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Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge von Stanislau, Galizien (heute: Ivano-Frankivsk, Ukraine)

Werner RINGITSCHER

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Bei der virtuellen Rekonstruktion der Synagoge von Stanislau in Galizien (heute Ivano-Frankivsk, Ukraine) lag das Hauptaugenmerk auf der - sowohl innen als auch aussen - möglichst präzisen Nachbildung des Originalzustandes um 1900. 

 

Anhand von Recherchearbeiten - des Besuchs bei Rabbi Moishe Leib Kolesnik und des Gebäudes vor Ort, des Studierens anderer Synagogenbeispiele der gleichen Zeitperiode und näheren Umgebung - wurde nach der Analyse und Virtualisierung des vorhandenen Planmaterials ein Farb-, Ornamentik- und Einrichtungskonzept entwickelt, digital übertragen und schlussendlich visualisiert, um die Ergebnisse in ihrer Gesamtheit sichtbar und verständlich zu machen. Im Juli 2015, nach Abschluss der Diplomarbeit, fand noch ein Besuch in Ivano-Frankivsk bei Rabbi Kolesnik, der weitere Informationen und Fotografien bereitstellte, statt. Sie wurden für diesen Beitrag speziell im Abschnitt Innenraum-Visualisierungen als Erweiterung zur Diplomarbeit eingepflegt.

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Synagoge Ostseite, Apsis, Zustand Dezember 2014. Foto: W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.

 

Das im maurischen Stile erbaute G‘tteshaus wurde vom in Wien tätigen jüdischen Architekten Wilhelm Stiassny (1842-1910) geplant und gezeichnet und von den in der Region ansässigen Gebrüdern Schloss ausgeführt. Das Objekt besteht in reduzierter und adaptierter Form auch heute noch, beherbergt aber aus monetären Gründen zusätzlich Gewerbeeinheiten in abgetrennten Geschossen und Bereichen. Es wird auch weiterhin, beziehungsweise wieder, als Synagoge für die eher überschaubare jüdische Gemeinschaft vor Ort (rund 300 Mitglieder) verwendet.

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Visualisierung Synagoge, Apsis. Foto: W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.

 

Die Stadt Stanisławów, so der ursprünglich polnische Gründungsname, liegt im Gebiet des sogenannten Ostgalizien. Heute hat Ivano-Frankivsk rund 230.000 Einwohner (anno 2015) und ist aufgrund der zahlreichen Ausbildungsstätten eine Studentenstadt. Ihren ersten Namen hatte die Stadt durch den polnischen Adeligen Andrzej Potocki (1618-1663) erhalten, der seinem Sohn Stanislau zu Ehren von 1650-1662 die Stadt gründete. 

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Entwurf von Schloss, 1893. Umzeichnung: W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.

 

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Grundriss Erdgeschoss (links) und Obergeschoss (rechts), 1900.Umzeichnung: W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.

 

Die Stadt und das Judentum

Das Judentum nahm von Anfang an eine wichtige Rolle in der Stadtgeschichte ein. Potocki wirkte den Magdeburger Rechten entgegen, lud Armenier und Juden in die Stadt und gab ihnen schon im Gründungsjahr 1662 die Möglichkeit, ihre Kultur, ihren Glauben und ihre Berufe zu entfalten. Die erste Synagoge (Beth Midrash) wurde gebaut, mehrere Geschäfte und ein Friedhof am Rande der Stadt folgten. 

Ab 1772 kam Stanislau, das von nun an den deutschen Namen trug, mitsamt Galizien unter die Herrschaft der Habsburger, wurde später Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie und blieb es auch bis zum Ersten Weltkrieg (fast) durchgehend. Diese Zeit gilt als sehr bedeutsam für die Stadtgeschichte und prägt heute noch das Stadtbild. Sowohl die Architektur, die stark an andere ehemalige k.u.k.-Städte erinnert, aber auch die Namensgebung diverser Strassen, Plätze und Palais sind noch Zeugen dieser baulich äusserst fruchtbaren Zeit.

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Visualisierung Innenraum, von der Loge aus.Foto: W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.

 

Bis circa 1920 machte der jüdische Anteil fortan immer rund fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Um 1931 verringerte sich der Anteil durch die Eingliederung der umliegenden Dörfer statistisch zwar auf rund 34 Prozent, was aber immer noch eine Steigerung auf rund 25.000 Personen (von gesamt 72.000) bedeutete. Die wahrscheinlich höchste Anzahl an Juden in Stanislau gab es wohl aufgrund des durch die NS-Besatzung errichteten Ghetto-Viertels. Nach dem Einfall der Nationalsozialisten in Polen waren viele Juden in die östlichen Gebiete Polens geflüchtet. Auch der immer und immer stärker werdende Antisemitismus Mitteleuropas hatte viele Juden bereits vor Kriegsbeginn zur Flucht gezwungen. Alleine die hohe Anzahl an Gebetshäusern und Synagogen, insgesamt 55 an der Zahl, spricht schon für eine tiefe Verwurzelung und Ausdehnung der Glaubensgemeinschaft in der Region und der Stadtgeschichte. Auch politisch war das Judentum in Stanislau recht bedeutsam. So stieg beispielsweise Arthur Nimhin, der gegenüber den neuen innerjüdischen Strömungen jener Zeit („progressive Ausrichtung“ des Reformjudentums) als offen galt, von 1897 bis zur Errichtung der Westukrainischen Volksrepublik 1919 zum Bürgermeister der Stadt auf.  

Baugeschichte 

Der Weg bis hin zum Entschluss des Neubaus einer Synagoge war ein langer und steiniger, vor allem die Finanzierung und schlussendlich die Stilfrage betreffend. Die Haskala-Bewegung (ähnlich dem späteren Zionismus), die bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts in Stanislau immer mehr Fuss fasste, gründete zum Ende des Jahrzehnts eine Reformsynagoge, die aufgrund von Differenzen innerhalb der Gemeinschaft 1887 aber wieder gesperrt wurde. Daraufhin wurde 1888 die Organisation „Towarzystwo swiatyni izraelickiej w Stanislavie“ gegründet, ein Tempelbauverein, um eine „progressive“ Synagoge mit all ihren geänderten Abläufen in der Liturgie und dem geregelten G‘ttesdienst finanzieren zu können. Begünstigt wurde diese Gründung durch den Tod des konservativen Hauptrabbiners Meshullam Issachar Ben Aryeh Leib Ha-Levi (1808–1888), der liberalere Strömungen grundsätzlich abgelehnt hatte. 

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Visualisierung Innenraum, Frauengalerie. Foto: W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.

 

Dieser Verein für den israelitischen Tempel bestand anfangs aus gerade einmal 50 Mitgliedern - diese zeigten sich aber in der Finanzierung der Synagoge kreativ. Sie veranstalteten beispielsweise Thea-tervorstellungen, deren Erlös dem Bau gewidmet wurde. Auch gute Kontakte zu Beamten waren hilfreich. Für die Planung und ersten Entwürfe wurde 1893 der lokal tätige Ingenieur Maksimilian Schloss (1858-1900) engagiert. Dessen Entwürfe zeigten sich noch deutlich „konservativer”, ohne maurische Stilelemente, sahen aber eine Mittelkuppel vor, sowie die wahrscheinlich von Stiassny übernommenen vier Ecktürme. Die Mitglieder des Vereins jedoch waren mit dem Entwurf nicht zufrieden und stellten im Frühjahr 1894 eine Anfrage an den für seine Synagogen mittlerweile bekannten Stiassny. Dieser wurde gebeten, „notwendige Änderungen” (wahrscheinlich des Stils und der Glaubensausrichtung wegen) vorzunehmen oder gänzlich neue Pläne anzufertigen. Im Oktober 1894 übermittelte er seine Pläne, und der Tempelbauverein willigte unter der Bedingung der Kostenreduzierung ein. In einer darauffolgenden Sitzung wurden nun folgende Rahmenbedingungen für den Neubau aufgestellt: 

„Die Anzahl der Sitze soll ungefähr 300 betragen; die Tempelhöhe soll zwischen 14 und 14.5 m sein; der Keller ist nicht notwendig und die Baukosten inklusive Ausrüstung sollen zwischen 50.000 und 60.000 Gulden betragen. Die Grundsteinlegung soll binnen drei Wochen stattfinden.” 

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Obergeschoss der Synagoge, Richtung Apsis, Zustand 2015. Foto: W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.

 

Nachdem Stiassny die Pläne unentgeltlich im Mai 1895 übermittelt hatte, konnte am 20. Juni 1895 unter reger Beteiligung der jüdischen Gemeinschaft  die Grundsteinlegung (der Stein ist unter dem Haupteingang platziert) vollzogen werden. Selbst Vertreter anderer Konfessionen nahmen teil. Stiassny hingegen blieb der Festveranstaltung (entschuldigt) fern und wurde noch in selbiger zum Ehrenmitglied ernannt. Mit der Bauausführung wurden schlussend-lich die Gebrüder Maksimilian und Georg Schloss beauftragt.

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Visualisierung Innenraum.

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Visualisierung der Eingänge.

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Synagoge, Ansicht der Südfassade, Zustand 2014. Foto: W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.

 

Die Synagoge

Das Raumprogramm der Synagoge ist auf das Reformjudentum „zugeschnitten“ und auch dementsprechend gegliedert. Das Gebäude wird mittels einer Tor- und Zaunanlage über einen Vorhof erschlossen. Die Eingänge sind an der Westseite der Synagoge nach Geschlechtern unterteilt. Mittig befinden sich die drei Eingänge der Männer, seitlich in den Türmen befinden sich die Aufgänge zu den Frauengalerien. Über das Vestibül gelangt man in den grossen Betraum, der von vier grossen Hauptsäulen und einem grossen Bogen, der die Apsis optisch abtrennt, dominiert wird. Die Decke der umgehenden Frauengalerien ruht auf einem dreiseitigen Arkadengang inmitten des Betraumes im Erdgeschoss, dessen Säulen und Bögen reichlich verziert waren, und die Halle somit in „Schiffe“ unterteilte. Die Frauengalerien dürften sich vertikal auf der Fläche des Vestibüls bis in das wesentlich niedrigere zweite Obergeschoss erstreckt haben, das über die Türme erschlossen werden konnte.

 

Die Galerie im Hauptraum und das restliche Gebäude waren hingegen nur einstöckig. Über den grossen Betraum gelangte man mittig wie in einer christlichen Kirche zur hölzernen und erhöhten Estrade mit Sprecherpult, auf der die zentralen Elemente des G‘ttesdienstes (Bimah und Thoraschrein) platziert waren. Durch einen weiteren reichlich verzierten Bogen, der auf zwei Säulen ruhte, den Thoraschrein hervorhob und umrahmte, wurde diese halbkreisförmige Apsis nochmals betont. Zur linken und rechten Seite der Apsis befanden sich noch die Räumlichkeiten des Rabbiners und des Kantors. Im ersten Obergeschoss befanden sich an deren Stelle (in der Verlängerung der Frauengalerie) vermutlich Logen in Richtung Apsis, die zwecks Fundraisings vermietet wurden.

Heute präsentiert sich das Raumprogramm stark verändert. Die Decke zur Frauengalerie wurde in den 1950er Jahren durch die UdSSR aus ökonomischen Gründen geschlossen; die Türme (die den Krieg überstanden hatten!), die Ornamentierung und die Einrichtung wurden entfernt. Im Obergeschoss wurde ein Vortragssaal für das Medizinische In-stitut, im Erdgeschoss ein geräumiger Tanz- bzw. Mehrzwecksaal installiert. Nach dem Zerfall der UdSSR 1991 änderte sich das Raumprogramm nochmals stark, vor allem im Erdgeschoss. Dieses wird bis dato (2017) untervermietet und nur noch der westliche Teil (Vestibül-Seite und Stiegenhäuser) stehen der jüdischen Gemeinde zur Verfügung. Anstelle der ehemaligen Frauengalerie im zweiten Obergeschoss wurden Aufenthalts- und Schlafräume für das Synagogenpersonal installiert, im ersten Obergeschoss befindet sich ein kleiner Speiseraum mit anschliessender Küche.

 

Der ehemalige Logenraum zur Apsis an der Südfassade ist das Büro des Rabbiners, das erste Obergeschoss der ursprünglichen Reformsynagoge wird als Hauptbetraum der orthodoxen Gemeinschaft verwendet. Das restliche Erdgeschoss ist an ein Möbelgeschäft vermietet, das den ehemaligen Betraum, das Zimmer des Rabbiners und die Apsis einnimmt, sowie an ein Reisebüro, das die ehemalige Räumlichkeit des Kantors und die Loge im ersten Obergeschoss mittels Wendeltreppe zweistöckig nutzt. Aktuell hat das Gebäude aber mit grossen Feuchtigkeitsproblemen zu kämpfen und die Erhaltung und Beheizung (Wintermonate!) verschlingen einen Grossteil des ohnehin schon knappen Budgets.

 

Zu guter Letzt bleibt noch zu hoffen und zu wünschen, dass die Synagoge in ihrer ursprünglichen Strahlkraft –auch der ereignisreichen Stadtgeschichte wegen - doch irgendwann rekonstruiert werden kann, denn baulich bestünde diese Möglichkeit - und das 3D-Modell müsste dann „nur noch“ als Ergänzung dienen.

 

Quellen:

 

Werner Ringitscher: Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Ivano-Frankivsk (ehemals Stanislau). 2015. URL: http://permalink.obvsg.at/UTW/AC12309594

Żanna Komar: Trzecie miasto Galicji. Stanisławów i jego architektura w okresie autonomii galickiej [Die dritte Stadt in Galizien. Stanislau und seine Architektur während der galizischen Autonomie]. Kraków: 2008.

Satoko Tanaka: Wilhelm Stiassny (1842–1910). Synagogenbau, Orientalismus und jüdische Identität. Diss. Univ. Wien: 2009. URL: http://othes.univie.ac.at/6524/

Sergey R. Kravtsov: Jewish Identities in Synagogue Architecture of Galicia and Bukovina. In: Ars Judaica, 2010, S. 81-100. URL: http://www.rtrfoundation.org/webart/SergeyKravtsovArticle.pdf

Leon Streit: Dzieje Synagogi Post˛epowej w Stanisławówie [Geschichte der progressiven Synagoge zu Stanislau]. Stanisławów: 1939. 

 DI Werner Ringitscher hat bei Prof. Dr. Bob Martens an der Technischen Universität Wien 2015 seine Diplomarbeit verfasst und ist seitdem im Bereich der Visualisierung & Architekturdienstleistungen tätig (w-isuals.at).

 

Alle Abbildungen: Virtuelle Rekonstruktion, 

W. Ringitscher, mit freundlicher Genehmigung.