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Der Tempelberg in Jerusalem: Träume und Lügen

Miriam MAGALL

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Es heisst, Jerusalem sei den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam heilig. Für die beiden letztgenannten Religionen ist es allerdings nur der zweit- bzw. drittwichtigste Ort. Dagegen stellt die Stadt seit mehr als dreitausend Jahren das Zentrum jüdischen Glaubens, jüdischer Geschichte und jüdischen Hoffens dar.

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Nachzeichnung des Tempels in Jerusalem. Zeichnung: M. Magall, mit freundlicher Genehmigung.

In Psalm 137,5 heisst es: „Sollt ich dich vergessen, Yeruschalayim, verdorre meine rechte Hand." Seit jeher ist Jerusalem Quelle und Ziel der Hoffnungen der Juden. Am Ende des Pessach-Seders wünschen die Feiernden: „Nächstes Jahr in Jerusalem!". In den Psalmen taucht der Name der Stadt häufig auf, in der gesamten Hebräischen Bibel ist das hebräische Wort Yeruschalayim insgesamt 641 Mal zu finden. Schon zu Abrahams Zeit spricht Genesis (14,18) von ihr, als Abraham von einer gewonnenen Schlacht zurückkehrt und auf einen Herrscher trifft: „Und Malchi-Zedek, der König von Schalem, brachte heraus Brot und Wein (...)." Mit Schalem ist das spätere Jerusalem gemeint. Ein zweites Mal kommt sie im Zusammenhang mit Abraham vor, als G-tt ihm befiehlt, seinen Sohn Isaak auf einem Berg im Land Morija zu opfern (Gen. 22,2). Abraham gibt dieser Stätte später einen Namen (Gen. 22,14): „Und Abraham nannte den Namen dieses Ortes: Der Ewige wird ersehen (ha-Schem jiré)." Gemäss dem Midrasch ist daraus der Name Jerusalem entstanden: aus der Verbindung von jeré, d.h. „sehen" und schalem, d.h. „vollkommen". „Deswegen nenne ich es Yeruschalayim" (Midrasch Rabba 56,10). Jerusalem ist in seiner Schönheit vollkommen: „Zehn Mass Schönheit kamen in die Welt, Jerusalem nahm neun und der Rest der Welt eines" (Kidduschin 49b). Gemäss der rabbinischen Überlieferung hat G-tt alle Städte der Welt geprüft, aber nur Jerusalem für geeignet befunden, die Stätte seines Heiligtums zu werden. Um das Jahr 928 v.d.Z. errichtet König Salomo dort den Ersten Tempel auf dem Berg Morija. Warum war dieser Ort bestimmend für die Lage des Tempels? Im späteren Allerheiligsten befand sich der Ewen Schetija, der „Gründungsstein", wobei es sich gemäss der Sage um den Kern handelt, um den herum die gesamte Welt entstanden sei. Heute wird der grosse Fels, der sich im Untergeschoss des Felsendoms befindet, mit diesem Gründungsstein identifiziert. Salomos Tempel steht bis zum Jahr 587 v.d.Z. Dann zerstören die Babylonier unter ihrem König Nebukadnezar II. sowohl Stadt als auch Tempel. Die jüdäische Oberschicht wird ins Babylonische Exil geführt. Knapp sechzig Jahre später dürfen die Exilanten wieder zurück in ihre Heimat. Die Heimkehrer aus dem Babylonischen Exil erhalten vom persischen Grosskönig die Erlaubnis, nicht nur Jerusalem, sondern auch den Tempel wiederaufzubauen. Als König Herodes dank Roms Gnaden die Macht erlangt, beginnt er, den Tempel prachtvoll zu erneuern und zu erweitern. Aber kaum ist er vollendet, wird er von den Römern im Jahr 70 d.Z. niedergebrannt. Fortan gibt es keinen Tempel mehr und nur die Sehnsucht nach ihm bleibt bestehen. In den beinahe zweitausend Jahren danach sind Jerusalem und der Tempelberg für Juden nur noch gelegentlich zugänglich -  wann, das hängt immer von der jeweiligen politischen Konstellation ab. So kann der israelische Archäologe Binyamin Mazar von der Hebräischen Universität erst nach dem Sechstage-Krieg im Juni 1967 seine Ausgrabungen rund um den Tempelberg aufnehmen, in deren Verlauf er einen grossen Teil der Strukturen in seiner näheren Umgebung freilegt. In einem archäologischen Garten kann man heute die Ausgrabungen zu Füssen des Tempelbergs besichtigen. Nicht zugänglich ist dagegen der Tempelberg. Ebenfalls gleich nach dem Sechstage-Krieg beginnt das Ministerium für Religiöse Angelegenheiten, den grossen Platz vor der West- oder Klagemauer, dem einzigen greifbaren Überrest des Zweiten Tempels, zu räumen. Dabei wird die Westmauer in voller Länge von insgesamt 488 Metern in ihrer ganzen Pracht zugänglich gemacht. Das Fehlen greifbarer Beweise aus der Zeit des Ersten und Zweiten Tempels hat man jedoch vermisst. Der Waqf, die für den Tempelberg zuständige muslimische Behörde, untersagt jede Grabung auf dem Areal des ehemaligen Tempelbergs. Dahinter verbirgt sich möglicherweise eine sehr politische Argumentation: Solange auf dem Tempelberg keine archäologischen Beweise für die Existenz eines jüdischen Tempels gefunden werden, können die Muftis behaupten, es habe ihn nie gegeben. Ihnen zufolge ist der Tempel eine moderne jüdische Erfindung, die das Ziel habe, den Tempelberg dem Islam zu entreissen. Über Jahrhunderte hinweg bis zum Sechstage-Krieg - als Israel die Jerusalemer Altstadt einschliesslich dem ehemaligen Tempelgebiet einnahm - war die Geschichte des jüdischen Tempels ein fest verankertes und unbestrittenes Motiv auch in der muslimisch-arabischen Literatur. Ebenso identifizieren klassische arabische Quellen die Stelle, an der die al-Akza-Moschee (sic!) steht, als den Ort, an dem sich Salomos Tempel erhob. Selbst im 20. Jahrhundert schrieb der palästinensische Historiker Araf al-Araf, der Ort des Haram al-Sharif sei derjenige des Berges Morija, der im Buch Genesis genannt wird. Hier war die Tenne von Arauna, dem Jebusiter, die von David gekauft wurde, um dort im Jahr 1007 v.d.Z. (sic!) den Tempel zu bauen. Er fügt hinzu, die Überreste des Komplexes unter der al-Akza-Moschee datierten aus der Zeit Salomos. Diese Aussagen wurden zu einer Zeit geschrieben, als die Altstadt von Jerusalem von Jordanien besetzt gewesen war. In neueren arabischen Schulbüchern, die seit 1967 verfasst wurden, sind solche Aussagen kaum mehr zu finden. Der saudiarabische Historiker Mohammed Hassen Sharab behauptet, Salomos Tempel habe an der Stelle gestanden, an der sich heute die David-Zitadelle befindet. Eine Fatwa auf der Webseite des Waqf in Jerusalem besagt, Salomo und Herodes hätten den Tempel nicht gebaut, sondern lediglich seine frühere Konstruktion aus Adams Zeit renoviert. Scheich Ikrama Sabri schreibt den Bau der heiligen Moschee in Mekka und des al-Akza-Komplexes nämlich ebenfalls Adam zu, die Erneuerung der Kaaba Abraham und die Renovierung von al-Akza Salomo. Auch der bereits zitierte Mohammed Hassen Sharab behauptet, al-Akza sei von Adam erbaut worden. Gemäss der Behauptung eines weiteren saudiarabischen Historikers hat die al-Akza-Moschee bereits vor Jesus und Moses existiert. Eine andere Überlieferung, die gerne von heutigen muslimischen Autoren zitiert wird, schreibt den Bau von al-Akza Abraham zu. Diese Überlieferung besagt auch, Abraham habe al-Akza vierzig Jahre nach dem Bau der Kaaba, die er gemeinsam mit seinem Sohn Ismael errichtete, gebaut. Gemäss ranghohen Offiziellen des Waqf in Jerusalem sei es undenkbar, dass eine archäologische Ausgrabung an dieser heiligen Stelle jemals erlaubt werden würde. Bis zum Jahr 2006 blieb der Tempelberg weitgehend unerforscht. Der israelische Archäologe Professor Gabriel Barkay ist daher besonders stolz, bereits mehr als 1000 Kleinfunde aus dem Herzen des Berges Morija entdeckt zu haben. Seit dem Ende der 1990er Jahre begann der Waqf mit seinen grossen Bauprojekten im Inneren des Tempelbergs. Im Verlauf nur weniger Monate öffnete der Waqf ungefähr 50 leere Räume im Berg und entfernte deren Inhalt. 1999 entstand in Gewölben, die einst Herodes und später die Kreuzritter ausgebaut hatten, die grösste unterirdische Moschee der Muslime im Land. Gleichzeitig nutzte der Waqf die Erlaubnis, einen Notausgang für die Moschee zu bauen, um umfassende Bauarbeiten vor Ort auszuführen. In die Südostecke des Bergs wurde ein heute zwölf Meter tiefes Loch getrieben. Der Waqf liess tausende Lastwagenladungen archäologisch wertvollen Gerölls auf Müllkippen in Ostjerusalem deponieren. Dabei zerstörte er alte, auch islamische Bauten und verursachte irreparablen wissenschaftlichen Schaden. Der Notausgang wurde zum heutigen Haupteingang der al-Marwani-Moschee. Er ist gepflastert mit Jahrtausende alten Pflastersteinen, die neu zugeschnitten wurden. Mitarbeitern der israelischen Archäologiebehörde wurde der Zugang zu den Arbeiten verweigert. Diese Zerstörung war Barkay nicht bereit, einfach so hinzunehmen. Nur einen Kilometer entfernt vom Tempelberg stehen Freiwillige im Emek-Zurim-Park und durchsieben Erde, die der Waqf als Bauschutt in die Wadis vor der Altstadt Jerusalem kippte. Auf diese Art versucht Barkay, aus dem Geröll archäologische Informationen zu retten, allerdings kann er dabei nur Kleinfunde, die in der Regel kaum grösser als fünf Zentimeter sind, machen. 35 Prozent der Funde lassen sich gemäss Barkay in die Zeit des Ersten Tempels zurückdatieren. Der älteste Fund ist die Plombe eines Geldbeutels, auf dem noch der Familienname des Eigentümers erkennbar ist. Im September 2006 fischte Barkay aus dem Geröll ein Siegel aus der Zeit des Ersten Tempels. Der weniger als einen Zentimeter grosse Gegenstand mit hebräischen Lettern könnte sehr wohl ein Indiz dafür sein, dass der Erste Tempel des Volkes Israel einst tatsächlich an dieser Stelle gestanden hat. Das historische Siegel besteht aus gebranntem Ton und ist mit drei Zeilen Schrift versehen. Vermutlich wurde dieses Siegel ursprünglich für offizielle Dokumente und Briefe verwendet. Und dieses Siegel ist nicht das einzige, das gefunden wurde. Im Jahr 2008 fanden Archäologen das Siegel Gedaljas. Er war nicht nur der Name eines Beraters von König Zedekja, der vor 2600 Jahren über das Südreich Juda herrschte (597-586 v.d.Z.), er wird auch beim Propheten Jeremia im ersten Vers von Kapitel 38 genannt. Bereits 1982 war der israelische Archäologe Yigal Shiloh ganz in der Nähe der späteren Funde auf ein Lager mit mehreren Bullen bzw. Siegeln gestossen. Dort fand sich auch das Siegel des Gemarja. Er war während der Herrschaft von König Jojakim (608-597 v.d.Z) als Schreiber tätig, und auch er kommt in der Hebräischen Bibel vor. Scherben von Tongefässen mit Brandspuren erzählen die Geschichte der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 d.Z. Funde aus jüngerer Zeit wie Kreuzfahrermedaillons, Münzen aus der Regierungszeit von König Balduin V., islamische Münzen und unzählige Schmuckstücke spiegeln die Kämpfe um die Vorherrschaft in Jerusalem wider. Schon allein diese Kleinfunde beweisen die jüdische Präsenz auf dem Tempelberg seit König Salomos Zeit. Sie widerlegen die Behauptungen arabischer Historiker, die die Existenz der beiden Tempel leugnen. Nicht umsonst beschwört jede Generation von Juden in der Diaspora: „Sollt ich dich vergessen, Yeruschalayim...!"