Ausgabe

„Ich war Kommunist und bin es bis heute”.

Monika KACZEK

Content

Heuer erschien im Prospero Verlag eine Autobiographie, in der sich die Geschichte das 20. Jahrhunderts dramatisch widerspiegelt: Der letzte Spion von Marcus Klingberg und Michael Sfard (siehe dazu auch die Rezension auf Seite 66). Das Buch erzählt das Leben des Kommunisten und weltweit renommierten Epidemiologen Marcus Klingberg.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, den er in der Sowjetunion überlebt, wandert Marcus Klingberg mit seiner jungen Familie nach Israel aus. Dort wird er Seuchenspezialist von internationalem Rang und beginnt, für den KGB zu arbeiten. 1983 wird er von einem israelischen Gericht wegen Spionage zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Seit seiner Freilassung lebt Marcus Klingberg bei seiner Tochter Sylvia in Paris.

 

DAVID: Im Jahre 2007 erschien in Israel Ihre Autobiographie Hameragel Haacharon/Der letzte Spion. Damals schrieb Yitzhak Laor in der Zeitung Haaretz eine ausführliche Rezension mit dem Titel Not afraid to go all the way.1 Am Ende des Artikels meinte Laor:„Menschen, die den ganzen Weg gehen, sind interessanter als diejenigen, die in der Mitte der Strasse stehenbleiben." Welche anderen Rezensionen oder Artikel erschienen in Israel noch zu Ihrem Buch?

 

Marcus Klingberg: Über Laors Artikel habe ich mich sehr gefreut, doch in einem Punkt hat er sich geirrt, als er schrieb, dass ich meine Autobiographie weder auf Polnisch noch auf Hebräisch verfassen hätte können. Beide Sprachen beherrsche ich fliessend. Neben Haaretz gab es Rezensionen über meine Biographie in den Zeitungen Yedioth Ahronoth und Maariv. In allen Besprechungen wurde mein Buch als sehr interessant bezeichnet. Darüber hinaus war es sieben Wochen lang an der ersten Stelle der Bestsellerliste von Haaretz. Neben Laors Artikel gab es in dieser Zeitung noch eine andere Besprechung: The best keeper of secrets in the world.2 Der Autor ist Yossi Melman, ein Experte auf dem Gebiet Geheimdienste und Spionage.

DAVID: Sie verfassten Ihre Biographie gemeinsam mit Michael Sfard, einem Rechtsanwalt und bekannten israelischen Menschenrechtsaktivisten. Übrigens ist es auch bemerkenswert, dass Sie seinen Grossvater David Sfard 1943 in Moskau kennengelernt haben. Wie war Ihr Arbeitsprozess mit Michael Sfard beim Verfassen von Der letzte Spion?

  

Marcus Klingberg: Im Jahre 1943 studierte ich Epidemiologie am Sowjetischen Zentralinstitut für Weiterführende Studien für Ärzte in Moskau. Das Studium, bei dem ich der jüngste Teilnehmende war, schloss ich mit Auszeichnung ab. Unter den 25 Teilnehmern des Kurses, die aus allen Republiken der Sowjetunion kamen, war ich der einzige, der nicht in der UdSSR geboren wurde. Während dieser Zeit in Moskau lernte ich Wanda Wasilewska kennen, eine sehr bekannte polnische Autorin und kommunistische Aktivistin. Sie war auch die Vorsitzende des Bundes Polnischer Patrioten in der Sowjetunion und spielte eine bedeutende Rolle bei der Gründung einer polnischen Division innerhalb der Roten Armee. Im Bund Polnischer Patrioten gab es auch eine jüdische Gruppe und eines Tages wurde mir deren Vorsitzender, der jiddische Poet David Sfard, vorgestellt. Am ersten Tag meines Hausarrests in Israel kam ein junger Rechtsanwalt vom Büro meines Anwalts Avigdor Feldman auf Besuch zu mir. Wie viele Israelis stellte er sich nur als „Michael" vor, ohne seinen Nachnamen zu nennen. Ich wurde neugierig und fragte ihn nach seinem Familiennamen. Als er ihn mir nannte -  „Sfard"-, war ich überrascht, weil der Name nicht häufig vorkommt und ich erzählte Michael, dass ich 1943 einen gewissen David Sfard in Moskau kennengelernt habe. Michael antwortete enthusiastisch: „Das war mein Grossvater! Ich muss jetzt gleich meinen Vater anrufen...". Leider habe ich David Sfard in Israel, wohin er 1969 emigriert ist, niemals getroffen. Er hat nie aufgehört, ein Kommunist zu sein. Michaels Grossvater mütterlicherseits war auch eine wichtige Persönlichkeit: der berühmte Soziologe Zygmunt Bauman. Als ich im Gefängnis war, kam es mir in den Sinn, dass ich meiner Tochter Sylvia einige Episoden aus meiner Lebensgeschichte erzählen sollte. Nach dem Tod meiner Frau im Jahre 1990 konnte Sylvia durchsetzen, dass mich jemand regelmässig im Gefängnis besuchen durfte. Auf kleinen Papierschnitzeln schrieb ich Notizen auf, die von meinem Besucher aus dem Zuchthaus herausgeschmuggelt wurden. Um die 100 Seiten wurden zu Sylvia geschickt, die damals schon in Paris lebte. Nach meinem Transfer vom Gefängnis in den Hausarrest schlug Michael Sfard vor, dass er mir beim Verfassen meiner Autobiographie behilflich sein könnte. Michael begann damals gerade mit seiner Arbeit im Büro meines Rechtsanwalts Avigdor Feldman, einem berühmten Bürgerrecht- und Menschenrechtexperten, dessen Eltern aus Polen stammten und Auschwitz überlebten. Wie ich bereits erwähnt habe, hat mich Michael während der Zeit meines Hausarrests besucht. Avigdor erlaubte mir, dass ich Michael in dessen Büro zwei- bis dreimal in der Woche treffen durfte. Wir waren in seinem Büro allein und meine „Anstandsdame" - ein Wärter, der mir vom Sicherheitsdienst aufgezwungen wurde - wartete in einem anderen Zimmer. Michael schrieb das nieder, was ich ihm erzählte und er hat es auch auf Tonband aufgenommen. 2002 gab es eine Pause, weil Michael in London Internationales Menschenrecht studierte. Im darauffolgenden Jahr kehrten er und seine Frau nach Israel zurück. Dann begannen wir mit dem Erstellen meiner Erinnerungen. Genau zwanzig Jahre nach meiner Inhaftierung traf ich am 19. Jänner 2003 in Paris ein. Michael reiste einige Male nach Paris, um mit mir weiterzuarbeiten. Vier Jahre später erschien meine Autobiographie in Israel. Ich möchte betonen, dass ich überzeugt davon bin, dass ich ohne Michael meine Lebensgeschichte nie veröffentlichen hätte können. Wir haben in perfekter Harmonie zusammengearbeitet. Das ist vor allem deshalb auch ungewöhnlich, wenn man den Generationsunterschied in Betracht zieht.

 h103_031

Professor Marcus Klingberg mit Johannes Monse, Verleger des Prospero Verlags, bei der persönlichen Buchübergabe in Paris am 18. April 2014. Foto: Johannes Monse. Mit freundlicher Genehmigung Prospero Verlag.

DAVID: Im Vorwort von Der letzte Spion nennen Sie die Gründe, warum Sie für die UdSSR gearbeitet haben. Abgesehen von Ihrer Loyalität als Kommunist, haben Sie die moralische Pflicht verspürt, gegen den Faschismus zu kämpfen. Darüber hinaus wollten Sie der Sowjetunion und seinem Volk danken, dass Sie während des Zweiten Weltkriegs dort überleben konnten. Wenn Sie junge Menschen von heute treffen: Was würden Sie ihnen über die Wichtigkeit und Bedeutung von Idealen erzählen?

  

Marcus Klingberg: Das ist eine wirklich schwierige Frage, Nun, was soll ich sagen? Ich würde Jugendlichen die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählen, zum Beispiel vom Spanischen Bürgerkrieg und der Internationalen Brigaden, den Kämpfen der heldenhaften Roten Armee gegen die Nazis oder die Geschichte der kommunistischen Partisanen in Jugoslawien. Allem voran würde ich jungen Menschen das schildern, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe - wie die Faschisten ganze Dörfer zerstörten. Die Häuser wurden niedergebrannt und die Bewohner flohen in die Wälder. Ja, ich würde das erzählen, was mir widerfahren ist. Ich würde nicht über Karl Marx, Lenin oder Trotzki sprechen, weil diese eine andere Generation nicht beeinflussen. Nur Beispiele sind wichtig. Eines noch: ich würde ihnen vermitteln, was Loyalität bedeutet.

 

DAVID: Professor Klingberg, Sie sind in einer orthodoxen Familie mit einer starken und beeindruckenden Mutter aufgewachsen. Sie beschreiben Ihren Vater in einer berührenden Weise als einen sanftmütigen und umgänglichen Menschen. Nie erhob er die Stimme und erst recht nie die Hand gegen Sie. Bis heute vermissen Sie die Gespräche mit ihm. Es scheint mir, dass Sie durch das Aufwachsen mit so einem gutherzigen Menschen sensibel für das Leid und die Nöte anderer Menschen wurden.

  

Marcus Klingberg: Ich werde Ihnen zwei Beispiele erzählen. Mein Vater war ein kleiner, erfolgloser Geschäftsmann, der einen Grosshandel für Papierwaren besass. Er belieferte damit Einzelhändler und die Ware wurde von einem Mann transportiert, der die schweren Säcke auf seinem Rücken trug. Sein Name war Leybisch. Als ich ungefähr sieben oder acht Jahre alt war, fragte ich meinen Vater, ob er mir neue, schöne Kleidung kaufen könne. Vater meinte, dass er das Geld nicht habe. An einem Sonntag brachte er mich zur Wohnung von Leybisch, der in einer der ärmsten Strassen Warschaus lebte - der Krochmalna Strasse. Dort gab es keine Kanalisation. Die zwei schmalen Fenster der Behausung blickten auf das Trottoir und liessen fast kein Licht hinein. Am Nachhauseweg sagte mein Vater zu mir: „Jetzt hast Du gesehen, wie Menschen leben.". Ich erinnere mich klar an seine Worte. Er brachte mir bei, dass es keine Menschen gibt, die wertvoller als andere sind. Er sagte auch, dass es im Judentum keine Aristokratie im herkömmlichen Sinn gäbe. Nur Wissen und Bildung schaffen einen jüdischen Adel. Eine andere Geschichte passierte, als ich ein junger Mann von etwa 20 Jahren war. Eines Tages sass ich in meinem Zimmer mit einer Freundin, die einen Schinken dabei hatte. Vater klopfte an die Tür des Raums und trat ein. Als er das Mädchen und den Schinken am Tisch sah, sagte er bloss: „Entschuldigung, ich habe nur etwas vergessen." Den Vorfall mit dem Schinken hat er niemals erwähnt. Mein Vater war der liberalste Mensch, der mir je begegnet ist. Und er war stets rücksichtsvoll.

 

DAVID: Die Erinnerungen an Ihre Kindheit sind mit Büchern und Sprachen verwoben. Polnisch und Jiddisch wurde in Ihrem Elternhaus, das voller Bücher auf Deutsch, Polnisch und Hebräisch war, gesprochen. Gibt es eine Sprache, zu der Sie sich aufgrund von Erinnerungen besonders verbunden fühlen?

  

Marcus Klingberg: Meine erste Sprache war Polnisch und ich muss zugeben, dass es in der Schule der einzige Gegenstand war, wo ich sehr gut war. Ich habe Polnisch geliebt und tue es noch immer. Die zweite Sprache, die ich am meisten liebe, ist Hebräisch. Als ich im Haus meiner Grosseltern wohnte, wurde ich zunächst in einen Cheder3 geschickt, wo der Melamed4 uns die Bibel in einer jiddischen Übersetzung beibrachte. Da ich aber kaum Jiddisch verstand - Vater wollte nämlich, dass wir Kinder Polnisch ohne einen jiddischen Akzent sprechen -, hat mich der Melamed mit einem Stock geschlagen. Eines Tages bemerkte einer meiner Tanten die Blutergüsse auf meinem Körper. Am nächsten Tag verliess ich den Cheder und wurde auch nie mehr auf eine religiöse Klasse geschickt. In der polnischen Schule, die ich besuchte, waren nur zwei Juden in meiner Klasse. Wie auch immer wollten mein Grossvater und meine Tanten, dass ich den Talmud lerne und so schickten sie mich zu einem Privatlehrer.

 

DAVID: Ein Kapitel Ihrer Autobiographie ist Ihrer verstorbenen Ehefrau Wanda Jasinska gewidmet. Sie war Doktorin der Mikrobiologie und eine Überlebende des Warschauer Ghettos. Ihre Gattin war nicht nur die starke Frau hinter Ihnen, sondern auch die aussergewöhnliche Frau an Ihrer Seite - vor allem, als sie von Ihrer Arbeit für die Sowjetunion erfuhr.

  

Marcus Klingberg: Sie war eine sehr, sehr starke Persönlichkeit. Meine Tochter ist genau so wie sie. Am Institut in Ness Ziona wurde meine Frau von allen respektiert. Sie hatte ein aristokratisches Auftreten und war eine wirklich besondere Persönlichkeit. Niemals erzählte sie von ihrer Zeit im Ghetto, ausser den Menschen, die ein ähnliches Schicksal wie sie teilten. Darüber hinaus verweigerte sie Wiedergutmachungszahlungen mit folgenden Worten: „Ich nehme kein Geld, das mit Blut bedeckt ist." Was meine Arbeit für die Sowjetunion betrifft: Davon erzählte ich ihr erst, als die Sowjets dies vorgeschlagen haben. Ich selbst habe sie nicht aufgefordert, dass sie sich mir anschliesst. Sie machte mit, weil sie der Meinung war, dass es auf der Hand liegt.

 

DAVID: Im Jahre 1985 reiste der britische Reporter Peter Pringle nach Israel, um Sie dort zu besuchen. Wie er in seinem The Guardian- Artikel Marcus Klingberg: The Spy who knew too much 5  schrieb, waren Sie allerdings „verschwunden". Während dieses „Verschwindens" erlebten Sie eine schreckliche Zeit. Irgendwie scheint es, dass Menschen sich mitunter selbst an schlimme Situationen anpassen können, vermutlich aufgrund eines Überlebenswillens. Eine Frage bleibt: Wie kann man mit diesen Erinnerungen weiterleben?

  

Marcus Klingberg: Diese Frage ist leicht zu beantworten. Nehmen Sie zum Beispiel jemanden, der das Ghetto oder ein nationalsozialistisches Konzentrationslager überlebt hat. Man kann sein Schicksal nicht mit meiner Inhaftierung vergleichen, wo ich im Gefängnis die ganze Zeit gekämpft habe. Ich kann mit diesen Erinnerungen leben.

 

DAVID: Ihr Buch endet mit sehr persönlichen und berührenden Worten Ihres Enkels Ian Brossat, der für die  Kommunistische Partei Frankreichs als Abgeordneter in der Pariser Stadtregierung tätig ist. In Ihrem Vorwort schreiben Sie, dass Sie stolz auf ihn sind, weil er an den Kommunismus glaubt, auch wenn er die sowjetische Variante nicht bevorzugt. Er setzt Ihren Weg fort.

Marcus Klingberg: Im Alter von 16 schloss Ian sich der Kommunistischen Partei Frankreichs an. Bis vor einem halben Jahr war er Vorsitzender der Linksfront, einer Teilorganisation der Kommunistischen Partei Frankreichs. Derzeit ist er stellvertretender Bürgermeister von Paris im Bereich Wohnbau.

 

DAVID: Haben Sie vielen Dank, dass Sie sich Zeit für das Gespräch genommen haben. Es war eine grosse Freude, mit Ihnen zu sprechen.

 

 

1 http://www.haaretz.com/weekend/week-s-end/not-afraid-to-go-all-the-way-1.231923

2 http://www.haaretz.com/weekend/week-s-end/the-best-keeper-of-secrets-in-the-world-1.229743

3 Religiöse Schule für kleinere Kinder. Das hebräische Wort Cheder bedeutet „Zimmer".

4  Lehrer in einem Cheder.

5 http://www.theguardian.com/world/2014/apr/27/marcus-klingberg-soviet-spy-kgb