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Stenographin des Alterns

Annette BUSSMANN

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Vor 85 Jahren bat die Wiener Malerin Marie-Louise von Motesiczky erstmals ihre Mutter zum Portrait. Sie legte damit den Grundstein zu einer Dekaden übergreifenden Serie, die heute als einzigartige ungeschönte Dokumentation des Alterns gilt. Bis die Kunstszene von Motesiczkys Talent erkannte, verstrichen gleichwohl Jahrzehnte.

 

Als „Erfahrung der aussergewöhnlichen Art"1 lobpries die Londoner Times die ausdrucksstarke Bilderwelt Marie-Louise von Motesiczkys (1906-1996). Damals, 1985, entdeckte das Londoner Goethe-Institut von Motesiczkys Œuvre endlich in grossem Stil und präsentierte rund 70 ihrer Werke - bisweilen an die Neue Sachlichkeit erinnernde, sich dennoch jeder Kategorisierung entziehende figürliche Werke aus Öl, Kohle, Aquarell und Kreide. Die vielgerühmten, erbarmungslos unverklärten Portraits der eigenen Mutter, wiederholt in eine Reihe mit ähnlich beklemmend realistischen Mutterbildern Rembrandts, Whistlers, Dürers gestellt, werden inzwischen als beispiellose Dokumentation des Alterns gehandelt2. Dazu kommen noch die symbolträchtigen, dunkel konturierten Stillleben, und schliesslich ihre eindringlichen Selbstbildnisse, die eine von Höhen und Tiefen getragene Chronologie des Ich spiegeln. „Es ist eigentlich ein Märchen"3, befand von Motesiczky anlässlich ihrer - für sie - schmerzlich späten Würdigung kurz vor ihrem 80. Geburtstag. Hoffnungsvoll hatte sie 1922 ihre Malerinnen-Karriere gestartet, als umtriebige Wiener Bohèmienne. 1938/39 aber, nach der Annektierung Österreichs durch NS-Deutschland, floh die getaufte Protestantin jüdischer Herkunft nach England. Der dortige Kunstmarkt versperrte sich deutschsprachigen Künstlerinnen weitgehend. Und so lebte sie fortan grossenteils isoliert. Künstlerisch wie privat.

 

„...auch wirst Du nicht immer Deiner Mutter auf der Tasche liegen wollen": Berufsstart

„Wenn man nur ein einziges gutes Bild malt, solange man lebt, war es das ganze Leben wert"4, schwärmte Marie-Louise von Motesiczky mit 16 Jahren. Heinrich Simon, Vorsitzender Geschäftsführer der Frankfurter Zeitung und enger Freund der Familie, warnte vor überzogener Euphorie - „auch wirst Du nicht immer Deiner Mutter auf der Tasche liegen wollen"5. Und so arbeitete von Motesiczky fortan unermüdlich an ihrer Karriere: In Den Haag besuchte die Tochter aus finanziell gutbestücktem Wiener Hause - Mutter Henriette war eine geborene von Lieben, Vater Graf Edmund von Motesiczky-Kesseleökeö entwuchs kaum weniger betuchten Kreisen - die private Kunstschule der Malerin Carola Machatka. Es folgten die Frankfurter Städelschule, die Wiener Kunstgewerbeschule, die Pariser Académie de la Grande Chaumière. Mit 21 Jahren wagte von Motesiczky ihren künstlerisch bedeutsamsten Schritt: Auf Anraten Max Beckmanns begab sie sich in dessen Frankfurter Meisterklasse. Beckmann, in Deutschland hofiert, in Wien mitunter „verhasst"6, eilte der Ruf eines kleinen Tyrannen voraus. Von Motesiczky aber verehrte ihn zeitlebens. Von ihm habe sie eine neuartige „Stenographie der Wirklichkeit"7 gelernt, begonnen, etablierte Themen innovativ zu begreifen. Sein Verständnis figurativer Malerei „als Ausdruck inneren Erlebens"8 habe sie so sehr erfüllt, dass Parallel-Entwicklungen der Kunstszene, z.B. der abstrakten Malerei, regelrecht an ihr vorbeigerauscht seien. Von Motesiczkys Bilder überzeugten Beckmann: „Paula Modersohn-Becker, die beste deutsche Malerin, naja, Sie haben alle Chancen, ihre Nachfolgerin zu werden"9. Von Motesiczkys Frühwerk ist markant beckmännisch inspiriert. Doch befreite sie sich rasch von ihrem Übervater, wie die Schriftstellerin Hilde Spiel frühzeitig und zu Recht betonte10, während andere Kunstkritikerinnen von Motesiczky hartnäckig in Beckmanns Schatten zerrten11.

 

„Ich hab` mich am Leben erhalten damit": Mutterportraits

Adipös, das schüttere Haupthaar unter eine schlechtsitzende Perücke gezwängt, Pfeife qualmend, unentwegt Siestas frönend und - gelegentlich - hemmungslos auf Enten ballernd. Später dann spindeldürr, kahlköpfig, unter der immer mächtiger geratenden Nase ein Bart spriessend: Die Bilder, die Marie-Louise von Motesiczky von ihrer Mutter auf die Leinwand applizierte, blendeten keinen Makel, keine Vergreisungsspur aus. Henriette von Motesiczky (1882-1978), ehemals als resolut-androgyne „wilde Hummel" verschrien und wegen ihres unerbittlichen Fahrstils gefürchtet, schrumpft von Bild zu Bild, von 1929 bis 1978, regelrecht zusammen. „Getragen und erfüllt von tiefer und zärtlicher Liebe"12 seien Marie-Louise von Motesiczkys Mutterportraits, diagnostizierte der altehrwürdige Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich. Recht glauben mag man es ihm erst auf den zweiten Blick - insbesondere nach Lektüre von Marie-Louise von Motesiczkys Schriften, die eine innigliche Mutter-Bindung offenbaren, wenngleich es an Ambivalenzen nicht mangelte. „Emotional war ich restlos glücklich mit meiner Mutter" 13, resümierte von Motesiczky hochbetagt. Eine gewöhnliche Erziehung habe sie jedoch nie genossen. „Ich hab` eigentlich ein bisschen meinen Vater ersetzt." Der frühe Tod des Vaters, Marie-Louise war knapp drei Jahre alt, und später dann, 1943, die Ermordung des geliebten, älteren Bruders Karl durch die Nazis, schweissten Mutter und Tochter sichtlich zusammen. Bereits 1938, einen Tag nach der Annexion Österreichs, flohen sie gemeinsam über die Schweiz in die Niederlande, 1939 nach London, schliesslich nach Amersham und Hampstead. Sie verloren das Gros ihres Vermögens, waren gleichwohl zu keiner Zeit mittellos. Die Mutterportraits entstanden initial aus nacktem Pragmatismus: Marie-Louise fehlten Modelle. Henriette aber liess sich geduldig portraitieren, genoss die damit verbundene Gesellschaft. Das bisweilen überzogen realistische Ergebnis liebte sie oft weniger - wie manch anderer, demaskierend Portraitierter übrigens auch: Baron Philippe de Rothschild weigerte sich schlicht, sein Portrait anzunehmen.14 Als Henriette zum Pflegefall wurde, avancierten die Bildnisse für Marie-Louise zur Therapie: So sehr sie die Stärke der Mutter schätzte, „tapfer wie ein Soldat. Keine Klage nie"15, so sehr litt sie als Tochter unter der Situation: „ich geh ´zugrund", gestand sie, „ich kann nicht mehr aus dem Haus." Die Mutterportraits aber lenkten sie ab: „Ich hab´ mich am Leben erhalten damit"16.

 

„Du gibst mir etwas, was ich nicht habe": Elias Canetti

Drei „Hauptgötter"17 besässe sie, scherzte von Motesiczky: Ihre Mutter, Beckmann und Elias Canetti. Seit 1939 miteinander bekannt, blieb der Schriftsteller über fünf Jahrzehnte ihr Förderer: „Jedes Bild, das Du noch malst, wird in die Geschichte der Malerei eingehen"18. Und ihr heimlicher Geliebter: „Du gibst mir etwas, was ich nicht habe und ohne das ich nicht leben könnte"19, gestand er ihr. Dass von Motesiczky ihn trotzdem als „persönliche Katastrophe" bilanzierte20, scheint verständlich: Canetti war verheiratet, unterhielt nebenher weitere Liaisons, ignorierte von Motesiczkys Briefe oft monatelang, verschwieg ihr seine zweite Heirat, die Geburt der Tochter. Umgekehrt war er schon eifersüchtig, wenn von Motesiczky auch nur einen Handwerker avisierte. Es mag ihren beträchtlichen intellektuellen Minderwertigkeitsgefühlen21 geschuldet sein, dass sie dennoch bei ihm blieb: Der spätere Literaturnobelpreisträger schien diese brillant zu kompensieren, ebenso ihre Trauer über die Dekaden lange Missachtung als Künstlerin. Als von Motesiczkys Œuvre 1985 endlich gebührend gefeiert wurde, gratulierte Canetti: „Es ist einfach wunderbar ... Jetzt sind die Bilder da und werden nie mehr verschwinden"22. Hoffentlich.

  

1  Zit. n. Marie-Louise von Motesiczky (nachfolgend: MLvM): Es ist eigentlich ein Märchen. S. 174. In: Menschenbilder. Hg. Von H. Gaisbauer und H. Janisch. Wien 1992, S. 169-175

2  Zuletzt: Adler, Jeremy / Sander, Birgit (Hgn.): MLvM. 1906-1996. AK, München et al. 2006 - MLvM. AK, Wien 1994 - Lloyd, Jill: The Undiscovered Expressionist. A Life of MLvM. Yale University Press, New Haven 2007 - Schlenker, Ines: MLvM 1906-1996: A catalogue raisonné of the paintings with a selection of drawings. New York 2009 - dies. / Wachinger, Christian (Hg.): Liebhaber ohne Adresse. Briefwechsel 1942-1992. München 2011 - Nachlass: MLvM Charitable Trust. http://www.motesiczky.org (abgerufen 06.08.2014)

3  MLvM, 1992, S. 175

4  MLvM: Etwas über mich. S. 13. In: MLvM, 1994, S. 13-16

5  ebd., S. 13

6  ebd., S. 14

7  MLvM: Max Beckmann als Lehrer. AK, 1964, o.S. In: Max Beckmann, Bildnisse aus den Jahren 1905-1950. München 1964

8  MLvM, 2006, S. 113

9  MLvM, 1964

10  Spiel, Hilde: Die Malerin Marie-Louise Motesiczky. In: FAZ, 19.05.1966

11  Vgl. u.a. „Beckmanns Bann: Zum Tode von Marie-Louise von Motesiczky. In: FAZ, 14.06.1996

12  MLvM, 1994, S. 7-8

13  MLvM, 1992, S. 172

14  MLvM, 2006, S. 242

15  zit. n. Schlenker, 2008, S. 71

16  MLvM, 1992, S. 172

17  MLvM, 2011, S. 371

18  MLvM, 2011, S. 367

19  MLvM, 2011, S. 123

20  MLvM, 2011, S. 371

21  MLvM, 1994, S. 13: „Mit dreizehn verliess ich die Schule (ein Fehler)."

22  MLvM, 2011, S. 342