Arthur Grünberger (1882-1935) ist ein heute weitgehend unbekannter Architekt. Und doch hat er, in Zusammenarbeit mit seinem Mitarbeiter Adolf Jelletz, für die Wiener jüdische Gemeinde einen ganz bedeutenden, symbolträchtigen Bau verwirklicht: die Hietzinger Synagoge. Sie war einer der letzten in Wien errichtete Kultbauten vor der Machtergreifung der Nazis, und darüber hinaus auch ein architekturhistorisch äusserst bemerkenswertes Gebäude, das in vielerlei Hinsicht den Zeitgeist widerspiegelte 1
Die Lebensumstände von Grünberger verliefen in ihren Anfängen in den damals üblichen Bahnen. Als Sohn eines Kaufmanns im mährischen Fulnek geboren, studierte er in Wien von 1899- 1905 an der Technischen Hochschule bei Karl König (damals der einzige jüdische Professor) Architektur. Einer seiner Kommilitonen war der aus Wien gebürtige Adolf Jelletz (1879-1936), der später sein Mitarbeiter werden sollte. Wie zu dieser Zeit oft üblich, vervollständigte Grünberger sein Studium an der Akademie der bildenden Künste in der Meisterschule Friedrich Ohmanns, der damals einer der führenden Architekten war und unter anderem den Ausbau der Wiener Hofburg leitete. Als Zeitgenosse Otto Wagners vertrat Ohmann eine gemässigte Moderne mit sehr dekorativen Zügen - eine Ausrichtung, die auch späterhin viele seiner Schüler prägte. Aufgrund seiner liberalen Haltung wurde Ohmann - im Gegensatz zu Otto Wagner, der eher als antisemitisch galt - auch von vielen jüdischen Studenten geschätzt.
Bald nach Beendigung seines Studiums arbeitete Grünberger ab ca. 1913 als freier Architekt in Wien. Er errichtete einige Villen (zumeist in Zusammenarbeit mit diversen Partnern) und beteiligte sich kurz nach Ausbruch des 1.Weltkrieges bei dem Wettbewerb zur Errichtung der neuen israelitischen Abteilung am Wiener Zentralfriedhof, wo sein Entwurf immerhin mit einem Ankauf ausgezeichnet wurde.2 Infolge der blutigen Kriegsgeschehnisse und der grossen Gefallenenzahlen blieb Grünberger bei dieser Bauaufgabe. Denn kurze Zeit später publizierte er Entwürfe für einen Kriegerfriedhof in Galizien, die sich wahrscheinlich seiner Tätigkeit während des Krieges in einem der vielen Militärbaubüros verdanken. Einige, allerdings erfolglose Wettbewerbsbeteiligungen in diesen Jahren erfolgten bereits in Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Studienkollegen Adolf Jelletz, der bis dahin gleichfalls nur einige Wohnhäuser realisiert hatte. Wirklich Aufsehen erregten die beiden jedoch erstmals 1921 mit ihrem Konkurrenzentwurf für ein Krematorium am Wiener Zentralfriedhof. Obwohl ihr Projekt keinen Preis bekam, wurde es aufgrund seines phantasievollen Charakters von manchen dennoch als das Interessanteste bezeichnet.3 Sie planten einen gigantischen Rundbau, dessen Aussenhülle von einer netzartigen Ornamentierung überzogen sein sollte. Trotz der Aufmerksamkeit, die sie mit ihrem Entwurf erregten, blieben die beiden Architekten jedoch abermals erfolglos.4 Generell waren die Nachkriegsjahre in Österreich von einer desaströsen wirtschaftlichen Lage und praktisch einem völligen Darniederliegen der Bauwirtschaft geprägt, weshalb Grünberger gegen Ende 1923 in die USA emigrierte, um sich vorerst in San Francisco nieder zulassen.5 Dessen ungeachtet blieb er mit Adolf Jelletz, der sich in Wien mehr schlecht als recht durchschlug, weiterhin in Kontakt, so dass sie sich schliesslich 1924 an der Konkurrenz für den Bau einer Synagoge in Hietzing beteiligen konnten.
Grünberger/ Jelletz, Konkurrenzentwurf für ein Krematorium, 1921. Quelle: Der Architekt 1922.
Von Anbeginn an stand dieses Vorhaben unter keinem guten Stern. Erstmals war bereits 1912 vom Hietzinger Tempelverein ein Wettbewerb ausgeschrieben worden, wobei sich die damals sehr prominent besetzte Jury (darunter die Architekten Max Fabiani und Oskar Strnad) für keinen der Entwürfe entschliessen konnte und nur drei der Beiträge in die engere Wahl zog.6 Diese letztlich ungeklärte Situation verschleppte die Angelegenheit, die schliesslich durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges völlig zum Erliegen kam. Auch in den ersten Wirren der Nachkriegsjahre war an eine Wiederaufnahme dieses Projektes nicht zu denken. Ganz im Gegenteil musste der Tempelverein befürchten, dass die galoppierende Inflation alle mühsam angesparten Rücklagen zunichtemachen könnte. Um dies zu verhindern, konnte 1924, noch kurz vor der Währungsreform, um damalige 700 Millionen Kronen (!!) ein Baugrund an der Eitelbergergasse 22 erworben werden. Im Gegensatz zum ursprünglich angedachten Gelände an der Onno Klopp-Gasse/Penzinger Strasse 132, wo sich bereits seit längerem ein bescheidenes Bethaus befand, ermöglichte das neue Areal einen rundum frei stehenden Bau, der völlig andere architektonische Aspekte eröffnete.7
Deshalb wurde auch im selben Jahr ein zweiter, diesmal internationaler Bewerb ausgeschrieben, der jüdischen Architekten vorbehalten war. Von den vier in die engere Wahl gezogenen Projekten wurde von der Jury, deren Vorsitz diesmal der prominente Architekt Josef Hoffmann inne hatte, schliesslich der Entwurf Grünberger /Jelletz als erster gereiht und zur Ausführung bestimmt.8 Wie schon drei Jahre zuvor beim Krematoriums-Wettbewerb, zeichnet sich auch dieses Projekt durch einen äusserst dekorativen Charakter aus, der im Kontext mit dem kubischen Baukörper mediterrane Assoziationen auslöst. Der Kunsthistoriker Max Eisler, der das Projekt von Anbeginn an publizistisch ausgiebig kommentierte und unterstützte, sprach gar von einer „südlichen Heiterkeit".9 Möglicherweise war es gerade der eigenwillige Charakter des Entwurfes , der - in gewisser Weise „modern", aber nicht im Sinne der damals aktuellen nüchternen Bauhaus- Architektur - mit seinen südlich - mediterranen Konnotationen die Möglichkeit einer jüdischen Identität bot, der dem Projekt den Zuschlag bescherte.
Grünberger/ Jelletz, Entwurfsprojekt Synagoge Hietzing, 1924. Quelle: Österr. Bau u. Werkkunst 1925.
Grünberger war, wie oben erwähnt, zu diesem Zeitpunkt bereits in den USA und arbeitete in einem Baubüro. Wieweit er schon damals Kontakt zur Filmbranche hatte, für die er späterhin arbeitete, ist nicht bekannt, scheint aber sehr wahrscheinlich und würde eine Erklärung für die fast bühnenhaft wirkende Architektur der Synagoge geben. Zweifellos hinterliess hier die pittoreske, von einer südlichen Sonne geprägte Architektur Kaliforniens, über die Grünberger zwei Jahre später einen umfassenden Artikel publizierte, ihre Spuren.10 Auch die Zusammenarbeit mit Jelletz wirft einige Fragen auf: manchmal wird er als Mitarbeiter genannt, manchmal nur als ausführender Bauleiter. Obwohl Jelletz` eigenständiges Werk nur sehr schmal ist, sind seine Projekte jedoch zumeist von einer schlichten Zurückhaltung geprägt. Insbesondere die zeitgleiche und in alleiniger Verantwortung 1928 von ihm errichtete kommunale Wohnhausanlage in Wien 5, Margaretengürtel 122 (jetzt Ernst Hinterberger-Hof - das grösste Bauvorhaben, das er realisieren sollte) zeichnet sich durch eine unprätentiöse Sachlichkeit und völliger Absenz von Dekor aus. Dies lässt darauf schliessen, dass eher Grünberger federführend bei der formalen Gestaltung der Synagoge war. Wie auch immer, Jelletz war der Mann „vor Ort" in Wien und die Zusammenarbeit scheint auch ungeachtet der örtlichen Trennung gut funktioniert zu haben.
Trotz der Entscheidung zu Gunsten des Projektes Grünberger/ Jelletz wurde mit dem Bau jedoch erst im Juli 1928 begonnen. Neben den üblichen planerischen und bürokratischen Ursachen könnte auch die schwierige Finanzierung, die überwiegend über Spenden erfolgte, die Ursache gewesen sein.11 In der Zwischenzeit war aber Grünberger bereits 1926 nach Los Angeles übersiedelt und arbeitete als Ausstatter für Hollywood-Filme. Es ist anzunehmen, dass dieser Umstand einen gewissen Einfluss auf die Architektur hatte. Wie üblich kam es dann bei der Realisierung zu einigen Planungsänderungen, insbesondere zur Vereinfachung der dekorativen Ausgestaltung. Unter anderem wurden das rautenförmige Muster der Fenster, aber auch die auffallenden Stalaktiten der Vorhalle weggelassen, so dass der Charakter des Baus insgesamt etwas schlichter und „moderner" wurde. Möglicherweise gehen diese Veränderungen auf Jelletz zurück. Geblieben war allerdings der auffallende Zinnenkranz, der dem sehr kompakten kubischen Gebäude einen festungsartigen Charakter verlieh, und die originellen Fenster, die im Wechselspiel von Dreipass und Davidstern die Aussenhülle umzogen. Im Innenraum führte eine Unzahl von kleinen Lichtöffnungen zu einer raffinierten Lichtführung, deren Ursprung sich möglicherweise aus der Filmbeleuchtung herleitete, die ja Grünberger sehr vertraut sein musste. Zweifellos gehörte damit die Hietzinger Synagoge zu den extravagantesten Gebäuden Wiens, die in der Zwischenkriegszeit errichtet wurden.
Dank effizienter Organisation, die sich offenbar der Leitung von Jelletz und der Umsicht des Kassiers Karl Kohn verdankte, ging der Bau dann sehr schnell voran, so dass man anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Hietzinger Tempelvereines bereits im Oktober 1929 die rituelle Einweihung vornehmen konnte, die in Anwesenheit der Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde und der Mitglieder der diversen Wiener Tempelvereine stattfand. Da die Inneneinrichtung zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht vollständig fertiggestellt war, plante man, eine offizielle Einweihung erst später vorzunehmen.12 Die endgültige Fertigstellung des verhältnismässig klein dimensionierten, aber sehr elaborierten Tempels, der knapp 400 Gläubigen Platz bot, erfolgte dann allerdings erst 1931.13
Eine Erklärung dafür, dass sich die Komplettierung der Inneneinrichtung so lange hinzog, könnte in der äusserst schwierigen Zeitsituation liegen: 1929 erfolgte der Zusammenbruch der Boden-Creditanstalt, und es kam zu einer massiven Wirtschaftskrise, die die ohnedies schwache Konjunktur zum Erliegen brachte. Darüber hinaus wurde diese Zeit bereits von permanenten antisemitischen Krawallen an den Universitäten überschattet, und auch der Name Hitler - er stand bereits knapp vor der Machtergreifung - tauchte zunehmend in den Schlagzeilen auf. Angesichts solch düsterer Auspizien verwundert es nicht, dass der Bau, obwohl in einem ruhigen Villenviertel gelegen - aufgrund seiner freistehenden Lage allerdings besonders exponiert -, schon nach wenigen Jahren, während des Reichspogroms im November 1938 zerstört wurde. Bereits im folgenden Jahr 1939 wurde ein Abbruchverfahren durchgeführt und das „arisierte" Areal verkauft. Heute befindet sich ein Wohnhaus an dieser Stelle. Neben einer bronzenen Gedenktafel weist auch eine Installation des Künstlers Hans Kupelwieser auf die zerstörte Synagoge hin.
Jelletz, WHA, Wien 5, Margaretengürtel 122, 1929. Foto: U. Prokop, mit freundlicher Genehmigung.
Die weitere berufliche Laufbahn der beiden Architekten verlief sehr divergierend. Grünberger arbeitete bis zu seinem frühen Tod in Los Angeles. Obwohl er es nicht schaffte, als Architekt Fuss zu fassen, machte er doch immerhin eine bemerkenswerte Karriere, in dem er Art Director der bekannten Filmgesellschaft Warner Brothers wurde. In dieser Funktion stattete er mehrere Hollywoodfilme aus (u. a. „Atlantis" 1930, „Central Park" 1932 und „Stranded" 1935). Seine Kontakte zu Wien rissen allerdings nie ganz ab. Nur kurze Zeit nach dem Tempelbau wurde er 1932 von Josef Frank eingeladen, am Projekt der Werkbundsiedlung in Wien-Lainz teilzunehmen. Grünberger realisierte in der Folge ein Doppelhaus in der Jagdschlossgasse 80, das sich in seiner funktionellen Schlichtheit dem allgemeinen Kanon der zeitgenössischen Moderne anpasste, der er selbst jedoch im Grunde skeptisch gegenüber stand. Bereits drei Jahre später verstarb Grünberger, knapp dreiundfünfzigjährig, in Los Angeles. Der Architekt und Publizist Hans Adolf Vetter, der dem Umfeld von Josef Frank angehörte und das Projekt der Werkbundsiedlung tatkräftig unterstützt hatte, publizierte posthum einen Artikel Grünbergers, der sich mit den künstlerischen Möglichkeiten des Kinos in der Zukunft befasste. Es sollte Grünbergers Vermächtnis bleiben.14
Weit weniger erfolgreich gestaltete sich hingegen die Berufslaufbahn von Adolf Jelletz, den die Wirtschaftskrise in Österreich in die Armut gestürzt hatte und der mit Ausnahme des Synagogenbaus und der bereits erwähnten Wohnhausanlage am Margaretengürtel praktisch ohne Aufträge und Beschäftigung dastand. Mehrere Bettelbriefe, die er sich gezwungen sah an den Unterstützungsfonds der Genossenschaft der Künstlerhausvereinigung zu richten, dokumentieren seine verzweifelte finanzielle Lage.15 Nur knapp ein Jahr nach Grünberger verstarb auch Jelletz im Juli 1936 in Wien. Beiden blieb es erspart, die Zerstörung ihres bedeutendsten Werkes miterleben zu müssen.
1 Siehe dazu: P. Genee, Wiener Synagogen 1825-1938, Wien 1987 u. B. Martens /H. Peter, Die zerstörten Synagogen Wiens, Wien 2009
2 Die Ausschreibung endete mit März 1915 - siehe dazu: Der neue israelitische Friedhof in Wien (Hg. Israelit. Kultusgemeinde Wien), Wien 1928
3 Der Architekt 1921/22, S.75ff
4 Zur Ausführung gelangte der Entwurf von Clemens Holzmeister.
5 Siehe dazu die Kurzbiographie Grünbergers in: Visionäre und Vertrieben (Hg. M. Boeckl), Wien 1995, S. 333
6 Die drei ausgewählten Entwürfe stammten von Hugo Gorge, Ernst Lichtblau und Rudolf Perco . Hugo Gorge (1883-1934) gehörte dem Umkreis um Josef Frank und Oskar Strnad an, er war späterhin weitgehend als Innenarchitekt tätig. Ernst Lichtblau (1883-1963) war einer der bekanntesten Schüler Otto Wagners, er flüchtete 1938 in die USA. Rudolf Perco (1884-1942) war der einzige Nichtjude. Er arbeitete während des 2. Weltkrieges in der Wiener NS- Dienststelle der Bauabteilung von Hanns Dustmann und beging 1942 unter ungeklärten Umständen Selbstmord.
7 Siehe dazu „Standpunkt Geschichte", in: David 2002, H.53., S.12
8 Weitere Preisträger waren Hugo Gorge, der sich neuerlich beteiligt hatte, Fritz Landauer und Richard Neutra, siehe dazu: U. Unterweger, Die Synagoge in Hietzing, in David, 2006, H. 70
9 Max Eisler, Der Wettbewerb um eine Wiener Synagoge, in: Österreichische Bau und Werkkunst 2.1925/26, S.1ff
10 A. Grünberger, Über das kalifornische Einfamilienhaus, in Bau und Werkkunst 2.1925/26, S.1
11 Die Wahrheit, 1928, H.27, S.13
12 Die Wahrheit 1929, H.42, S.16 Ob es je zu einer offiziellen Einweihung gekommen ist, ist fraglich.
13 Bericht der israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in der Periode 1929-32, Wien 1932, S.22 - Die Kultusgemeinde selbst hatte insgesamt 70.000 Schilling beigesteuert (heute rund 700.000 €).
14 A. Grünberger, Das Lichtspiel als Kunstwerk, in: profil 4.1936, H.1, S.6
15 Jelletz gehörte seit 1923 der Künstlervereinigung an und hat für diese gemeinsam mit Grünberger eine Ausstellung gestaltet. Insbesondere war Jelletz auch an der Ausgestaltung der jährlichen Faschingsfeste beteiligt. Ab 1929 erhielt er laufend Zuwendungen des Vereines. Siehe dazu: M. Tscholakow, Adolf Jelletz, in: Architektenlexikon Wien 1770-1945 (www.architektenlexikon.at