Ausgabe

»Niemand kam zurück von dort«

Frank JÖDICKE

Gastkommentar

 

Content

Claude Lanzmann sprach im März an der Universität Wien über sein Werk. Er tat dies in einer gewöhnungsbedürftig persönlich-anekdotischen Weise, die auch die im Mai in Cannes präsentierte Produktion Napalm charakterisiert. Sein Film Shoah aber ist vielleicht der beste, der je gedreht wurde, weil in dieser wahren Halluzination der Filmapparat die Geister des dunkelsten Punktes der Menschheitsgeschichte einfängt und bewahrt.

 

»Wohin rennen wir?« fragte der Hase.

»Ans Ende Deines Lebens« antwortete der Hund.

 

Das zwanzigste Jahrhundert war kein gutes. Es ist ein Wunder, dass die Menschheit es überlebt hat. Die beiden Weltkriege boten Schrecken, die zuvor unvorstellbar gewesen waren. Der junge Robert Musil zog voller Begeisterung in den Ersten Weltkrieg, im Rauschgefühl seiner Lebensprobleme enthoben zu werden. Er rechnete mit einem gewöhnlichen Krieg. Was er vorfand, liess ihn später bilanzieren, er schreibe fortan als ein lebender Leichnam.

 

Einen Frieden gab es nach dem Ersten Weltkrieg

nicht, nur eine zeitweilige Erschöpfung, die sich

auf eine noch grössere Zerstörung vorbereitete. In

diese Welt wurde Claude Lanzmann geboren. Mit

fünfzehn nahm ihn sein Vater im Jahr 1940 mit in

die Auvergne. Er und sein Bruder wurden Partisanen.

Nach Kriegsende begegnete Lanzmann seiner

Mutter wieder, die ihre Söhne erstmals zu Männern

herangereift sah. Der immer noch blutjunge Claude

kam sich lächerlich in seiner Uniform vor. Er legte

sie ab und studierte Philosophie. Was er nie ablegte, war seine Angst: und die war profund. 

 

In Tübingen, Berlin und später in Paris sog er in sich auf, was später den Namen Existenzialismus bekam. Sartre, Beauvoir, Jaspers etc. Ein ziemlicher Holzkopf musste sein, wer in den Lebensläufen jener Jahre nicht irgendwie »existenziell« betroffen war. Lanzmann wird eine Art Journalist. Er geht zu Fuss durch die sowjetische Besatzungszone Ostdeutschlands, schläft in Parks, versteckt sich vor den Hunden der Schupos im Gebüsch und schreibt darüber. Sartre empfiehlt ihm, ein Buch zu schreiben. Das wird nichts. Es folgen Algerienkrieg und eine Inhaftierung wegen unbotmässigen Verhaltens. Die Begegnung mit Frantz Fanon macht ihn zum leidenschaftlichen Antikolonialisten. Lanzmann durchlebt das zwanzigste Jahrhundert ganz nah an seinen entscheidenden Phänomenen und Protagonisten.  Er reist nach Israel und ist überwältigt von dem jungen Staat. Er widmet diesem seinen ersten Film Pourquoi Israël. Kurz nachdem er sein Medium gefunden hatte, zwingt ihm das zwanzigste Jahrhundert sein Thema auf: die Shoah. Zwölf Jahre wird er an dem neuneinhalbstündigen Film arbeiten, für den er mehr als 300 Stunden Material sammelt. Bis heute arbeitet Lanzmann an der Sichtung und Gestaltung des Materials. Aktuell in Vorbereitung befindet sich der Film Vier Schwestern

 

 

Keine grossen Fragen bitte!

Wer grosse Fragen stellt, bekommt zuverlässig eine unbefriedigend kleine Antwort. Was ist der Mensch? Was ist das Leben? Die Antwort mit Tschingderassassa: bestenfalls ein launiges Aperçu. Klugerweise werden solche Fragen gar nicht erst gestellt. Und Claude Lanzmann ist klug. In dem Film Shoah und dessen Nachfolgeprojekten gestaltet er ein wahrheitsgetreues Mosaik aus den Details. Täter und Opfer sollen die technischen Vorgänge beschreiben. Im Zentrum steht etwas, das kein Lebender beschreiben kann: Die Vorgänge innerhalb der Gaskammer, nachdem das Zyklon-B-Gas einströmte. Niemand hat dies überlebt, niemand kann dies beschreiben. Deswegen musste Lanzmann versuchen, die Umstände zu erfassen, rund um dieses tiefschwarze Loch im Kosmos, das alles Licht und jeden erhellenden Gedanken unwiederbringlich verschwinden lässt. 

 

Grossen Künstlerinnen und Künstlern – insbesondere wenn sie modern sind – dämmert während ihres Schaffens, dass die wahre Gestalt einer Sache nicht umrissen werden kann. Ein Überblick und eine Gesamtschau sind immer irreführend. Was sich aber gestalten lässt, ist das Detail. Und die Details können arrangiert und komponiert werden. Soll die Gestalt der Shoah sichtbar werden, dann gilt es zunächst, alle greifbaren Details einzusammeln. Lanzmann tat dies in einer Art Rausch. Sein erstes Gespräch führt er mit dem Judenrat des Ghettos von Theresienstadt, Benjamin Murmelstein. Eine Woche lang reden sie fast ununterbrochen in Rom. Keine Sekunde des Interviews wird nachher Eingang in den Film Shoah finden, sondern erst viele Jahrzehnte später in dem Film Der letzte der Ungerechten verwendet werden.  

 

Aus dieser Episode lassen sich zwei entscheidende Facetten der Vorgehensweise Lanzmanns erklären. Zunächst ist anfänglich nicht vorherzusehen, welche Bedeutung die Aufnahmen haben werden – die Gestalt kann nicht überblickt werden. Lanzmann folgt dem Sog der Impulse, die sich innerhalb des Gespräches ergeben. Sodann ist es aber das Material selbst, das über sich bestimmt. Lanzmann hatte mit dem Murmelstein-Interview Aufnahmen an der Hand, die sich vorzüglich hätten ausbeuten lassen, aber das Gesamtprojekt in Gefahr gebracht hätten. Ebenso führte Lanzmann spektakuläre Gespräche mit NS-Tätern. Sie blieben unverarbeitet, weil sie den Film zu einer Farce gemacht hätten.

 

Es gibt einen Riss 

Die stärksten und zugleich kaum erträglichen Momente in Claude Lanzmanns Filmen sind jene, in denen es zu einem Riss kommt. Er selbst sagt über Shoah, es sei ihm unmöglich, den Film zu sehen, ohne zu weinen. Katharsis verlangt eine Diskontinuität, sie zeigt sich in zwei verschiedenen Formen, da sie bei Opfern und Tätern anders verläuft. Ein Leben zu leben verlangt die gewisse Unwirklichkeit einer Kontinuität des Weiterlebens. Der Friseur Abraham Bomba wurde in Treblinka gezwungen, den jüdischen Frauen in der Gaskammer die Haare zu schneiden. Einerseits sollten die Haare später industriell verwendet werden, andererseits war dies einer jener Tricks der Mörder, ihre Opfer möglichst widerstandslos in die Vernichtung zu führen. Lanzmann folgte Bomba in die Bronx und später nach Israel. Immer wieder sprach er mit ihm über diese Vorgänge. Tagelang und ohne Kamera. Beiden war bewusst, wie wichtig es sein würde, diese Erlebnisse zu dokumentieren, aber Abraham Bomba sah sich ausser Stande. Schliesslich fanden sie eine Lösung. Bomba sollte in einem Friseursalon seiner tagtäglichen Arbeit nachgehen und einen Mann frisieren. 

Während des routinierten Scherengeklappers gelang es ihm, vor der Kamera ruhig und beinahe teilnahmslos die Vorgänge zu schildern. Wie die entkleideten Frauen mit ihren Kindern zu den sechs oder sieben professionellen jüdischen Friseuren in die Kammer geführt wurden. Wie die Frauen dort auf den Bänken Platz nahmen und jede innerhalb von zwei Minuten die Haare geschnitten bekam. Wohlgemerkt nicht geschoren, sondern nur gekürzt, aus angeblich hygienischen Erwägungen. Bomba beschreibt den Blick zur Tür, an dem die SS-Männer warteten. Die Friseure wussten, würden sie den Frauen die Wahrheit sagen, dann würden sich die Türen der Gaskammer auch vor ihnen schliessen.

 

Bomba erzählt dies, bis zu jenem Bruch. Er erinnert sich, wie eine Frau hereinkam, die er aus seiner Heimatstadt kannte. Jetzt versagt ihm die Stimme. Die umstehenden Besucher des Salons betrachten ihn gebannt. Claude Lanzmann lässt die Kamera laufen. Nur ein sanftes »Mach weiter«. Ebenso wie bei dem polnischen Diplomaten Jan Karski, der tränenüberströmt bittet, die Kamera abzuschalten, verweigert sich Lanzmann diesem Wunsch, die Katharsis hinter der Kamera zu durchlaufen.  Bomba fährt fort und erklärt, wie sie ihr Möglichstes versucht haben, die Arbeit in die Länge zu ziehen, sie umarmten und küssten die Frauen zum Abschied, im Wissen, sie würden die letzten sein, die sie lebend sahen. Längst ahnten die Frauen, was mit ihnen geschah. Aber sie schickten die Männer hinaus aus der Kammer, zurück in eine nun veränderte Kontinuität des Lebens.

 

Claude Lanzmann beobachtete, dass Abraham Bomba oder Filip Müller (der als ein jüdisches Mitglied einer Sondereinheit in der Gaskammer Selbstmord begehen wollte, von den Insassen aber hinausgeschickt wurde) beim Erinnern nicht von sich selbst sprachen, sondern von »wir«. Die Überlebenden sind zu den Stimmen der Toten geworden. Abraham Bomba war später Lanzmann dankbar, dass dieser ihn unnachgiebig zu dieser Aufnahme getrieben hatte. Karl Jaspers, der ebenso wie seine jüdische Ehefrau während der Dauer des nationalsozialistischen Terrorregimes eine Dosis tödlichen Giftes bei sich trug, um der Deportation durch Freitod entgehen zu können, meinte gegen Kriegsende,  wer das überlebt, dem ist für den Rest seines Lebens eine Aufgabe gestellt. Wohl in diesem existenzialistischen Geist und gemeinsam mit diesen Geistern filmte Claude Lanzmann seinen Film.

 

Die Gespenster der Täter

Als Benjamin Murmelstein nach Ende des Krieges auf den seinen Fall untersuchenden Staatsanwalt traf, fragte ihn dieser unwirsch: »Wie haben Sie das denn überleben können?« Murmelstein blickte auf und fragte zurück: »Und wie haben Sie es überlebt?« In Wahrheit hat es keiner. Das Überleben forderte ungeheure Kräfte, den Opfern gelang es durch ihre Solidarität mit den Toten, die es klarerweise für die Mörder nicht geben konnte. Ohne Kontakt zu den Geistern waren es die Mörder selbst, die sich in Gespenster verwandelten. Spukgestalten aus Fleisch und Blut. Und der Bruch, den sie erzeugen, ist ein anderer. Er ist weniger kathartisch, sondern dumpf erschreckend. Während der Riss, den die Opfer durchleben, ergreift und zu Tränen rühren mag, sind die Risse der Täter dazu geeignet, in ohnmächtige Wut zu verfallen. 

 

Es war schwierig für Lanzmann, Täter vor die Kamera zu bekommen, aber ihm war klar, dass der Film ihrer bedurfte. Offene Gesprächsanfragen wurden immer ausgeschlagen. Erst, als sich Lanzmann ein Pseudonym gab, konnte er mit versteckter Kamera die Täter zum Sprechen bringen. SS-Mann Franz Schalling, beteiligt an den Vergasungen in Chelmno, oder der Beamte Walter Stier, der bei der Deutschen Reichsbahn für die Deportationszüge in die Vernichtungslager zuständig war, sind gute Beispiele für den gespensterhaften Bruch der Täter. Im Plauderton bieten sie Lanzmann ein Abbild der Vorgänge. Es wirkt faszinierend kohärent und scheint nahtlos in sich abgeschlossen. Viele Stunden müssen sie diese Erzählungen in inneren Dialogen vorbereitet haben, die Glätte und Selbstverständlichkeit ihrer Aussagen empört nach einer Weile. Denn etwas scheint ganz deutlich in diesen Sätzen zu fehlen. Etwa: »Wir haben diese Menschen abgeschlachtet wie Tiere und deswegen sind wir verloren und ohne Hoffnung.« Aber was fehlt, fehlt. Es zerreisst den Sprechern jeden ihrer Sätze. Was sie darbieten erlaubt keine Brücke mehr in die Welt, es umhüllt die sprechenden Leichname wie ein immer festeres Totentuch. Gespenster, die gefangen sind in den eigenen, jovialen Zurechtlegungen und die ihre Zuhörerinnen und Zuhörer bald mit Schrecken, bald mit Zorn erfüllen.

 

Viele, die ihre Kindheit und Jugend in Westdeutschland oder Österreich mit solchen Spukgestalten verbringen mussten, kennen die Wendungen allzu gut. Wer von den jüngeren Zuhörern hat nicht sehnsüchtig auf Sätze gewartet, die das Gespinst hätten reissen lassen und den Verpuppten einer Rückkehr unter ihre Mitmenschen erlaubt hätte? Aber die Sätze kamen nicht. Stattdessen neben den Floskeln Schweigen. Die meisten Nazis und Mitläufer wurden zu Grabe getragen, ohne ein Wort der Lossprechung. Verstorben schon zu Lebzeiten. Ihre sorgfältig gesponnenen Kokons vergifteten die Gesellschaften bis zum heutigen Tag. Was konnten die jüngeren ihnen anderes hinterherrufen als: »Warum hat von Euch Feiglingen keiner einmal seinen Maul aufgemacht und erzählt, was passiert ist?« Wir wären Euch dankbar gewesen. So mussten wir aufwachsen in einer Geisterwelt aus »Dalli-Dalli«, Bundesliga und Käseigeln, in die kaum ein wahres Wort zu dringen schien. Lanzmann hat Recht, es ist eine Farce. 

 

»Was bleibet aber«?

Die guten und die schlechten Geister, sie sind alle noch da. So willkommen erstere sind, so schrecklich plagen letztere. Um Beispiele für die Aktualität der von Lanzmann verhandelten Fragen zu finden, braucht es wenig. Beim letztjährigen Wahlkampf um das österreichische Bundespräsidentenamt versuchte die Kandidatin Irmgard Griss, den bösen Gespenstern der Vergangenheit entgegen zu eilen. Man müsse doch auch verstehen, die Nationalsozialisten hätten schliesslich die Gehälter erhöht, so auch das ihres Vaters. Was viele in Österreich, Deutschland, aber auch in Polen, der Ukraine oder den Niederlanden und in allen Ländern, in denen sich Nazi-Helfershelfer fanden, nicht verstehen oder verstehen wollen, ist: Das berechtigte Bedürfnis nach Erlösung kann nur befriedigt werden durch ein Eingeständnis der Schuld. Die einzelnen Beweggründe von Mitläufern und Tätern gilt es sehr wohl zu verstehen, wenn diese aber nicht ihre Schuld anerkennen, dann kann sie nichts und niemand freisprechen. Kein Einfühlungsvermögen der Welt vermag dies, denn es würde sich vereinen mit der gespensternden Grundlüge. 

Die antiken Denker brachten ihre Werke zum Orakel von Delphi, damit dieses den Schatz ihrer geistigen Errungenschaften verwahre. Claude Lanzmanns Werk hat einen solchen, delphischen Schutz allemal verdient. Es wird sich zeigen, wie das Werk den Wandel der Sehgewohnheiten übersteht. Die neuneinhalb Stunden Shoah waren schon immer ein nur schwer rezipierbarer Monolith des Expanded Cinemas. Heute gibt es DVDs und die 15 minütigen Interviewschnipsel sind jederzeit auf dem Smartphone via YouTube und Co verfügbar. Es wird sich zeigen, ob das Heiligtum einer kritischen und aufgeklärten Öffentlichkeit diesen Schatz zu bewahren weiss, damit die üblen Gespenster der Täter gebannt bleiben und eine liebevolle Solidarität mit den Geistern der so schrecklich und sinnlos Ermordeten gelebt werden kann. 

Wir sind bei Euch, wir haben Euch nicht vergessen

 

(Beiträge von GastautorInnen müssen nicht die Meinung der Redaktion wiedergeben.)