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Und trotzdem. Die Biographie von Marcus Klingberg.

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Marcus Klingberg und Michael Sfard: Der letzte Spion. Autobiographie

Münster/Berlin: Prospero Verlag 2014

Aus dem Hebräischen von Wiebke Ehrenstein

613 Seiten, kartoniert, Paperback, Euro 19,60 (A)/ Euro 19,00 (D)

ISBN 978-3-941688-14-8

 

Es fällt schwer, auf den wenigen Zeilen einer Rezension ein ganzes Leben zu erfassen. Ein Lebensweg, der in Warschau beginnt, wo Abraham Marcus („Marek") Klingberg am 7. Oktober 1918 in eine orthodoxe jüdische Familie geboren wird. Als junger Medizinstudent flieht er während des Zweiten Weltkriegs nach Minsk, beendet dort das Studium und dient als Arzt in der Roten Armee. Nach Kriegsende erhält er die traurige Gewissheit über das Schicksal seiner in Polen verbliebenen Familie: Die Eltern und der Bruder wurden 1942 in Treblinka ermordet. Marcus Klingberg emigriert mit seiner Frau Wanda Jasinska zunächst nach Schweden - wo Tochter Sylvia auf die Welt kommt - und später nach Israel. Dort startet er eine steile wissenschaftliche Karriere, wird Epidemiologe von Weltrang und stellvertretender Direktor des Israel Institute for Biological Research in Ness Ziona, wo Forschungen zu Israels Bio- und Chemiewaffenprogrammen stattfinden. Ab 1969 ist er als Professor für Epidemiologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Tel Aviv tätig, wo er von 1978 bis 1983 als Vorstand der Abteilung für Präventiv- und Sozialmedizin fungiert. Bereits in den 1950-er Jahren beginnt Marcus Klingberg mit seiner Geheimdiensttätigkeit für den KGB. Im Jänner 1983 informieren ihn Agenten des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, dass er als Experte zu einem angeblichen Chemieunfall nach Singapur reisen müsse. Doch er wird in ein abgelegenes Apartment gebracht, wo es zu tagelangen Verhören kommt. In einem Prozess, der in Israel unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, wird er der Spionage für schuldig befunden und erhält dafür die Maximalstrafe von zwanzig Jahren. Gleich nach der Verhaftung wird Tochter Sylvia aktiv und wendet sich - ohne ihre Eltern darüber zu informieren  - an den Pariser Anwalt und Menschenrechtspezialisten Antoine Comte, der den Fall ohne Honorarforderungen übernimmt. Comte kontaktiert den DDR-Anwalt Wolfgang Vogel und Sylvia reist in die Sowjetunion, wo sie in Leningrad von Agenten verhört wird, die ihre Aussagen überprüfen wollen. In Israel versucht Staatsanwalt Amnon Zichroni einen Handel mit der Sowjetunion auszuarbeiten, in dessen Rahmen Klingberg 1988/1989 gegen den verschollenen israelischen Kampfpiloten Ron Arad ausgetauscht werden soll. Der Plan scheitert allerdings. Kopien von diversen Dokumenten im Anhang des Buches Der letzte Spion zeigen unter anderem, dass auch die Stasi und wiederum Wolfgang Vogel in den Plan involviert waren. 1997 fordert Amnesty International die Freilassung Marcus Klingbergs wegen gesundheitlicher Gründe und ein Jahr später wird er unter Hausarrest gestellt. Nach seiner Entlassung im Jänner 2003 zieht er zu seiner in Paris wohnenden Tochter Sylvia, wo er auch noch heute lebt. Bereits im Gefängnis notiert er erste autobiographische Aufzeichnungen und nach der Freilassung beginnt er die Zusammenarbeit mit dem israelischen Anwalt und Menschenrechtsaktivisten Michael Sfard beim Verfassen der Lebenserinnerungen.

Beim Lesen des Buchs fühlt man sich wie in eine Geschichte des grossartigen Autors John le Carré hineinversetzt, der in seinem Spionageroman Tinker, Tailor, Soldier, Spy schreibt: „ There are moments which are made up of too much stuff for them to be lived at the time they occur." Diese Momente werden in der Autobiographie von Marcus Klingberg eingefangen.

Im Nachwort von Der letzte Spion beschreibt Marcus Klingbergs Enkel Ian Brossat seine persönlichen und berührenden Eindrücke über den Grossvater. Ian Brossat, Jahrgang 1980, ist als Vertreter der Kommunistischen Partei Frankreichs in der Pariser Stadtregierung aktiv, wo er seit März 2014 das Amt des Vizebürgermeisters für Wohnen und Notunterbringung innehat. Lange Jahre hindurch kannte er den Weg seines Grossvaters nur aus bruchstückhaften Erzählungen und erst durch die Autobiographie kann sich der Enkel ein genaueres Bild von seinem Leben machen: „Eine ungewöhnliche Geschichte, ein ungewöhnliches Schicksal, seltsam und exotisch in diesen Zeiten, in denen sich die Lehre des Nachgebens verstärkt und verschärft, in denen uns die Zeitungen und die Radiosender wieder und wieder belehren, dass wir uns von nun an von unseren Hoffnungen trennen müssen, dass so das Leben ist, dass der Horizont versperrt ist und Träume zum Scheitern verurteilt sind. Und trotzdem."