Das „Pack“ in Zürich
Der Basler Historiker Erik Petry, Mitarbeiter am Zentrum für jüdische Studien der Universität Basel, sah sich oft verwunderten Blicken ausgesetzt, wenn er erzählte, dass er über das jüdische „Pack“ in Zürich forsche. Die Gruppen des „Ur-Packs“, die Keimzelle des späteren „Packs“, spielen im jüdischen Gemeindeleben Zürichs seit den 1920er Jahren eine gewisse Rolle. Eine Gruppe Freunde organisierte sich damals, um Schach zu spielen, Autorallyes zu veranstalten, zu wandern und Kabarett zu spielen. Historiker Petry hat schriftliche Dokumente und die wenigen erhaltenen Selbstzeugnisse des „Packs“ studiert und mit der Methode der „oral-history“ auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt. Daraus resultieren nicht zuletzt plausible eigenständige und reflektierte Einwände gegen fragwürdige (Mode-)Konzepte wie „kollektives Gedächtnis“ und „kollektive jüdische Identität“.
Im Jahre 1921 lebten rund 7.000 Jüdinnen und Juden in der Deutschschweizer Metropole Zürich. Neben den drei Gemeinden (Israelitische Cultusgemeinde Zürich/Israelitische Religionsgesellschaft/Agudas Achim), welche die verschiedenen Glaubensrichtungen der Eingesessenen und Zugewanderten repräsentierten, existierten nicht weniger als 24 Vereine oder Institutionen, „die ihren Beitrag zum Bestand der jüdischen Kultur und des jüdischen Lebens in Zürich leisteten“. Zu Beginn der 1920er Jahre diskutierten Zürcher Stadtparlamentarier die „Einbürgerungsfrage“ und verschärften die gesetzlichen Bestimmungen zur Zuwanderung von Juden. Begriffe wie „Überfremdung“ dominierten den bisweilen antisemitisch aufgeladenen rechtsbürgerlichen Zürcher Diskurs und ängstigten viele Schweizer Juden. Nicht zuletzt deshalb traf sich 1923 eine Gruppe jüdischer Jugendlicher, um den „Schachklub Young Lasker“ zu gründen, benannt nach dem jüdischen Schachweltmeister Emanuel Lasker (1868-1941). „Das war der Beginn der Geschichte des Packs“, schreibt Erik Petry in seinem Buch Gedächtnis und Erinnerung. Das „Pack“ in Zürich. Ein genaues Gründungsdatum lässt sich nicht festlegen. Den Namen „Das Pack“ gibt es erst seit dem Zweiten Weltkrieg, als nach einer Feier Marcel Ba. in einer Anspielung auf eine berüchtigte Goebbelsrede öffentlich ausrief: „Wir sind ja doch das internationale jüdische Pack.“
Der kleine, vorerst im Schachclub organisierte Freundeskreis wuchs in den 1930er Jahren rasch an, blieb aber ein „exklusiver Zirkel, dessen Exklusivität aber einzig und allein in der Freundschaft der Mitglieder bestand.“ Jedenfalls zählte das „Pack“ niemals mehr als 24 männliche Mitglieder. Die teilweise engen Freunde standen auch in wirtschaftlichen Notlagen oder bei beruflichen Neuorientierungen füreinander ein. Für Walter U. war das „Pack“ nach dem Tod seiner Frau wie eine „Grossfamilie“. Manche „Packmitglieder“ waren auch in anderen Vereinigungen tätig, so als Betreuer von Flüchtlingen während der Kriegsjahre. Einige Mitglieder engagierten sich in der Gemeindepolitik, Robert B. war von 1980 bis 1988 sogar Präsident des „Schweizerisch Israelitischen Gemeindebundes“ (SIG). Dennoch verblasste das Wissen um das „Pack“ auch innerhalb der Zürcher Juden schnell. So gesehen ist Erik Petrys fundierte Studie auch ein Akt der Erinnerungspolitik.
Das „Pack“ kannte keinen institutionellen Unterbau, keine Statuten, war aber trotzdem eine „feste In-stitution“ im jüdischen Leben Zürichs. Die einstigen Teenager studierten mittlerweile an Universitäten, machten Berufsausbildungen, gründeten Firmen, machten Karriere, wanderten aus, heirateten. Ihre Ehefrauen wurden ebenfalls als Vereinsmitglieder aufgenommen, nahmen aber nicht an sämtlichen Aktivitäten teil. So war der wöchentliche „Pack-Jass“ eine ausschliesslich männliche Domäne. Das Schweizer „Nationalspiel“ Jass hatte das Schachspiel abgelöst, Ausdruck einer gewissen „Verschweizerung des Packs“, möchte man fragen? Andererseits existierte auch ein eigener „Frauenstamm“. Juliette B. meinte im Gespräch, „sie finde es bis heute erstaunlich, dass sich die doch aus so verschiedenen Ländern bzw. Regionen kommenden Frauen so gut verstanden und damit den Frauenstamm zu einem wichtigen Teil des Packs gemacht hätten.“ Walter S. hielt die Gruppe mit Einladungen ins Restaurant „Drei Könige“ auch während des Zweiten Weltkriegs zusammen. Die Geselligkeit, die „Vereinsmeierei“, waren damals meist an bestimmte Wirtshäuser gebunden. Der gemeinsame Konsum von Wein und Bier lockerte die Atmosphäre auf und sorgte für zusätzliche emotionale Bindungen.
Die meisten Männer leisteten von 1939 bis 1945 „Aktivdienst“ in der Schweizer Armee und waren oft unabkömmlich. Deshalb waren die Gruppenzusammenkünfte für die Beständigkeit des Vereinslebens umso wichtiger. Organisator Walter S., eine über lange Jahre dominierende Gestalt im Vereinsleben, wird bei den noch lebenden Mitgliedern in bester Erinnerung behalten.
Besonders beliebte Rallyefahrten (1966 bis 1972, Ölkrise), Theater- und Kabarettaufführungen und in späteren Jahren Wochenwander- oder Ausflugstouren waren der Kitt im Vereinsleben. An Vereinsabenden wurden Gedichte vorgelesen und Witze sowie Anekdoten erzählt. Darüber geben als wertvolle Quellen das „Packbuch“ und Protokollbücher Auskunft. Der Sport spielte ebenfalls eine grosse Rolle, so Skitouren oder mit besonderem Einsatz ausgetragene Fussballspiele gegen die „Kadimah“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zu den jüdischen Feiertagen traf man sich zu speziellen „Packanlässen“, „die von vielen als wichtige Punkte auch im jüdischen Leben geschildert werden.“ Die säkular gesinnte Mehrheit des „Packs“ nahm selbstverständlich Rücksicht auf die religiöseren Mitglieder, indem die gereichten Speisen koscher zubereitet wurden und es keine Veranstaltungen am Schabbat gab. Diese Praxis zeugt von einer grossen Toleranz, aber verweist auch auf die Bedeutung des „Packs“: Politisch und religiös unterschiedlich gesinnte Zürcher und Deutschschweizer Jüdinnen und Juden trafen sich regelmässig, tauschten sich aus, respektierten den Standpunkt des anderen. Eine solche Vereinskultur hat durchaus Modellcharakter.
Literatur
Erik Petry: Gedächtnis und Erinnerung. Das „Pack“ in Zürich. Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2014.
Annette Brunschwig, Ruth Heinrichs, Karin Huser: Geschichte der Juden im Kanton Zürich. Von den Anfängen bis in die heutige Zeit. Zürich: 2005.
Aram Mattioli (Hrsg.): Antisemitismus in der Schweiz 1848-1960. Zürich: 1998.
Jacques Picard: Die Schweiz und die Juden 1933-1945. Zürich: 1994.