauthausen waren jedoch die Parteiorgane, das heisst die Gau- und Kreisleiter zuständig. Die Durchführung oblag dem Volkssturm, vereinzelt der Hitlerjugend (HJ) und Einheiten der SA, mehrheitlich Menschen, die für die Wehrmacht zu alt oder zu jung waren, a priori jedenfalls keine NS-Fanatiker, sondern ein Durchschnitt der Zivilbevölkerung. Ausgelöst wurden die Verbrechen dadurch, dass ein erheblicher Teil der Gefangenen unterernährt, entkräftet, für das Märzwetter unzureichend bekleidet, unterkühlt und krank, somit nicht mehr marschfähig war. Sie sollten nach Ansicht der NS-Organisatoren nicht einfach zurückgelassen, sondern liquidiert werden. (Dies wäre mit Sicherheit auch im KZ Mauthausen geschehen.) Die Liquidierungen wurden zwar von Gau- und Kreisleitern angeordnet, jedoch von Menschen aus der Bevölkerung ausgeführt. Die Gräueltaten bestanden aus Quälereien, Tötungen durch Erschiessen und Erschlagen. Bisweilen liess man die Sterbenden einfach an Ort und Stelle liegen. Trotz der Schiessbefehle gab es Spielräume des Aufsichtspersonals, durch Hinhaltung oder Ablehnung der immer nur mündlich weitergegeben Befehle. In diesen Fällen wurden die Morde von anderen ausgeführt, meist von SS-Männern. Die Opferzahlen bewegte sich meist im ein- bis zweistelligen Bereich.1 Zu diesen Verbrechen gehört auch der Massenmord beim Kreuzstadel zu Rechnitz im Kreis Oberwart (Burgenland), dem geschätzt 200 Menschen zum Opfer gefallen sein dürften.2 Eleonore Lappin-Eppel berichtet auch von Fluchtversuchen und von Helfern, die Gefangene verpflegten oder gar versteckten. Dafür wurden die Oststeirerin Josefa Posch und ihr Vater Rupert 2011 posthum von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern gehrt.
Am Ende des Bandes befinden sich der Abbildungsnachweis (S. 380-381) und ein Verzeichnis der Autor*innen (S. 382-384). Der vordere und hintere Inneneinband zeigt eine Übersichtsskizze aus dem Jahr 1954 über die 1945 im Bezirk Hartberg und Weiz begangenen NS-Verbrechen. Die Beiträge dieses Sammelbandes vermitteln ungemein interessante und spannende Einblicke in NS-Herrschaft, Verfolgung und Widerstand in der Oststeiermark.
Anmerkungen
1 Siehe auch Eleonore Lappin-Eppel: Die Todesmärsche ungarischer Juden durch den Gau Steiermark, der Bau des Südostwalls. S. 263-289. In: Gerald Lamprecht (Hrsg.): Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung, Auslöschung, Annäherung. Innsbruck, Wien [u.a.]: Studienverlag 2004.
2 Vgl. Christoph Tepperberg: Die tragischen Ereignisse am Karfreitagabend 1945 in Rechnitz und die Suche nach der Begräbnisstätte der 200 ermordeten ungarischen Juden. In: DAVID, Heft 147 – 12 / 2025, Onlineausgabe.