Margit Franz, Heimo Halbrainer (Hg.): Going East - Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika.
Graz: CLIO 2014
Geb., 704 S., zahlreiche Illustrationen
Euro 39,00
ISBN: 978-3-902542-34-2
Das siebenhundert Seiten starke Buch Going East - Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika führt erstmals ins Protektorat Britisch-Nord-Borneo, in die portugiesische Kolonie Angola, in die italienische Kolonie Libyen, ins unabhängige Liberia oder ins japanisch besetzte Mandschuko am chinesischen Festland. Am Kreuzungspunkt von auslaufender imperialistisch geprägter Kolonialgeschichte und aufstrebender Weltwirtschaft versuchten zehntausende Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus zu fliehen. Die Evian-Konferenz im Juli 1938 brachte keine neuen Quoten und Aufnahmeländer im westlichen Kulturkreis, so versuchten verzweifelte Juden und Jüdinnen in „exotische" Exildestinationen zu gelangen. Shanghai, das in der Forschung schon zahlreich erkundet wurde, war einer dieser wenigen offenen Häfen. Das vorliegende Buch widmet sich aber explizit den anderen Ländern in Asien und Afrika, die Aufnahme boten, zwar ohne Aufnahmequoten aber oftmals mit speziellen Aufnahmebedingungen wie Vorzeige- oder Landungsgeldern. Manche Länder verlangten Arbeitsverträge und Visa aufgrund eines Affidavits. Dennoch gab es zahlreiche Möglichkeiten dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich zu entkommen, die mehrere Tausend Menschen vor dem Holocaust bewahrten.
Die Fülle des gesammelten Materials dieses Buches ist beeindruckend. Es füllt nicht nur wissenschaftliche Lücken für Österreich wie für Deutschland, sondern eröffnet viele neue Ansätze in der Exilforschung, wie beispielsweise auch die biografischen Skizzen aus Kasachstan von verschleppten österreichischen jüdischen Flüchtlingen aus dem Baltikum nach Zentralasien unter dem Titel „Deported to life" zeigen.
Der generelle Blick auf „exotische" Exilländer verrät eine neue Weltoffenheit im Zeichen der Globalisierung. Reisen in ferne Länder mit Billigflugangeboten sind heute keine Seltenheit mehr, LeserInnen nähern sich diesen Ländern durch die Berichte der ExilantInnen und sehen andererseits die umgekehrte historische Fluchtrichtung von heutigen Flüchtlingsbewegungen. Die historischen Aufnahmegesellschaften beispielsweise in Afrika sind heute Ausgangspunkte aktueller Fluchtbewegungen nach Europa.
Mit dem Sammelband schlagen die österreichischen HerausgeberInnen auch neue wissenschaftliche Tore auf und verweisen auf einzelne Forschungsansätze in den USA. Besonders die jüdische US-amerikanische Historikerin Atina Grossmann scheint das Team sehr beeindruckt zu haben. Bei der Simon Wiesenthal Lecture im Juni 2013 in Wien meinte Grossmann: „Wir sind jetzt so weit, dass wir auch diese Geschichten von Überlebenden, die sehr unterschiedliche Schicksale hatten, erzählen sollen und müssen. Damit werden wir die Grösse und weite Strecke, und die vielen unterschiedlichen Orte und Länder, die eigentlich alle Teil der Geschichte der Shoah sind, sowie die Geschichte des Krieges neu verstehen und erzählen, sozusagen eine neue Landkarte aufbauen müssen." Dieses Buch ist - wie die Herausgeberin und der Herausgeber schreiben - Teil dieser neuen Landkarte: Es fördert viele vergessene und marginalisierte Geschichten zu Tage und generiert mit der Fülle verschiedener Quellen neue Interpretationsmöglichkeiten und Forschungsfragen. Wobei Analysen und historische Konzeptualisierungen, eine Mischung aus Kolonialgeschichte und Vertreibungspolitik im nationalsozialistischen Deutschland, neben biografischen Erzählungen, Reisebeschreibungen und nüchternen zeitgenössischen Annoncen zu Einreisebedingungen stehen. Teile von Fotoalben, erhaltene Briefe und literarische wie bildnerische Bearbeitungen geben dem Lesevergnügen Nahrung. So wird die Lektüre zwischen französischen Kolonialdiensten, dem Überlaufen zu Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien, dem temporären Gestrandetsein in Nordafrika, den Geheimdienstaktivitäten österreichischer ExilantInnen in der Türkei und in Ägypten, dem Leben an indischen Maharadschahöfen, dem Überlebenskampf im japanisch besetzten Manila, gegen die mitinternierten Nationalsozialisten in britisch-kolonialen Lagern und generell im Kampf gegen tropische Krankheiten und klimatische Widrigkeiten gesponnen. Eine Geschichte erscheint interessanter als die andere. Wirkungsgeschichtliche Ansätze gehen weit über 1945 hinaus und erzählen Geschichten von Mitgliedschaften im südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampf wie in den Truppen Ho-Chi-Minhs in Vietnam, von exilierten Rabbinern und Musikern und ihrer Bedeutung im südlichen Afrika, von Kunstzirkeln und ihrer Förderung der Avantgarde in Bombay. Instrumente zur Erlangung von Aufenthalten wie die der Scheinehen, aber auch Erzählungen über jahrelange Bemühungen von Exilorten wieder weg zu kommen, wie auch der Internierung in Mauritius oder der Gefangenschaft zwischen Bürokratien und Ideologien aus dem vormals japanisch regierten, nach dem Zweiten Weltkrieg sowjetisch besetzten Harbin in China der Nachkriegsjahre in das von vier Mächten kontrollierte Österreich, ergänzen die Geschichten zum Exil in Asien und Afrika. Ein Namensindex und eine Zeittafel runden das Werkzeug zur Erfassung dieser komplexen Thematik ab und helfen die Bedeutung des Exils zwischen Kolonialgeschichte und Globalgeschichte neu zu deuten und zu denken.