Im Fokus Frau und Herr Berger
Wie gestaltet sich das Miteinander in einer jüdischen Gemeinde? Welche Gerichte stehen bei der jüdischen Bevölkerung hoch im Kurs? Seit wann gibt es koscheren Wein in Deutschland? Ist es leicht, zum Judentum zu konvertieren? Diesen und vielen anderen Fragen standen Noemi Berger und Rabbiner Dr. Joel Berger am 28. Mai bei ihrer Lesung Rede und Antwort. Vor neun Jahren referierte am gleichen Ort die damals amtierende Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland Charlotte Knobloch.
Rabbiner Dr. Joel Berger in seiner Bibliothek.
Foto: Familie Berger, mit freundlicher Genehmigung.
Moderne Impulse
Das ins Leben gerufene Projekt Jüdische Kulturtage Bad Kissingen findet dieses Jahr bereits zum sechsten Mal statt und ist inzwischen zu einem festen Bestandteil des kulturellen Lebens der Region Unterfranken geworden. Von Januar bis Dezember wird die Vielfalt jüdischen Lebens durch unterschiedliche Events (Vorträge, Führungen, Ausstellungen und Exkursionen) anschaulich vermittelt. Dabei ist das Kurhotel Eden-Park - das einzige koscher geführte Hotel Deutschlands - eine der vielen Institutionen, die das Projekt tatkräftig unterstützen. Eines der zahlreichen Highlights war die Lesung der Eheleute Noemi und Joel Berger, die immer wieder in eine lebhafte Diskussion mit den Zuhörern mündete.
Kurhotel Eden-Park
Das Eden-Park Hotel wurde 1993 von der ZWST (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.) eröffnet und ist seither der Treffpunkt für die SeniorInnen, die an den Integrations- und Bildungsaufenthalten der ZWST teilnehmen. Die Programme kombinieren integrative Weiterbildung in den Bereichen Sprache, Kultur, Gesundheit und Politik mit gruppenpädagogischen Aktivitäten wie Tanz, Gesang, Theater, Ausflügen und Gesprächsrunden. Zu bestimmten Terminen und anlässlich jüdischer Feiertage steht das Kurhotel auch anderen jüdischen Organisationen zur Verfügung.
Nach Begrüssung aller Anwesenden betonte Joel Berger, der Württembergische Landesrabbiner a. D., die grosse Bedeutung dieses koscher geführten Hotels und das damit verbundene aussergewöhnliche Engagement von Hotelchefin Erika Brätz zur Integration der nach Deutschland übersiedelten Menschen jüdischer Abstammung. „Das ist nicht nur ein Haus. Das ist ein Zuhause für viele Leute, die aus ihren heimatlichen Gefilden weit vertrieben worden sind. Darüber hinaus ist hier für viele Leute die Möglichkeit gegeben, das, was sie früher bei Mutter und Grossmutter erlebt haben, wieder aufzufrischen“, erklärte der Redner die Zusammenhänge des menschlichen Miteinander aus heutiger Sicht. Das ist die moderne Realität. Wie war es allerdings damals, nach dem Krieg?
Noemi Berger mit einem der sechs Enkelchen. Foto: Familie Berger, mit freundlicher Genehmigung.
Rückblick
Ende der 1940-er Jahre schrumpfte die Zahl der BundesbürgerInnen jüdischer Herkunft auf knapp 15.000. Zum einen flüchteten viele jüdische Familien in den Zeiten der Schoa aus dem Land; zum anderen wanderten Jüdinnen und Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, nach der Gründung des Staates Israel 1948 ins Heilige Land aus. Darauffolgend wurden das Büro der Jewish Agency sowie das israelische Konsulat in München geschlossen. Mitte der 1950-er Jahre wurde im Allgemeinen angenommen, die in Deutschland verbliebenen jüdischen Gemeinden würden sich innerhalb weniger Jahre selbst auflösen.
Zu dieser Zeit wuchs Joel Berger in Ungarn auf. Nach einer kurzen Inhaftierung in jungen Jahren1 liess er sich 1957 am Rabbinerseminar in Budapest einschreiben und erlangte dort nach sechs Jahren Studium das orthodoxe Rabbinerdiplom. Daneben studierte Joel Berger Geschichte für das Lehramt an Gymnasien. Allumfassende Einblicke in die jüdische Situation im kommunistischen Ungarn bietet das Kapitel Emmerich Kálmán klaut in seiner Autobiographie Der Mann mit dem Hut (erschienen bei Klöpfer&Meyer, Tübingen 2013). Aufgrund der politisch angespannten Situation in seinem Geburtsland emigrierte Joel Berger 1968 nach Deutschland, wo er seine erste Arbeitsstelle als Rabbiner von Regensburg innehatte.
Kurz danach lernte er seine künftige Gattin Noemi in Wien kennen. Sie gründeten eine Familie. Ihre beiden Kinder Michael und Margalit wurden in Düsseldorf beziehungsweise Schweden geboren. Die gebürtige Österreicherin stammt aus einer traditionsreichen Rabbinerfamilie und kennt sich daher mit der Stellung und den zahlreichen Aufgaben einer Rebbetzin innerhalb der Gemeinde bestens aus. Frau Berger ist ihr Leben lang gewöhnt, den hilfsbedürftigen Menschen unter die Arme zu greifen, ihnen Hoffnung zu geben und sie zu beraten. Ihr Wissen ist nicht nur auf Erfahrung aufgebaut, sondern wurde während des Studiums der Judaistik in Wien sowie am Jews’ College der Universität von London vertieft.
Nach weiteren Stationen in Düsseldorf, Göteborg (Schweden) und Bremen fand die Rabbinerfamilie Anfang der 80-er Jahren ihre langjährige Bleibe in Stuttgart. Von 1981 bis zu seiner Pensionierung 2002 war Herr Berger als Württembergischer Landesrabbiner tätig; auch seine Gattin Noemi konnte ihre Gaben voll entfalten. Seitdem ist das Ehepaar ein eingespieltes Team, das sich ehrenamtlich am gesellschaftlichen Leben beteiligt und soziale Projekte ins Leben ruft.
Herausforderungen der 1990-er Jahre
Gegenwärtig leben in der Bundesrepublik etwa 100.000 praktizierende und bekennende Jüdinnen und Juden. Insgesamt 105 jüdische Gemeinden sind in 23 Landesverbänden organisiert, die wiederum einer Dachorganisation - dem Zentralrat der Juden in Deutschland - angehören. Diese aktuelle Lage wäre ohne die Einwanderung der GUS-BürgerInnen jüdischer Abstammung nicht denkbar. Ins Land der Dichter und Denker kamen bis Ende 2004 rund 83.000 Jüdinnen und Juden aus dem russischen Sprachraum; damit einhergehend allerdings die Herausforderungen für alle Rabbiner vor Ort.
Das pädagogische Talent von Joel Berger - die Menschen aus den interkulturellen Kreisen zusammen zu bringen, ihre Ressourcen zu wecken und nützlich zu machen - war in dieser Zeit besonders gefragt. Da die jüdische Bevölkerung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion weitestgehend atheistisch erzogen wurde, stand seit dieser Zeit die Wissensvermittlung des Judentums im Fokus seiner Tätigkeit. Seit dem Wintersemester 1986/1987 übernahm der Intellektuelle an der Universität Tübingen einen Lehrauftrag am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft und forschte u. a. über die Stoffe und Formen jüdischer Erzählungen samt ihrer Bezüge zu christlichen Traditionen. Nach zwölf Jahren seiner Tätigkeit als Forscher und Dozent verlieh die Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften Herrn Berger den Titel Ehrendoktor.
Das gedruckte Medium gilt seit eh und je als eine verlässliche Plattform zum Gedankenaustausch aller Art. So war der führende Judaist zeitweise Herausgeber der Zeitschrift UDIM der Rabbinerkonferenz; in den aktuellen Ausgaben der deutsch-russischen Zeitschrift des Zentralrats der Juden in Deutschland Zukunft, können seine Glossar-Beiträge Was ich immer schon wissen wollte... gelesen werden. Derzeit ist er ausserdem in mehreren Sendungen verschiedenen Rundfunkanstalten der ARD, wie der Sendung Anstösse im SWR oder in BR2 regelmässig zu hören. Seine Stimme hört sich warmherzig an; sein Humor kann durchaus spitz und entlarvend sein.
„Meine Frau hat mir nur kurzweilig erlaubt zu sprechen“, liess der Geistliche schmunzelnd seine Zuhörer in Bad Kissingen wissen, dabei liebevoll blickend zu seiner Gattin Noemi. Das kam gut bei den Gästen an, genauso wie alle anderen Witze an diesem Nachmittag im bekannten Kurort an der Saale.
„Die jüdische Frau ist die Priesterin des Hauses“, hob Frau Berger die Rolle der Ehefrau hervor. Es verstand sich für sie als selbstverständlich, fast jeden Schabbat Gäste zu bewirten, die ihr Mann mit nach Hause brachte. Später sprachen Freunde Noemi daraufhin an, ein Buch mit Rezepten von all diesen leckeren jüdischen Gerichten zu veröffentlichen. So schrieb die aktive Frau Berger ein Kochbuch. Das vielseitige Engagement der Rebbetzin machte allerdings vor den eigenen vier Wänden nicht halt. Frau Berger stand mit vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in regem Kontakt. Das war ihre Idee, die Women’s International Zionist Organisation Stuttgart zu gründen und fortan den WIZO-Basar immer wieder zu organisieren. Gemeinsam führten der Rabbiner und seine Rebbetzin zahlreiche kulturelle und sportliche Projekte für die Kinder und Jugendlichen ihrer jeweiligen Gemeinden durch.
Heute und morgen
Gemeinsam, verbunden durch gleiche Interessen und Ansichten, sind Frau und Herr Dr. Berger auch heute aktiv. Mit Herz und Verstand tragen sie die Ideen des Judentums an die Interessenten weiter. An diesem sonnigen Mai-Nachmittag erzählten die Bergers zweieinhalb Stunden lang über die jüdischen Sitten und Bräuche und ergänzten sich dabei gegenseitig bei Erklärungen. Beeindruckend. Geistreich. Humorvoll.
Für ihre unermüdliche Aufklärungsarbeit rund um die jüdische Tradition und ihr soziales Engagement wurde 2016 den beiden Ehegatten - Frau sowie Herrn Berger - die höchste Auszeichnung der Bundesregierung, das Bundesverdienstkreuz, verliehen.
Weiterführende Literatur
Joel Berger, Heidi-Barbara Kloos, György Dalos (Vorr.): Der Mann mit dem Hut: Geschichten meines Lebens. Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2013
Das koschere Kochbuch: Rebbetzten Noemi Berger bittet zu Tisch / Broschüre - 1995
1 Aufgrund einer nie nachgewiesenen Beteiligung am Ungarischen Volksaufstand 1956 (Anmerkung MK).