Ratlos irrt mein Blick über die hebräischen Buchstaben neben den Klingelknöpfen. Dass in Tel Aviv die Namensschilder hebräisch beschriftet sind, damit hätte ich rechnen müssen. Die pfingstliche Lösung der Sprachverwirrung erscheint in Gestalt eines mürrischen Briefträgers. Er versteht weder mein Deutsch noch mein Englisch, aber auf einem der Postfächer, die er öffnet, steht in lateinischen Buchstaben „Koppel", und mit Händen und Füssen deute ich ihm, wo die zugehörige Klingel sei. Unwillig drückt er auf einen Knopf, der Türöffner summt und ich stürze in den kühlen dunklen Flur.
Das Stiegenhaus - ein extrem schmaler Schacht - windet sich rechtwinkelig empor, mein Herz klopft. Gleich werde ich ihm gegenüber stehen, dem Berühmten, dem vielfach Ausgezeichneten, dem Träger u.a. des Adalbert-von-Chamisso-Preises, des Theodor-Kramer-Preises, des Justinus-Kerner-Preises, des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für die Verdienste um die Deutsche Sprache, des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst usw. usw., und natürlich auch des Ehrenabzeichens der Stadt Wiener Neustadt.
Herr Benyoetz
Von oben kommt ein rasches sportliches Trappeln - ich drücke mich an die Wand des stockdunklen Schachts, um den Eiligen vorbeizulassen - da steht ER vor mir: Elazar Benyoëtz. Gross, schlank, einen Strohhut verwegen auf dem Kopf, und mit einem unglaublichen, jungenhaften Lachen.
Als gegenwärtig wohl grösster Meister des deutschen Aphorismus wird er bezeichnet, jener kürzesten Form eines weittragenden Gedankens. Fast 50 Bücher sind bisher erschienen. Geschliffen scharf, gestochen sind seine Formulierungen, nie aber nur einem oberflächlichen Wortspiel, einem brillanten Klang verpflichtet, sondern immer voll tiefgründiger Auseinandersetzung mit seinen Lieblingsthemen: der Sprache („Die Idee gibt mir das Wort, ich bringe es zur Besinnung"), der Liebe („Liebe entwaffnet nicht, sie überwältigt nur") dem Glauben („Der Zweifel sichert dem Glauben seine Glaubhaftigkeit").
In den Kurzbiografien erscheint das Thema seines Sprachwechsels sehr einfach: Israelischer Schriftsteller, der, nach hebräischen Anfängen, auf Deutsch publiziert. 1937 in Wiener Neustadt geboren, 1938 Emigration der Familie nach Palästina, ein Rabbinerstudium, Beruf aber nie ausgeübt, statt dessen Arbeiten für Zeitungen, in Bibliotheken etc., immer den Wunsch, Dichter zu werden, vor Augen. Erste Veröffentlichungen, vorwiegend Lyrik, in hebräischer Sprache. 1964 bis 1968 in Berlin, ab etwa 1969 nur mehr Veröffentlichungen auf Deutsch.
Herr Benyoetz und seine Frau in ihrer Wohnung in Tel Aviv.
Aber war das auch in Wirklichkeit so einfach? Welche Muttersprache hat ein Mensch, der als Kleinkind das sprachliche Umfeld verlassen muss, in eine vollkommen fremde Sprachwelt geworfen wird? In welchen tiefen Schichten bleiben die ersten liebevollen Worte der Mutter, bleiben die pränatalen Eindrücke, bleibt der Klang der Sprache, die rundherum in der Stadt wogt und klingt, abgespeichert?
Der kleine Paul wurde in die tiefreligiöse jüdische Familie des Kaufmanns Gottlieb Koppel geboren, dessen Vater Eliezer sogar ein eigenes Bethaus hatte errichten lassen. Ausschliesslich Deutsch wurde dort gesprochen. Vielleicht hörte das Baby auch ein bisschen Ungarisch, die Mutter stammte aus Pressburg und ihre Aussprache soll so wunderschön gewesen sein, dass oft Leute kamen, nur um ihr Ungarisch zu hören. In Pressburg war sie mit zionistischen Kreisen in Berührung gekommen und hatte Hebräisch gelernt. Daher fiel ihr in Israel die sprachliche Integration leicht - im Gegensatz zu Pauls Vater. Aus Rücksicht auf ihn wurde auch in Tel Aviv in der Familie Koppel weiterhin Deutsch gesprochen - bis zu seinem Tode 1943. In einem Interview aber hat Elazar Benyoëtz einmal das Hebräische als seine „wahre Muttersprache" bezeichnet („Der Jude hat seine heilige Sprache, sie ist es allein ihres Ursprungs wegen: mit ihr schuf G‘tt die Welt, in ihr offenbarte er sich").
Jetzt wird er auf meine bohrende Frage hin, während er mir einen Becher Kaffee reicht, doch nachdenklich. Gibt zu, dass sich „das Kind lange gewehrt hat" gegen die neue Sprache, die die Mutter plötzlich verwendet. Und beschreibt einen Moment, in dem ihm - relativ spät - plötzlich die neue Sprache so wunderschön erschien, dass er in ihr zu dichten begann. Und die Wende zum deutschen Dichter? Es liegt nahe, sie in den Berliner Jahren des Autors zu vermuten. Falsch! „Sie werden lachen", sagt Benyoëtz, „aber damals schrieb ich meine allerschönsten hebräischen Gedichte!" Nach Deutschland zu reisen war für den zum Israeli gewordenen Koppel, der sich nun Benyoëtz nannte („Sohn des Ratgebers", nach seinem Vater, der den Namen Yoëtz angenommen hatte), beinahe eine Unmöglichkeit. Aber die Stadt Wiener Neustadt als sein Geburtsort machte es möglich - über den österreichischen Umweg gelangte er 1964 nach Berlin und arbeitete vier Jahre lang an der von ihm gegründeten Blibliographia Judaica, einer Erfassung aller bis 1939 von jüdischen Autoren in deutscher Sprache verfassten Texte. Eine mühsame und anstrengende Suche war das, in Archiven, in Kellern, eine Spurensuche in Briefen, in Zeitungsartikeln, eine Datensammlung aus erster Quelle, egal aus welchem Land...
Erst nach der Rückkehr nach Israel - „auch das war zur damaligen Zeit eine sehr schwierige Sache" - wurde Benyoëtz zum deutschen Autor. Ich trinke den letzten Kaffeeschluck, kann es vor Spannung kaum aushalten - was war nun endlich der Grund, wieder zur „ersten Muttersprache" zurückzukehren? Kommt das Präzise, das Punktgenaue des Deutschen dem Aphoristiker mehr entgegen? Sind mehr Wortspiele möglich als im Hebräischen? Benyoëtz schüttelt den Kopf, verweist auf die Sprüche des Alten Testaments. Denkt nach. Kann es nicht sagen. Wie so oft im Leben kann man den wahren Grund nicht nennen, kennt aber den Anlass. Den erzählt er mir ausführlich: als die Schweizerin Clara von Bodmann, mit der er einen intensiven Briefwechsel führte, 1973 lebensgefährlich erkrankte, wollte er ihr ein deutsches Buch senden. In aller Eile übersetzte er schon vorhandene hebräische Texte, ergänzte sie mit neu verfassten deutschen Texten und veröffentlichte sie noch im selben Jahr unter dem Titel „Einsprüche". 1975 folgten auf Deutsch die „Einsätze". „Es vibrierte", sagt Benyoëtz, „ es vibrierte und schlug ein! Damit waren die Würfel gefallen."
Frau Benyoetz. Alle Fotos: L. Reich, mit freundlicher Genehmigung.
Er zeigt mir verschiedene Bände, verschiedene Auflagen und Ausgaben aus seinem umfassenden Werk, ich blättere mit Ehrfurcht darin, aber wichtiger ist mir immer noch das Rätsel der Sprachen. Davon kann ich nicht lassen und steche wieder hinein: Wer im Frühjahr 2013 in der Wiener Nationalbibliothek die Ausstellung „Nacht über Österreich - Der Anschluss 1938 - Flucht und Vertreibung" besuchte, begegnete dort unter den exemplarisch ausgewählten Künstlerbiografien auch Elazar Benyoëtz. Und auf einer der Schautafeln fand sich ein Text über einen ihm oftmals wiedergekehrten Traum. Er sah sich aufgebahrt zwischen zwei Sprachen. Sie hielten sich im gleichen Abstand von ihm, klagten über ihn. Keine wagte es, sich ihm zu nähern. Nur die eine schien zu weinen...
Benyoëtz ist überrascht, freudig betroffen, dass dieser Text in der Ausstellung präsentiert wurde. Aber einer expliziten Deutung des Traumes, einer Festlegung entzieht er sich diplomatisch, kopfschüttelnd. Und wie um alles noch mehr in Schwebe zu bringen, flüstert er: „Ein Buch möchte ich noch machen, EIN Buch - es soll ein hebräisches sein! Davon träume ich!"
Ich kann erraten, mit wem er dieses Buch machen möchte: mit seiner Frau, der Kalligrafin und Miniaturmalerin René Koppel, die unter dem Künstlernamen Metavel bekannt wurde. Auch von ihr existieren preisgekrönte Bücher, zauberhafte Illustrationen, vor allem der Bücher des Alten Testaments. Ihre zarten und märchenhaften Bilder, die die Wohnung zieren, kann ich nur mehr flüchtig bewundern, werfe noch einen Blick auf die mehr als suppentellergrosse Lupe, unter der diese Kunstwerke entstehen. Erst in Österreich werde ich stundenlang auf der Website www.metavel.com surfen.
Jetzt drängt die Zeit, unten in der Hitze wartet das Taxi zum Flughafen. Ich würde lieber noch hier bleiben, reisse mich los aus den freundlichen hellen Räumen, vor deren Fenstern grüne Blätterwedel alles Grelle dämpfen, das Gefühl von Ruhe und Frieden, von Behaglichkeit und Geborgenheit vermitteln, als sässe man in einem Nest. Reisse mich los von zwei Menschen, in deren Augen, in deren Lächeln man den Sieg spürt über alles Bittere im Leben, ein Wissen um die Schatten, das überstrahlt wird von der Freude am Geschaffenen und einem tiefen Glauben.