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„Jüdische Identität ist für mich Teil dessen, was uns alle ausmacht ... ein Teil meiner Mischpoche“ Bundeskanzler Christian Kern, SPÖ, im Gespräch

Marianne ENIGL

Bundeskanzler Christian Kern, SPÖ, im Gespräch

 

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Christian Kern, 51, ist seit dem Mai 2016 Bundeskanzler, seit dem Juni 2016 ist er Bundesvorsitzender der SPÖ. Bereits als 25jähriger hatte er ab 1991 im Team des damaligen Staatssekretärs Peter Kostelka erstmals seinen Arbeitsplatz im Kanzleramt, ab 1994 war Kern drei Jahre lang Kostelka-Mitarbeiter im SPÖ-Parlamentsklub. Es folgte der Wechsel in Staatsunternehmen: zum Stromanbieter Verbund AG, 2010 wurde Kern dann Vorstandsvorsitzender der ÖBB-Holding AG. In dieser Funktion initiierte er die Ausstellung „Verdrängte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938 – 1945“, dafür wurde er mit der Friedrich Torberg-Medaille ausgezeichnet. Im heurigen April hat Kern als Bundeskanzler zum ersten Mal offiziell Israel besucht. Das Gespräch wurde am 9. August 2017, also vor Beginn des Intensivwahlkampfs, geführt. 

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Christian Kern. Foto: Andy Wenzel, mit freundlicher Genehmigung Bundeskanzleramt.

 

DAVID: Sie haben bei Ihrem Israel-Besuch angesprochen, dass ihre Mutter als damals junges Mädchen einem alten jüdischen Paar, das sich vor den Nazis verstecken hatte müssen, Essen gebracht hat. Können Sie uns dazu näheres erzählen?

Christian Kern: Ich bin überrascht, welche Resonanz das gefunden hat. Auch bei Fernseh- und Zeitungsinterviews in Israel wollten alle diese Geschichte hören. Das beschämt mich fast, denn ich habe ja keinen Beitrag dazu geleistet, ausser, dass ich diese Geschichte immer und immer wieder gehört habe.

 

DAVID: Erinnern Sie sich, wie alt Sie waren, als Sie das von Ihrer Mutter erstmals erzählt bekamen?

Kern: Nein, es liegt so lange zurück. Meine Grossmutter hat bei einem älteren jüdischen Ehepaar als Haushälterin gearbeitet und auch gekocht. Als das Paar sich dann verstecken musste und auf den Dachboden übersiedelt ist, hat meine Grossmutter weiter gekocht und meine Mutter ist zu Fuss mit dem Essen hingelaufen. Eines Tages, meine Mutter dürfte da zwölf oder dreizehn gewesen sein, stand die Gestapo dort, fragte, „Was machst du da?“ und hat sie davongejagt. Ab da verlor sich die Spur des Ehepaars.

 

DAVID: Haben Sie herausgefunden, wer die beiden versteckten Menschen waren? Haben sie überlebt? 

Kern: Leider weiss ich darüber nichts. Ich habe meine Mutter nie nach der Adresse gefragt. Da die österreichische Botschaft in Israel angeboten hat, über Yad Vashem vielleicht etwas herausfinden, habe ich jetzt versucht, von meiner Mutter mehr zu erfahren. Aber sie ist 89 Jahre alt und kann sich an die genaue Adresse nicht erinnern, es muss wohl im neunten Bezirk gewesen sein. Natürlich erkundest Du als politisch Interessierter, wie war das, wie habt Ihr das empfunden? Mein Vater war ein völlig unpolitischer Mensch, aufgewachsen im zweiten Bezirk. Er ist da immer sehr emotional geworden und hat gesagt, „Das grösste G´sindel war plötzlich von einem Tag auf den anderen die grossen Macher, weil sie sich zu den Nazis bekannt haben.“ Meine Mutter erzählt mit dem Alter sogar noch öfter, da werden Erinnerungen wieder lebendiger, die Kriegserfahrung mit allem, was dazu gehört. Doch die Spur zu dem jüdischen Paar hat sich für uns völlig verloren. Ich muss gestehen, vor zwei oder drei Jahrzehnten hätte man diese Dinge vielleicht noch nachvollziehen können. 

 

DAVID: Damals haben Sie nicht nachgefragt?

Kern: Mir fehlte damals auch der Bezug dazu. Meine Mutter war ein kleines Mädel, meine Grossmutter ist leider schon vor längerer Zeit verstorben. Die Zeit verwischt dann die Spuren. Daher war es mir bei der Ausstellung über die Bahn im Dritten Reich auch so wichtig, Lehrlinge einzubinden. Ich habe sie besucht und gefragt, was sie mit der Zeit des Nationalsozialismus verbinden. Spannend und traurig zugleich war, dass sie sagten, sie hätten bisher überhaupt keinen Bezug gehabt. Mir ist da diese Geschichte des jüdischen Paares wieder eingefallen, und das Privileg, von meinen Eltern aus erster Hand zu erfahren, wie bedrückend das alles war. 

 

DAVID: Früher hätte Ihre Mutter sicher die Adresse des Verstecks noch gewusst.

Kern: Ja, damals sah ich nicht, dass ich eine Legitimation gehabt hätte, die Leute zu suchen. Ich kenne auch die Bindung meiner Grossmutter zu ihnen nicht. Sicher war da eine grosse Loyalität, sie ist gut behandelt worden, hat sehr geschätzt, dort arbeiten zu können. Entscheidend ist, dass bei jetzt aufwachsenden Kindern die biographische Linie bricht und es daher umso wichtiger ist, sich damit zu beschäftigen und den Nachkommenden diese Verantwortung bewusst zu machen. Mit Lehrlingen bei den ÖBB passiert sehr viel an Bildungsarbeit, sie werden ins Theater eingeladen, es gibt Delegationen nach Auschwitz – und es ist immer wieder frustrierend, dass selbst bei ihnen eine gewisse Form des Antisemitismus nicht auszumerzen ist. Realität ist auch, dass das zuletzt durch Lehrlinge mit Migrationshintergrund stärker geworden ist.

DAVID: Österreich hat sehr viele junge Menschen mit muslimischem Hintergrund, zugleich nimmt politischer Islam zu. 

Kern: Ich würde nicht verallgemeinern, aber es gibt Muslime aus Regionen, wo es üblich ist, Israel die Todfeindschaft zu erklären. Die jüdische Identität ist für mich Teil unserer Kultur und Teil dessen, was uns alle ausmacht. Von Wissenschaft bis Kunst bis Politik. Das sind ja wir. Insofern ist ein Angriff auf das Judentum etwas, das ich als Angriff auf unseren Way of Life empfinde. Aus meiner subjektiven Sicht ist das Teil meiner Mischpoche, ich sage das so, obwohl ich keine jüdischen Wurzeln habe. Ich bin ein grosser Freund von Karl Popper und seiner Einlassungen zum Thema Toleranz: Toleranz ist das Recht, Intoleranz nicht zu tolerieren. Wir leben in einer Wertegesellschaft, wo religiöser, sexueller, weltanschaulicher Pluralismus dazugehört. Das mit aller Vehemenz zu verteidigen, und vor solchen Tendenzen nicht einzuknicken und nachzugeben halte ich für eine der entscheidendsten Aufgaben. Dem Phänomen eines politischen Islam muss man daher mit aller Vehemenz entgegentreten.

 

DAVID: Die Geschichte dieser Jugendlichen und ihrer Familien ist eine andere als unsere. Wie schaffen wir es, sie in unseren Wertekanon zu bringen? 

Kern: Es ist ein Versäumnis, das mittlerweile lange zurückreicht. Unser Dilemma ist, dass wir gedacht haben, Multikulti macht eine Gesellschaft nur reicher, produziert Vielfalt. Die Wahrheit ist, dass Multikulti nicht Multikulti ist, sondern zu abgeschotteten Parallelgesellschaften geführt hat. Die jetzt aufzubrechen, ist die grosse Herausforderung. Das betrifft nicht nur die jüngste Migrationswelle, ganz und gar nicht. Unser Versäumnis hat mit Zuwanderung aus der Türkei, aus Tschetschenien zu tun, das geht Jahrzehnte zurück. Die politische Auseinandersetzung damit hat man verabsäumt. Wir haben in der Integrationspolitik in den vergangenen Jahren eindeutig zu wenige Anstrengungen vorgenommen.

 

DAVID: Ist diese Kritik gegen Integrations- und Aussenminister Sebastian Kurz gerichtet?

Kern: Das gilt generell, man hat das Phänomen unterschätzt. Man sieht aber auch, dass es da nicht hilft, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen oder jemanden zu bezichtigen. Das einzige, das hier hilft, ist, daran zu arbeiten. 

DAVID: Darf ich Sie fragen, haben Sie viele jüdische Bekannte, Freunde? 

Kern: Ja, eine erkleckliche Zahl.

DAVID: In Österreich, im Ausland?

Kern: In Österreich. Nachdem mein Lebensmittelpunkt immer in Österreich war, sind auch meine Freunde in erster Linie hier. Aber es ist eine bunte Mixtur und das ist gut so. Meine Frau fliegt heute Abend wieder beruflich nach Tel Aviv, so bauen sich natürlich auch Verbindungen zu den Menschen dort auf.

 

DAVID: Sie haben von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien die Torberg-Medaille verliehen bekommen; haben Sie zur IKG engere Beziehungen? 

Kern: Ich bin stolzer Träger der Torberg-Medaille.  Ansonsten stehen wir in einem regelmässigen Austausch, mit Herrn Präsidenten Oskar Deutsch natürlich, auch im Versuch, den interreligiösen Dialog voranzubringen. Es ist schlicht und einfach aber auch Sympathie, bis zum Umstand, dass viele meiner jüdischen Freunde auf der richtigen Seite der „Macht“ stehen. Austria Wien heisst der Fussballklub (lacht).

 

DAVID: Verfolgen Sie, dass es heuer auch in der IKG Wahlen gibt?

Kern: Ja. Ich habe auch das Ergebnis der letzten Wahl verfolgt, habe aber keinen Anlass mich einzumischen.

 

DAVID: Sie haben im „Wald der Nationen“ in Yad Vashem einen Baum gepflanzt und sich als „ wirklicher Freund des jüdischen Volkes und Ihres Landes“ beschrieben. Was bedeutet das in Ihrer politischen Arbeit konkret?

Kern: Ich denke, dass wir besondere Beziehungen haben. Was passiert ist, darf nicht wieder passieren, und zwar in keiner Ausprägung. Und: Israel ist das Land, das in der Region dasselbe Gesellschaftsmodell wie wir verfolgt. Demokratisch, offen, pluralistisch - auch wenn das eine oder andere von der orthodoxen Seite kritisiert wird – das ist eine wichtige Verbindung. Wir haben alle politischen Kräfte und ihre Vorsitzenden in Israel besucht, Premierminister Benjamin Netanjahu, natürlich Präsidenten Reuven Rivlin. Mir war das ein bewusstes Zeichen, dass wir zu dieser Vergangenheit stehen und das, was mit Kanzler Franz Vranitzky 1993 begonnen hat, als politische Elite in diesem Land bewahren, weitertragen.

DAVID: Wen meinen Sie mit „politischer Elite“?

Kern: Das sind in dem Fall die Bundesregierungen.

 

DAVID: Dass der Staat Israel eine ganz spezielle Vorgeschichte hat, weshalb seine Selbstverteidigung mit anderen Massen zu messen ist als die anderer Staaten, ist für Sie unumstritten?

Kern: So ist es. Israel ist nicht in der Grenzregion zwischen Österreich und der Schweiz gegründet worden. Dem entsprechend muss man vernünftige Massstäbe anwenden; wenn es Kritikpunkte gibt, nennen wir die auch. Während meines Israelbesuchs gab es das Problem mit Sigmar Gabriel [der deutsche Aussenminister hatte in Israel Regierungskritiker getroffen, worauf Premier Netanjahu ein Treffen mit Gabriel absagte, Anm. d. Redaktion]. Mit Netanjahu habe ich unter vier Augen diskutiert, wo die Kritik herkommt, was man tun kann. Ich habe versucht, ihm verständlich zu machen, warum die von Gabriel formulierte Kritik eine ist, die viele von uns auch teilen. Wir haben das Recht, Israel zu kritisieren, aber wir sind gut beraten, das mit grösstem Augenmass zu tun. 

 

DAVID: Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel definiert das Existenzrecht Israels als Teil der deutschen Staatsräson. Gilt das auch für Österreich?

Kern: Das gilt selbstverständlich auch für Österreich.

 

DAVID: Wie deuten Sie die plötzliche Liebe der FPÖ zu den Juden beziehungsweise Israel? 

Kern: Ich will das nicht beurteilen. Ob es Taktik, ob es tief empfunden ist oder nicht, da müssen Sie schon die Freiheitlichen fragen. 

 

DAVID: FPÖ-Chef Heinz Christian Strache hat sich im späten Frühjahr die Gedenkstätte KZ Mauthausen zeigen lassen. Er bestand darauf, dass sein Besuch nicht bekannt werden solle. Wie interpretieren Sie das?

Kern: Ich finde es positiv, wenn Politiker sich dieser Geschichte stellen. Warum das nicht nach aussen dringen sollte, muss Herr Strache mit sich selbst ausmachen. Ich war bei der Befreiungsfeier des KZ in Mauthausen, das ist uns Verpflichtung. 

 

DAVID: Für die Leser des DAVID ist die Frage nach einer Regierungskoalition mit der FPÖ entscheidend. Was spricht für Sie klar gegen eine Zusammenarbeit mit der FPÖ?

Kern: Wir haben in der Vergangenheit immer gesagt, wogegen wir sind. Risiko dabei ist, dass du vergisst, zu erklären, wofür du eigentlich bist. Meine Philosophie ist, wir als Sozialdemokraten haben einen Gesellschaftsentwurf und wir wollen Österreich danach formen. Wer bereit ist, das mit uns umzusetzen, ist willkommener Koalitionspartner. Und: nach unserem Wertekompass kann jemand, der den Holocaust in Frage stellt, mit antisemitischen Vorurteilen spielt, für uns niemals ein Partner sein. Punkt. 

DAVID: Was spricht für eine SPÖ-FPÖ-Koalition?

Kern: Wir haben ein Programm, das wir umsetzen wollen. Und es gibt viele Gründe, das Land vor einer Schwarz-Blauen Regierung zu bewahren, das ist das, worum wir uns bemühen werden.

 

DAVID: Abschliessend möchte ich Sie noch etwas fragen, das eigentlich selbstverständlich sein sollte, es aber nicht ist: es geht um die Erhaltung der verfallenden Grabmäler jüdischer Gründungsväter der Österreichischen Nationalbank auf dem grossen jüdischen Friedhof in Wien-Währing. Kennen Sie ihn?

Kern: Nein, da war ich noch nicht.

 

DAVID: Meine Kollegin Tina Walzer schreibt als d i e Expertin für den Friedhof im DAVID eine beeindruckend bedrückende Serie über diese Menschen. Deren Grabmäler sind zerbrochen, verwaist, denn ihre Nachfahren wurden im NS vertrieben oder ermordet. Sehen Sie es als Bringschuld der Nationalbank, die Geschichte ihrer Gründer und ihre Grabmonumente bewahrt?

Kern: Tradition zu bewahren und unsere Verpflichtungen hoch zu halten ist in jedem Fall die richtige Entscheidung. Man kann da nie zu viel tun. Die Nationalbank ist eine unabhängige Institution, über welche die Regierung kein Weisungsrecht hat. Aber verstehen Sie das Gesagte bitte als Hinweis.

 

DAVID: Herr Bundeskanzler, danke für das Gespräch.