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Des Kaisers „Osterpogrom“

Christoph TEPPERBERG

Der Kampf Karls I. gegen „Müssiggang“ und „Drückebergerei“ im Kriegsjahr 1917

 

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Um es gleich vorwegzunehmen: Es handelt sich beim „Osterpogrom“ nicht um gewaltsame Ausschreitungen, sondern um die auf Anordnung Kaiser Karls überfallsartig durchgeführten Musterungen zur Feststellung der körperlichen Fronttauglichkeit bestimmter Militärpersonen. 

 

Kriegsbürokratie und Rekrutenbedarf 

 

Die Donaumonarchie hatte ein kompliziertes Verwaltungsgefüge, entsprechend komplex war auch die Struktur der österreich-ungarischen Streitkräfte. Durch die allgemeine Mobilisierung im Sommer 1914 und die damit in Kraft getretenen Ausnahmeverfügungen entstand schliesslich ein opulenter Militärapparat, ein Geflecht aus militärischen und zivilen Behörden. Mit dem Thronwechsel nach dem Tod Kaiser Franz Josephs veranlasste Kaiser Karl im Frühjahr 1917 zusätzliche personelle und institutionelle Veränderungen. 

 

In Friedenszeiten waren die Rekrutenkontingente begrenzt, wurden Stellungspflichtige nur mit möglichst einwandfreiem Gesundheitszustand als „tauglich“ für den Wehrdienst assentiert. Dies änderte sich schlagartig bei Kriegsausbruch im Sommer 1914. Mit Anordnung der allgemeinen Mobilisierung und Aufbietung des Landsturmes beider Reichshälften wurden neben den bereits eingerückten Präsenzdienern auch die Reservisten einberufen und die „Landsturmpflichtigen“ zur aktiven Dienstleitung präsentiert. Trotz Aufbringung beachtlicher Quantitäten an frontdiensttauglicher Mannschaft musste man – nach den enormen Verlusten der ersten beiden Kriegsjahre – zunehmend auf mindertaugliche Mannschaft zurückgreifen. So gelangten die aus den verschiedensten Gründen vom Wehr- und Frontdienst „enthobenen“ männlichen Personen zunehmend in den Fokus des Kaisers und seiner Militärorgane. 

 

Kaiser Karl und seine „Naderer“ – antisemitische Stereotypen im Habsburgerreich

 

Antisemitismus war in der Donaumonarchie und ihren Streitkräften ein vielschichtiges und ambivalentes Phänomen. Patriotismus, Tapferkeit, Opferbereitschaft – in Kriegszeiten von den Entscheidungsträgern propagierte und instrumentalisierte „Tugenden“ – setzen eine positive Haltung zu Staat und Militär voraus. Vor allem assimilierte gebildete Juden sahen ihre Zukunft materiell, sozial und kulturell im Staat und seinen Institutionen. Der Ehrenkodex des k.u.k. Offizierskorps schloss jüdische Kameraden mit ein. Dies trug zum Abbau antisemitischer Vorurteile bei und wirkte zugleich motivierend auf jüdische Offiziere. So waren im Ersten Weltkrieg gerade bei jüdischen Reserveoffizieren der Monarchie Opferbereitschaft und Blutzoll unverhältnismässig hoch.1

 

Darüber hinaus aber herrschte in der Monarchie die weit verbreitete Ansicht, Israeliten hätten wenig Interesse an Staat und Militär, weniger Opferbereitschaft für Kaiser und Vaterland, wären folglich anfälliger für Musterungsschwindel und „Drückebergerei“ als Nichtjuden. Vermutlich war das Interesse an Staat und Militär bei der orthodoxen Judenheit im galizischen Schtetl weniger ausgeprägt als bei assimilierten Juden, insgesamt aber gab es in der Monarchie unabhängig von Religion und Ethnien Wehrpflichtige mit und ohne militärische Ambition. 

 

Auch war man allgemein der Ansicht, dass Juden von den in der Armee überproportional vertretenen jüdischen Militärärzten bei Stellung oder Musterung bevorzugt behandelt würden. Protektionismus ist eine gesellschaftliche Konstante, verstärkt in Zeiten des Mangels und des Krieges. Interventionen hat es also mit Sicherheit gegeben, sowohl für Juden als auch für Nichtjuden. Bei jüdischen Mitbürgern wurden ja nicht die Interventionen an sich, sondern das als unzulässig empfundene Netzwerk abgelehnt. Die zahlreichen Interventionen etwa von Ministern oder Mitgliedern des Erzhauses wurden als system-adäquat akzeptiert. 

 

Die Sorge des Kaisers und seiner Generalität um die Mannschaftsaufbringung verschärfte den Kampf gegen Musterungsschwindel und „Drückebergerei“. Dabei spielten auch Medienberichte und wohlmeinende „Hinweise“ aus der Zivilbevölkerung eine Rolle. Bei den Militärbehörden langten laufend – meist anonyme – Anzeigen ein. Gegenstand dieser Enthüllungen waren insbesondere Musterungsschwindel, ungerechtfertigte Enthebung und ausschweifender Lebenswandel in Kriegszeiten. Dabei wurden mit Regelmässigkeit auch jüdische Mitbürger als „Drückeberger“ oder „Kriegsgewinnler“ denunziert. 

 

Die Verfolgung solcher Anzeigen wurde mit hohem bürokratischem Aufwand in Kooperation von Militär- und Zivilbehörden mehrerer Instanzen betrieben: Militärkanzlei Seiner Majestät des Kaisers und Königs, Chef des Ersatzwesens für die gesamte bewaffnete Macht, Armeeoberkommando, Kriegsministerium, Landesverteidigungs- und Innenministerien beider Reichshälften, Territorialkommanden, Statthaltereien, Bezirkshauptmannschaften, Magistrate, Gendarmerie und Polizei sowie Organe der ungarischen Gespanschaften. 

 

Müssiggänger, Nachtschwärmer und Kriegsgewinnler auf dem Semmering2 

 

Einer dieser Hinweise erlangte eine besondere Dimension und führte zu umfassenden behördlichen Erhebungen in der gesamten Monarchie. Auslöser dafür waren vermeintliche skandalöse Vorfälle auf dem Semmering in Niederösterreich. Die in dieser Causa überlieferten Unterlagen könnten – bei aller Ernsthaftigkeit der Thematik – zugleich als Skript für Operette oder Kabarett herhalten. 

 

Am 28. Februar 1917 wurde in der Arbeiterzeitung unter der Schlagzeile „Wie es auf dem Semmering zugeht!“ ein Artikel aus der Allgemeinen Sportzeitung abgedruckt:

 

„[…] Auch der dritte Kriegswinter brachte dem Semmering wie seine Vorgänger sehr zahlreichen Besuch und bewegtes Leben, nur dass jetzt das Leben und die Bewegung Formen angenommen haben, die unter den soliden Semmeringfreunden schon als wahrer Skandal empfunden werden. Es hat sich nämlich heuer da eine Gesellschaft von Leuten eingenistet, denen nichts zu teuer ist, die einen plump-protzenhaften Aufwand treiben, und denen es gar nicht lustig und toll genug hergehen kann. Bei dieser Sippschaft fliesst der Champagner in Strömen; Tag für Tag, oder besser Nacht für Nacht herrschst hellster Jubel bis in die Morgenstunden, dem Wahlspruch „Wein, Weib und Gesang“ wird in der ausschweifendsten Weise gehuldigt und wahre Orgien gefeiert voll überschäumender Lebenslust und tollstem Übermut. Man lebt buchstäblich unausgesetzt in Saus und Braus, als gäbe es nicht anderwärts so viel Elend, als würden nicht fortwährend so viele Tausende an der Front für uns verbluten, und als kämpften nicht in Wien allein die vielen Hunderttausende armer und ärmster Leute frierend und hungernd mit bitterer Not.

Der Sammelpunkt dieser Lebewelt ist die Halle des Hotel Panhans. Wer um Mitternacht dort eintritt, glaubt in Monte Carlo zu sein oder in einem der Wiener Nachtlokale in tiefster Friedenszeit. Auf dieser Insel der Glücklichen sieht man die Herren fast nur in Frack oder Smoking, die Damen in den ausgesuchtesten, duftigsten Soireetoiletten, tief dekolletiert, mit kostbarstem Schmuck beladen. Da wird musiziert, gesungen, getanzt und getrunken, die feinsten Marken echten französischen Champagners, ganz gleichgültig was er kostet. Man zahl willig 60, auch 70 Kronen für die Flasche, und die Bar, auf gut deutsch die Schank in diesem Raume des Schwelgens macht täglich Losungen von vielen Tausenden. Man nennt da Rekordzahlen bis zu 9000 Kronen am Tage!

Während sich also in Wien so viele Tausende und Abertausende von armen Menschen in Kälte und Nässe viele Stunden lang anstellen müssen, um sich nur das Notdürftigste an Lebensmitteln zu verschaffen, während einem hier in Wien das Herz blutet, wenn man vor den geschäftslokalen diese endlosen Reihen siecher Greise, abgemagerter blasser Weiber und halbverhungerter Kinder frierend warten sieht, ob sich für sie, ums teure Geld natürlich, ein wenig Kohlen, Kartoffeln, Fett und dergleichen findet, lebt oben eine Gesellschaft, die von Kriegsnot gar nichts wissen will, die nur in Vergnügungen schwimmt, und die bloss die eine Sorge kennt: Was wird es morgen für eine Hetz‘ geben? […]“ 

 

Obwohl in dem Zeitungsartikel von Juden überhaupt nicht die Rede ist, erstattete die Militärkanzlei Seiner Majestät noch am selben Tag eine „Gehorsamste Meldung“ an den Monarchen, womit besagter Artikel „betreffend verschwenderische Lebensführung im Hotel Panhans am Semmering“ übermittelt und mit Nachdruck auf die naheliegende Beteiligung von Juden hingewiesen wurde: 

 

Der beiliegende Artikel führt aus“, so hiess es in der Meldung, „dass im Hotel Panhans am Semmering allnächtlich Orgien gefeiert und die behördlichen Vorschriften über Ersparungen und Vereinfachungen des Lebens in der Kriegszeit missachtet werden. Vermutlich gehören die beteiligten Personen zu den „Kriegsgewinnern“, die unter dem Titel der Unentbehrlichkeit von der Einrückung enthoben sind. Ihre Namen müssen sich aus den Meldebüchern, bezw. durch kurze Erhebungen an Ort und Stelle einwandfrei feststellen lassen. Da Personen, welche die Nächte durchprassen, zweifellos bei Tag nicht arbeiten können, also gewiss nicht unentbehrlich sind, andererseits aber zweifellos volle Gesundheit besitzen, so wird der gehorsamste Antrag gestellt, diese Personen unvorbereitet zu mustern und hierauf ohne Rücksicht auf eventuelle Befreiungstitel je nach ihrer körperlichen Tauglichkeit zu Feldformationen oder zu Hilfsdiensten, jedoch ausserhalb Wiens, einzuteilen. Durch eine solche, überraschend und rücksichtlos durchgeführte Aktion würden nicht nur zahlreiche Kriegswucherer und Drückeberger unschädlich gemacht, sondern auch dem Gebote sozialer Gerechtigkeit Genüge geleistet werden. Es liegt nahe, dass die meisten der Beteiligten Juden sind.“

 

Die grösseren Städte sowie die Wintersportzentren und Sommerfrischen der Monarchie boten auch wehrpflichtigen Personen Zerstreuungen und Verlockungen: in Kaffeehäusern, im Theater und beim Rennen, in Hotels, Klubs, Kasinos und diversen „Etablissements“. Das Aufsuchen solcher Lokalitäten verbunden mit Eigenschaften wie Müssiggang, Ausschweifung, Drückebergerei oder Musterungsschwindel wurden in den Akten der Zentralbehörden der Monarchie mit einiger Regelmässigkeit jüdischen Staatsbürgern zugeordnet. Dabei waren Stereotypen wie „Juden – Israeliten – Geld – Reichtum – Müssiggang“ gängige Diktion. 

 

Im Gegensatz zu Kaiser Franz Josephs ausgeprägter Abneigung gegenüber Antisemitismus hatte Kaiser Karl eine gewisse Abneigung gegen Juden. Auch dies dürfte bei seinen in der Folge getroffenen Anordnungen eine Rolle gespielt haben. Treibende Kraft bei all diesen Aktionen war vermutlich Feldmarschallleutnant Ferdinand von Marterer, Chef der Militärkanzlei und Generaladjutant Seiner Majestät, der schon als Vertrauter des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand dessen Ansichten geteilt hatte – wohl auch die über Juden.

 

In einer „Gehorsamsten Meldung“ der Militärkanzlei vom 3. März 1917 an den Monarchen wird dieser zu einem rigorosen Vorgehen gegenüber derartigen Individuen ermuntert: 

 

„[…] Es liegt ganz gewiss in den hochherzigen Intentionen Sr. Majestät, dass mit der bisher geübten Nachsicht und Duldung gegenüber den grossen Kriegsgewinnern gebrochen wird, auch wenn diese den einflussreichen Geldkreisen angehören.“

 

Zechgelage beim Panhans – Irrelevante Richtigstellungen3 

 

Bald darauf wurde der Militärkanzlei ein umfangreicher und präziser Bericht von Thomas Graf Erdödy, Oberleutnant der Feldgendarmerie, übermittelt. Dieser Bericht relativierte nicht nur die behaupteten Vorfälle auf dem Semmering selbst, sondern auch die moralische Motivation der Zeitungschampagne.        Jüdische Hotelgäste finden darin keine direkte Erwähnung:

 

„Die in der Wiener Presse veröffentlichten Schilderungen über skandalöse Vorgänge auf dem Semmering sind, wie die Erhebungen ergeben haben, stark übertrieben und aufgebauscht worden. Diese Anschauung wird nicht nur von den Kur- und Sportgästen, sondern auch von den Einheimischen geteilt. […] Orgien, wie sie in den Presse-Artikeln geschildert wurden, haben nicht stattgefunden, doch beteiligten sich an den Gelagen auf dem Semmering weilende Schauspielerinnen und Halbweltdamen […] Diese Unterhaltungen wurden hauptsächlich in der Bar des Hotels „Panhans“, mitunter auch im Hotel „Erzherzog Johann“ arrangiert und teilten sich in zwei Gruppen. An der Spitze der einen Gruppe stand der der Kraftfahrtruppe zugeteilte Hugo Fürst Salm-Reifferscheid, welcher […] im Grand Hotel „Erzherzog Johann“ logierte und während dieser Zeit mit am Semmering befindlichen Aristokraten und Offizieren die besagten Zechgelage veranstaltete und mit seinen Anhängern kostspielige Ausflüge unternahm. […] Bei diesen Veranstaltungen wurde namentlich viel champagnisiert und in einem falle vom Fürsten Salm ein Schrammel-Quartett aus Wien mitgebracht. Mit diesem Quartett haben Fürst Salm und einige seiner Zechgenossen, u. a. auch eine Schlittenpatrie zum Bärenwirt nächst Maria-Schutz unternommen, wobei die Schlittenkutscher sangen und jodelten und hiefür mit Trinkgeldern bis zu 100 Kronen bedacht wurden. Fürst Salm, der auch in der vorjährigen Wintersaison auf dem Semmering weilte, wird wegen seiner kostspieligen Veranstaltungen allgemein der „Semmering Drahrer“ genannt. 

Die zweite Gruppe bestand aus einer Anzahl Griechen, an ihrer Spitze ein griechischer Grosskaufmann, welcher im Verein mit türkischen und ungarischen Staatsangehörigen auf dem Semmering das orthodoxe Weihnachts- und Neujahrsfest feierten. In der Folge auch einige andere Unterhaltungen arrangierten. […] und wurde am Schlusse der jeweiligen Unterhaltung eine Sammlung für Zwecke der Kriegsfürsorge eingeleitet, die ein Gesamterträgnis von ungefähr 5.000 Kronen gebracht haben sollen.“

 

Hinsichtlich der Zeitungskampagne, berichtete Graf Erdödy, sei man auf dem Semmering der Überzeugung, dass die übertriebene Schilderung der Vorgänge im Hotel „Panhans“ nicht aus moralischer Entrüstung, sondern aus persönlichen Motiven erfolgt sei!

 

Im Zuge der auf dem Semmering gepflogenen Erhebungen waren Listen der männlichen Hotelgäste und Hotelangestellten für den Zeitraum Jänner bis März 1917 angefertigt worden. Es handelte sich dabei um rund 600 Individuen, der Grossteil davon Kaufleute, darunter auch Personen mit jüdisch klingenden Namen. Von diesen 600 Männern, die im Übrigen zum Zeitpunkt der Razzia grossteils bereits abgereist waren, konnten lediglich zwanzig Personen festgestellt werden, die der Musterung zu unterziehen oder deren Enthebungsumstände zu überprüfen waren. In Grunde ein bescheidenes Ergebnis!

 

Allerhöchster Befehl zur Überprüfung der Vergnügungsstätten der Monarchie4

 

Trotz der relativierenden Einschätzungen des Grafen Erdödy erging am 12. März 1917 aus Baden bei Wien ein streng vertraulicher Allerhöchster Befehl an alle 16 Territorialkommanden (Militärkommanden) der Monarchie: 

 

„Auf Allerhöchsten Befehl sind am 20 d. M. bei vorheriger strenger Geheimhaltung des Beabsichtigten in jenen Orten des Militärkommandobereiches, die von reichen Müssiggängern als Aufenthalt gewählt zu werden pflegen, – im Einvernehmen mit der politischen Behörde überraschend Erhebungen zu pflegen. Personen im wehrpflichtigen Alter, bei denen der Verdacht besteht, sie könnten sich der Wehrpflicht entzogen haben, sind zu mustern, Enthobene, die ihrem Vergnügen nachgehen, sofort zu ihren Truppenkörpern einrückend zu machen. Die genaue Einhaltung der Meldevorschriften ist zu überprüfen. Über das Ergebnis der Amtshandlung ist zu berichten.“

 

Befehlsgemäss wurden um den 20. März 1917 in allen Territorialbereichen der Monarchie in den Kur- und Vergnügungsorten akkordierte, Razzia-artige Untersuchungen durchgeführt und die Berichte der Militärkanzlei Seiner Majestät eingesendet. Das Ergebnis der Visitationen war von den jeweiligen touristischen Gegebenheiten vor Ort abhängig. Eine der Ursachen für den mässigen Erfolg oder besser Misserfolg der Razzien lag darin, dass die Saison in den Wintersport- und Erholungszentren Ende März schon vorüber war, in den Sommerfrischen und Sommerkurzentren aber noch nicht begonnen hatte, die Unterkünfte somit nur schwach belegt waren.  

Die Berichte aus den Territorialkommandobereichen zeigten, dass der Auftrag des Kaisers in durchaus unterschiedlicher Weise ausgelegt und mit unterschiedlichem Gehorsamseifer vollzogen wurde. Manche Kommandierende konzentrierten sich auf Kurorte und Sportstätten, andere wiederum liessen ihren gesamten Territorialbereich visitieren. Ausserdem konnten – wohl entgegen den Erwartungen des Allerhöchsten Kriegsherrn – keine direkt gegen jüdische Wehrpflichtige gerichteten Anschuldigungen erhoben werden. Einzig im Bericht des Militärkommandanten von Kassa (Kaschau, Košice) in Oberungarn, in dessen Bereich die sechs Tátrabäder (Ujtátrafüred, Otátrafüred, Alsótátrafüred, Tátraszéplak, Tátralomnicz und Matlárháza) visitiert worden waren, findet sich eine entsprechende Replik. Zunächst wurde angemerkt, dass, wenn die Visitation um einen Monat früher durchgeführt worden wäre, man in diesen Orten „eine grosse Zahl von reichen Nichtstuern“ angetroffen hätte. So aber waren nur ein Musterungspflichtiger und ein Enthobener, „ferner zwei reiche Israeliten, der eine Sohn des Direktors der Magyar-Bank, der andere Sohn eines reichen Brauers, beide Millionäre […]“ festzustellen gewesen. 

 

Die Dimension des Musterungsschwindels im Ersten Weltkrieg, seine Zuordnung zu sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen, dabei die Rolle des letzten Kaisers sowie das Phänomen der (anonymen) Anzeigen gegen „Müssiggang“ und „Drückebergerei“, verbunden mit Stereotypen wie Antisemitismus könnte allenfalls im Rahmen eines umfangreichen Forschungsprojekts untersucht werden.

 

Das „Osterpogrom“ im Kriegspressequartier (KPQ)5

 

Derartige Razzien wurden auf Anordnung Kaiser Karls nicht nur in den Tourismuszentren der Monarchie, sondern auch im KPQ durchgeführt. In dieser Kriegspropagandazentrale Österreich-Ungarns waren zahlreiche Journalisten, Schriftsteller und bildende Künstler als Kriegsberichterstatter und Kriegsmaler tätig. Ein nicht unerheblicher Teil dieser „ins Feld gerückten Kaffeehausliteraten“ und Zeitungsjournalisten entstammte dem Kreis assimilierter jüdischer Intellektueller, die nicht nur dem KPQ, sondern der gesamten Monarchie ihr spezifisches kulturelles Gepräge gaben. 

Grundsätzlich waren nur felddienstuntaugliche Personen in das KPQ zu berufen, doch gab es auch sachlich begründete oder protektionsbedingte Ausnahmen. Zwar hatte der Grossteil der Mitglieder des KPQ das Ende des landsturmdienstpflichtigen Alters noch nicht erreicht, doch waren sie für den Felddienst mehrheitlich ungeeignet. Die meisten von ihnen nutzten freilich die Gelegenheit, ihr Talent in den Dienst der Kriegspropaganda zu stellen, um damit dem Dienst an der Front zu entgehen. So hatte sich das KPQ im Laufe des Krieges einen gewissen Ruf als Sammelstelle von schöngeistigen Drückebergern erworben. Daher überrascht es nicht, dass auch Kriegsberichterstatter und Kriegsmaler im Zuge der grossangelegten Razzien der Monarchie die besondere Aufmerksamkeit Seiner Majestät erregten. 

 

Kommandant des KPQ und zugleich Direktor des k.u.k. Kriegsarchivs war der geistvolle, leutselige und legere General Maximilian Ritter von Hoen. Er wurde im Frühjahr 1917 von Kaiser Karl seines Postens als Kommandant des KPQ enthoben. Als „Abschiedsgeschenk“ fanden im Kriegspressequartier für den 19. und 21. März 1917 Allerhöchst angeordnete Musterungen statt, in deren Folge mehrere Kriegsberichterstatter und Kriegsmaler zur Felddienstleistung einberufen wurden. Die Ereignisse trugen durchaus kabarettistische Züge. Edmund Glaise-Horstenau, Pressereferent des Armeeoberkommandos (AOK), schrieb darüber in seinen Erinnerungen: 

 

„So sagte also der Kaiser beim Abschied ziemlich mürrisch: In Ihrem K.P.Qu. trieb sich eine Menge unnützer Gesellschaft herum. Ich hoffe, dass in kürzester Zeit kein einziger Fronttauglicher mehr vorhanden ist.“ Hoen dachte an die vielen erzherzoglichen und ministeriellen Fürsprachen, denen soundsoviele ihre Zugehörigkeit zum K.P.Qu. verdankten und sagte in seiner treuherzigen Art zum Kaiser: „Mir soll’s Recht sein, Majestät, wenn es Ihnen gelingt.“ Dieser Ausspruch erbitterte den Kaiser, dem namentlich die vielen jüdischen Journalisten und Kriegsberichterstatter ein Dorn im Auge waren, aufs höchste. Eine Stunde später erging nicht nur an das K.P.Qu., sondern auch an das an ähnlichem leidende Kriegsarchiv eine auf Allerhöchsten Befehl vom Generaladjutanten und Chef der Militärkanzlei unterzeichnete Weisung hinaus, nach welcher alle Kriegsberichterstatter und Kriegsmaler bei dem Kommando, bei dem sie sich eben befanden, sofort zu mustern und im Falle der Tauglichkeit an die nächste Front zu schicken seien. […] Ich teilte von Anbeginn Hoens Skepsis über den Erfolg der Aktion. […] Das ganze Osterpogrom, wie wir es nannten, verlief wie das Hornberger Schiessen.6

 

Ähnlich äusserte sich auch Karl Lustig-Prean, Adjutant des KPQ: „Einen Berichterstatter zog man an der Front in 3000 Meter Höhe aus einer Hütte, einen fing man im tiefsten Ungarn, einen fast achtzigjährigen Kriegsmaler machte man einrückend. Der kaiserliche Zorn war unbarmherzig […].“7

 

General Hoen selbst berichtete in seiner Chronik des Kriegsarchivs zu seiner Audienz am 19. März 1917 darüber, dass sich des Kaisers Interesse am KPQ lediglich auf die mögliche Frontdiensttauglichkeit der dort tätigen Künstler und Journalisten beschränkte. Die Anweisung des Monarchen lautete: „alle Frontdiensttauglichen sollten noch heute zu ihren Ersatzkörpern einrücken.“ Auf Hoens Feststellung, „dass seine Majestät wohl kein Faible für das Kriegspressequartier habe,“ antwortete der Kaiser mit einem energischen „Nein“ […]. „Es seien darin zu viele … wobei seine Handbewegung eine Krummnase andeutete, […].“8 

Resümee

 

Die Sorge des Kaisers und seiner Generalität um die Mannschaftsaufbringung verstärkte im Frühjahr 1917 den Kampf gegen Musterungsschwindel und „Drückebergerei“. Dabei spielten auch Medienberichte und (anonyme) Anzeigen aus der Zivilbevölkerung eine Rolle, wobei mit Regelmässigkeit jüdische Mitbürger als Müssiggänger, Lebemänner, Drückeberger oder Kriegsgewinnler vernadert und angeprangert wurden. 

 

Ein Zeitungsartikel über angeblich skandalöse Zustände in den Luxushotels des Semmerings führte seitens des Militärs zu Reaktionen aussergewöhnlichen Ausmasses, wobei die von der Militärkanzlei des Monarchen initiierten Massnahmen als Chefsache behandelt wurden. Im Gegensatz zu Kaiser Franz Josephs ausgeprägter Abneigung gegen Antisemitismus ist bei Kaiser Karl eine gewisse Abneigung gegen Juden zu erkennen. Dies mag auch bei den im Zusammenhang mit den Vorgängen auf dem Semmering getroffenen Anordnungen eine Rolle gespielt haben. 

 

Ein Allerhöchster Befehl des Monarchen führte in einer akkordierten Aktion zu Razzia-artigen Visita-tionen in der gesamten Monarchie. Die Untersuchungen wurden von den 16 Militärterritorialkommanden Österreich-Ungarns in Kooperation mit den politischen Behörden sowie lokalen Gendarmerie- und Polizeikräften durchgeführt. 

 

Da zum Zeitpunkt der Razzien die Saison in den Wintersport- und Erholungszentren bereits vorüber war, in den Sommerfrischen und Sommerkurzentren aber noch nicht begonnen hatte, waren den Visitationen nur ein mässiger Erfolg beschieden. Auch gemessen am hohen Aufwand der befassten Militär- und Zivilorgane war der Erfolg der Aktion eher bescheiden. Es wurde insgesamt nur bei etwa 300 Männern die Musterung veranlasst oder die Überprüfung der Enthebungsgründe angeordnet. Somit hatte die ganze Aktion primär Symbolcharakter. 

 

Analoges gilt für die Razzia-artig durchgeführten Musterungen im Kriegspressequartier. Mehr noch als bei den Vorgängen auf dem Semmering dürfte die hohe Zahl der hier beschäftigten jüdischen Schriftsteller und Künstler eine Rolle gespielt haben. Die rigorose Vorgangsweise des Kaisers und seiner Militärkanzlei trug durchaus kabarettistische Züge. Schliesslich erfand man dafür die satirischen Umschreibung „Osterpogrom“.

 

1  Zu den jüdischen Reserveoffizieren vgl. Erwin A. Schmidl: Habsburgs jüdische Soldaten 1788–1918. Böhlau Verlag. Wien-Köln-Weimar 2014, S. 104-108 und 129-132.

2 Die Quellen zu den hier geschilderten Vorgängen werden im Österreichischen Staatsarchiv, Abt. Kriegsarchiv in den Beständen „Militärkanzlei Seiner Majestät“ und „Chef des Ersatzwesens“ verwahrt. Details siehe bei Christoph Tepperberg: Orgien auf dem Semmering – Zechgelage beim Panhans! Kostproben der Militärbürokratie aus dem Kriegsjahr 1917. In: Robert Kriechbaumer, Wolfgang Mueller und Erwin A. Schmidl (Hrsg.): Politik und Militär im 19. und 20. Jahrhundert. Österreichische und Europäische Aspekte (Festschrift für Manfried Rauchensteiner = Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek 58) Böhlau Verlag. Wien-Köln-Weimar 2017, S. 121-137, hier S. 124-127.

3  Ebenda, bes. S. 127-129.

4  Ebenda, S. 129-131 u. 132.

5  Christoph Tepperberg: „Wie eine idyllische Sommerfrische“ – „Dichtdienst“ und „Heldenfrisieren“. Kriegspressequartier und Kriegsarchiv als Instrumente der k. u. k. Kriegspropaganda 1914-1918. In: Die Mittelmächte und der Erste Weltkrieg (ACTA, Tagungsband zum gleichnamigen Symposium, hrsg. v. Heeresgeschichtlichen Museum Wien) Wien 2016, S. 348-376, hier S. 360-362; Tepperberg: Semmering, S. 134-136; zum KPQ allgemein vgl. neuerdings: Walter Reichel: „Pressearbeit ist Propagandaarbeit“ Medienverwaltung 1914–1918: Das Kriegspressequartier (KPQ) (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 13) Wien 2016.

6  Peter Broucek: Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. 3 Bde., hier Bd. 1: K. u. k. Generalstabsoffizier und Historiker (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 67) Wien-Köln-Graz 1980), S. 405ff. und Anm. 392.

7  Broucek, Glaise-Horstenau, S. 405ff.; Jozo Džambo (Hrsg.): Musen an die Front! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda 1914 – 1918, 2 Bde. München 2003, hier Bd. 1, S. 14f.

8 Michael Hochedlinger: „Erdäpfelvorräte waren damals wichtiger als Akten“. Die Amtschronik des Generals Maximilian Ritter von Hoen, Direktor des Kriegsarchivs (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 58) Wien 2015, S. 205f.